Kapitel 6

 

Der Weg stieg schroff auf durch tiefen, lockeren Schnee, in dem bisher weder Schlittenspuren noch Mokassinfährten zu sehen waren. Kid, der den Zug führte, zertrat die zarten glitzernden Kristalle unter seinen breiten, kurzen Schneeschuhen. Es gehörten gute Muskeln und Lungen dazu, um den Schnee festzutreten, aber Kid stürzte sich mit aller Kraft in diese Arbeit. Auf dem Wege, den er auf diese Weise schuf, folgten ihm die sechs Hunde in einer langen Reihe. Ihr Atem, der wie Dampfstrahlen aus den Nüstern quoll, zeigte, wie schwer sie arbeiteten und wie eisig die Luft war. Zwischen dem Deichselhund und dem Schlitten schuftete Kurz, der seine Kräfte teils zum Steuern, teils zum Ziehen verwandte, denn ziehen mußte er so gut wie einer seiner Hunde. Jede halbe Stunde lösten Kid und er sich ab, denn das Feststampfen des Schnees war doch noch schwerer als die Arbeit an der Lenkstange.

 

Alle – Männer und Hunde – waren gut ausgeruht und glänzend in Form. Das Ganze war ja auch nichts als ein schweres Stück Alltagsarbeit, die eben gemacht werden mußte – diese Fahrt über eine Wasserscheide mitten im Winter. Auf dieser schweren Strecke waren zehn Meilen eine sehr anständige Leistung. Sie blieben dabei in Übung, waren aber doch abends, wenn sie in ihre Schlafpelze krochen, sehr müde. Es war schon sechs Tage her, daß sie das lustige Lager von Mucluc am Ufer des Yukon verlassen hatten. Sie hatten nur zwei Tage gebraucht, um mit ihren hochbepackten Schlitten den bereits festgetretenen Weg von fünfzig Meilen den Moosebach hinauf zurückzulegen. Dann hatte der Kampf mit dem vier Fuß dicken, jungfräulichen Schnee begonnen, der in Wirklichkeit gar kein Schnee war, sondern aus Eiskristallen bestand. Dieser Schnee war so locker, daß er, wenn man ihn mit den Füßen berührte, wie Kristallzucker hochspritzte. In drei Tagen hatten sie mit unendlicher Mühe die dreißig Meilen den Minnowfluß hinauf geschafft und eine Reihe von niedrigen Wasserscheiden, all die verschiedenen kleinen Flüsse, die südwärts in den Siwash fließen, überschritten. Jetzt hatten sie die großen Wasserscheiden hinter den „Bald Buttes“ vor sich, von wo aus der Weg den Porcupinebach hinab nach dem mittleren Lauf des Milchflusses führte. Wenn man dem Milchfluß weiter aufwärts folgte, sollte man, einem allgemein verbreiteten Gerücht zufolge, Kupferablagerungen finden. Und diesem Ziele strebten sie zu – einem Hügel aus reinem Kupfer, der eine halbe Meile rechts ab lag, und dann von der Stelle aus, wo der Milchfluß in einer tiefen Schlucht entsprang, durch einen ausgedehnten, starkbewaldeten Talgrund, den ersten Bach hinauf. Sie würden den Hügel schon erkennen, wenn sie ihn nur fanden. Der einäugige McCarthy hatte ihn bis in die kleinsten Einzelheiten beschrieben. Es war unmöglich, sich zu irren, vorausgesetzt, daß McCarthy nicht gelogen hatte.

 

Kid ging an der Spitze. Die vereinzelten kleinen Fichten begannen noch seltener und kleiner zu werden, als er einen abgestorbenen und eingetrockneten Baum sah, der mitten auf dem Wege stand. Sie brauchten sich kein Wort zuzurufen. Der Blick, den Kid Kurz zuwarf, wurde mit einem laut gebrüllten »Brrr…« beantwortet. Die Hunde blieben im Geschirr stehen, bis sie sahen, daß Kurz sie losband und Kid den abgestorbenen Baumstamm mit der Axt umzuschlagen begann. Dann warfen sich die Tiere in den tiefen Schnee, rollten sich wie Kugeln zusammen und legten den buschigen Schwanz über die wulstigen Füße und die reifbedeckte Schnauze.

 

Die Männer arbeiteten mit der Schnelligkeit, die nur lange Übung verleiht. In Goldpfanne, Kaffeetopf und Kochtöpfen schmolzen die Schneehaufen schnell zu Wasser. Kid holte eine Portion Bohnen vom Schlitten, die im voraus mit einer verschwenderischen Menge in Würfel geschnittenen, teils geräucherten, teils grüngesalzenen Specks zusammengekocht waren. Sie wurden in gefrorenem Zustand transportiert, so daß sie leicht zu verstauen und sofort gebrauchsfertig waren. Er schlug große Brocken mit der Axt ab, als ob es Brennholz wäre, und tat sie zum Auftauen in den Kochtopf.

 

Kuchen aus gefrorenem Sauerteig wurden in derselben Weise aufgetaut.

 

Zwanzig Minuten, nachdem sie haltgemacht hatten, war die Mahlzeit fertig.

 

»Ungefähr vierzig Grad Fahrenheit unter Null«, murmelte Kurz zwischen zwei mächtigen Happen Bohnen. »Ich hoffe, daß es nicht kälter wird… und auch nicht wärmer. Es ist gerade richtig so für eine Schlittenfahrt.«

 

Kid antwortete nicht.

 

Während er, den Mund voller Bohnen, dasaß und mit aller Kraft kaute, hatte er zufällig einen Blick auf den Leithund geworfen, der etwa sechs Fuß von ihm entfernt lag.

 

Dieser graue reifbedeckte Wolf starrte ihn mit der unbeschreiblichen Trauer und dem Ernst an, die man so oft in den Augen der Nordlandhunde glimmen und glühen sieht.

 

Kid kannte diesen Ausdruck so gut wie nur einer, aber immer wieder mußte er über die unfaßbaren Rätsel in diesen Augen staunen. Als wollte er ihren merkwürdig suggestiven Einfluß abschütteln, setzte er seinen Teller und seine Kaffeetasse hin und machte sich daran, den Sack mit den getrockneten Fischen zu öffnen.

 

»Aber Kid«, protestierte Kurz, »was tust du denn?«

 

»Ich will einmal gegen alle Gesetze, Erfahrungen und Gewohnheiten des Schlittenlebens verstoßen«, antwortete Kid. »Ich will die Hunde mitten am Tage füttern… nur dieses eine Mal. Sie haben furchtbar geschuftet, und es ist noch die letzte Strecke bis zum Kamm der Wasserscheide zu bewältigen. Außerdem hat der gute Bright mir mit seinen Augen etwas erzählt – Dinge, die Worte nie ausdrücken können.«

 

Kurz lachte ironisch. »Na, dann verwöhne sie nur ruhig. Es wird wohl nicht lange dauern, und du manikürst ihnen die Nägel. Ich möchte dir Coldcreme und elektrische Massage empfehlen, hat sich glänzend bewährt für Schlittenhunde. Ein türkisches Bad ab und zu ist auch ganz gesund für sie.«

 

»Ich hab‘ es noch nie getan«, verteidigte sich Kid. »Und ich werde es auch nie wieder tun. Aber dieses eine Mal muß ich. Es ist so etwas wie eine Eingebung.«

 

»Ach so… na, wenn es eine Vorahnung ist, dann kannst du es ruhig tun.« Sein Ton zeigte, wie schnell er besänftigt war. »Man muß Rücksicht auf Vorahnungen seines Kameraden nehmen.«

 

»Es ist keine Vorahnung mit im Spiel, Kurz. Der gute Bright hat meine Phantasie nur ein bißchen angeregt. Er erzählte mir mit seinen Augen in einer einzigen Minute mehr, als ich in tausend Jahren in allen Büchern lesen könnte. Seine Blicke waren voll vom Geheimnis allen Lebens! Es war, als ob sie sich in Schmerzen krümmten und wanden. Das schlimmste ist, daß ich sie beinahe ergründet hätte und es dann doch nicht tat. Ich bin also nicht weiser geworden, als ich es war, aber es fehlt nicht viel. Ich kann es dir nicht erzählen, aber die Augen des Hundes strömten buchstäblich von Andeutungen über, was das Leben eigentlich ist… Entwicklung und Sternenstaub… und sie erzählten vom Saft des Weltalls und allem andern… kurz, von allem Möglichen und Unmöglichen.«

 

»Und wenn man das alles in die Alltagssprache übersetzt, bedeutet es, daß du abergläubisch bist«, behauptete Kurz.

 

Kid warf jedem Hund einen getrockneten Lachs vor, dann schüttelte er den Kopf.

 

»Aber ich sage, Kid«, erklärte Kurz, »es ist todsicher eine Vorahnung. Irgend etwas wird uns zustoßen, ehe der Tag zu Ende ist. Du wirst schon sehen. Es steckt etwas hinter dieser Geschichte mit den getrockneten Lachsen.«

 

»Das mußt du mir erst beweisen«, sagte Kid.

 

»Brauche ich nicht. Der heutige Tag wird schon selbst die Sache in die Hand nehmen und es dir beweisen. Aber hör mal, was ich dir sagen will: Ich habe jetzt das Gefühl, daß etwas hinter deiner Ahnung steckt. Ich setze elf Unzen gegen drei Zahnstocher, daß ich recht habe. Und wenn ich so ein Gefühl habe, schäme ich mich auch nicht, es einzugestehen.«

 

»Du kannst die Zahnstocher setzen, dann setze ich die elf Unzen«, gab Kid zurück.

 

»Keine Rede davon. Das wäre der reine Raub. Ich gewinne. Ich weiß schon, wenn ich eine Ahnung kriege, wird, ehe der Tag zu Ende ist, etwas geschehen. Dann werden wir wissen, was hinter den Lachsen steckte.«

 

»Verdammter Quatsch!« sagte Kid, um die Diskussion abzuschließen.

 

»Verdammt wird es schon werden«, antwortete Kurz. »Und ich halte drei weitere Zahnstocher gegen dich, daß es ganz niederträchtig verdammt sein wird.«

 

»Gemacht«, sagte Kid.

 

»Ich gewinne«, jauchzte Kurz, »aber es müssen Zahnstocher aus Kükenfedern sein.«

 

Eine Stunde später hatten sie die Wasserscheide überschritten, tauchten hinter den „Bald Buttes“ in einen scharfwinkligen Cañon und schlugen dann den Weg über den schroffen, kahlen Hang ein, der zum Porcupine hinabführte. Kurz, der an der Spitze war, blieb plötzlich stehen, und Kid ließ die Hunde sich hinlegen. Unterhalb der Stelle, wo sie sich befanden, sahen sie eine Reihe menschlicher Wesen den Hang heraufziehen, eine Reihe, die, wenn auch mit großen Zwischenräumen, fast eine Viertelmeile lang war.

 

»Die bewegen sich ja wie ein Leichenbegängnis«, bemerkte Kurz.

 

»Sie haben keine Hunde«, sagte Kid.

 

»Nein, die Schlitten werden von Männern gezogen.«

 

»Hast du gesehen, wie der Mann umfiel? Da ist etwas los, Kurz, es müssen mindestens zweihundert sein.«

 

»Schau mal, wie sie taumeln, wie besoffen… da ist schon wieder einer gefallen.«

 

»Es ist ein ganzer Stamm. Kinder sind ja auch dabei.«

 

»Kid, ich gewinne«, verkündete Kurz. »Ahnung ist Ahnung, und es ist nichts dagegen zu machen. Da kommen sie! Schau sie dir an! Sie kommen an wie eine Kompanie Leichen.«

 

Die Indianer, die jetzt die beiden Männer gesichtet hatten, brachen in ein Jubelgeschrei aus und beschleunigten ihren Gang.

 

»Sie sind ziemlich wacklig auf den Beinen«, meinte Kurz. »Sie fallen haufen- und rudelweise um.«

 

»Sieh dir mal das Gesicht des Vordersten an«, sagte Kid. »Es ist Hunger… das ist es, was mit ihnen los ist. Sie haben ihre Hunde aufgegessen.«

 

»Was wollen wir tun? Weglaufen?«

 

»Und Schlitten und Hunde zurücklassen?« fragte Kid vorwurfsvoll.

 

»Sie werden uns auffressen, wenn wir es nicht tun. Sie sehen hungrig genug aus. Hallo, alter Freund. Was ist mit dir los? Schau den Hund nicht so an! Den kriegst du doch nicht in deinen Kochtopf, verstehst du?«

 

Die ersten waren schon angelangt und scharten sich jetzt um die beiden, während sie klagten und wimmerten, aber in einer Sprache, die weder Kid noch Kurz verstand.

 

Kid fand diesen Auftritt ebenso lächerlich wie schreckenerregend.

 

Es war kein Zweifel, daß sie Hunger litten. Ihre Gesichter mit den eingefallenen Wangen und der Haut, die sich straff über die Knochen spannte, schienen Totenköpfen anzugehören. Immer mehr kamen heran und umdrängten Kid und Kurz, bis sie von der wahnsinnigen Schar völlig umzingelt waren.

 

»Geht weg da – weg, zum Teufel!« schrie Kurz jetzt wieder auf englisch, nachdem er vergebliche Versuche mit seinen indianischen Brocken gemacht hatte.

 

Männer, Frauen und Kinder wankten und taumelten auf ihren zitternden Beinen, und sie wurden immer aufdringlicher. Ihre Augen füllten sich mit Tränen der Schwäche und brannten von dem Feuer der Gier. Stöhnend wankte eine Frau an Kurz vorbei und fiel mit ausgebreiteten Armen über den Schlitten. Ein alter Mann folgte ihrem Beispiel und begann mit zitternden Händen, stöhnend und ächzend die Riemen zu lösen, um an die Proviantsäcke heranzukommen. Ein junger Mann, mit einem gezückten Messer in der Hand, versuchte sich heranzudrängen, wurde aber von Kid zurückgeworfen. Jetzt aber drang die ganze Bande auf sie ein, und der Kampf begann.

 

Anfangs stießen, schoben und schleuderten Kid und Kurz die Angreifer nur zurück. Dann aber waren sie genötigt, Peitschenstiele und die bloßen Fäuste gegen die ausgehungerte Schar zu gebrauchen. Und den Hintergrund dazu bildete der Kreis wimmernder und jammernder Frauen und Kinder. Hier und da gelang es den Angreifern, die Gepäckriemen zu durchschneiden. Männer krochen auf dem Bauch heran, ohne sich um den Regen von Schlägen und Hieben zu kümmern, die auf ihre Rücken herniederprasselten, verblendet von der Hoffnung, die Lebensmittel zu erreichen. Kid und Kurz mußten sie buchstäblich am Kragen packen und gewaltsam zurückschleudern. Und so groß war die Schwäche dieser Armen, daß sie beim leichtesten Stoß umfielen. Sie machten auch keinen Versuch, den beiden Männern, die ihre Schlitten verteidigten, etwas Böses anzutun.

 

Ausschließlich die Schwäche der Indianer war schuld daran, daß Kurz und Kid nicht überrannt wurden. Im Laufe von fünf Minuten war die Mauer aufrecht stehender, kämpfender Indianer in einen Haufen Gefallener verwandelt, die wimmernd und ächzend im Schnee lagen, während sie schrien und greinten und mit tränenden Augen den Proviant anstarrten, der für sie das Leben bedeutete und den sie so leidenschaftlich begehrten, daß der Geifer vor ihrem Munde stand. Und hinter diesem Haufen erhob sich das klagende Geschrei der Frauen und Kinder.

 

»Haltet doch den Mund! Hört doch auf!« brüllte Kurz, der sich vergebens die Finger in die Ohren steckte, während er vor Anstrengung laut stöhnte. »Ah, das wolltest du… so, das wolltest du…!« rief er, sprang vorwärts und schlug einem Mann, der auf dem Bauch durch den Schnee gekrochen war und den Versuch machte, dem Leithund die Kehle durchzuschneiden, mit einem Fußtritt das Messer aus der Hand.

 

»Furchtbar«, murmelte Kid.

 

»Mir ist auch ganz heiß geworden«, antwortete Kurz, als er zurückkam, nachdem er Bright das Leben gerettet hatte. »Was wollen wir nun mit diesem ganzen Lazarett hier anstellen?«

 

Kid schüttelte den Kopf, aber im selben Augenblick wurde das Problem gelöst. Ein Indianer kam herangekrochen. Sein eines Auge war auf Kid und nicht auf den Schlitten gerichtet, und Kid konnte in ihm lesen, wie der gesunde Verstand um die Herrschaft kämpfte. Kurz erinnerte sich, daß er dem Mann einen Faustschlag auf das andere Auge gegeben hatte, das auch schon geschwollen und vorläufig geschlossen war. Der Indianer erhob sich auf den Ellbogen und sprach.

 

»Mich Carluk! Mich gut Siwash. Mich kennen weißen Mann serr gutt. Mich serr hungrig. Alle Leute hier serr hungrig. Aber Leute nich kennen weißen Mann. Mich kennen. Mich essen Proviant. Alle Leute essen Proviant. Wir kaufen Proviant. Wir villes Gold. Sommer kein Lachs Milchfluß. Winter kein Elch kommen. Kein Proviant. Mich sprechen alle Leute. Mich sagen ville weiße Leute aus Yukon kommen. Weißen Mann villen Proviant. Weißen Mann lieben Gold. Lieben serr. Wir bringen ihm Gold, gehen Yukon, weißen Mann geben Proviant. Serr villes Gold. Mich wissen, weißen Mann lieben Gold.«

 

Mit seinen abgezehrten Fingern tastete er an einer Tasche, die er am Gürtel trug, herum.

 

»Ihr machen zuviel Lärm«, unterbrach Kurz ihn ärgerlich. »Du sagen Squaws, sie sagen Papusse, sie halten jetzt Mund.«

 

Carluk drehte sich um und sprach auf die klagenden Weiber ein. Andere Männer, die auf seine Worte gelauscht hatten, erhoben ihre Stimmen gebieterisch, und allmählich verstummten die Frauen und brachten auch die Kinder zum Schweigen. Carluk löste die Schnur seines Tabaksbeutels und hielt die Finger mehrmals in die Höhe.

 

»So ville sein Volk tot«, sagte er.

 

Und Kid, der nachgezählt hatte, stellte fest, daß fünfundsiebzig Mitglieder des Stammes verhungert waren.

 

»Mich kaufen Proviant«, sagte Carluk, als er endlich den Beutel geöffnet hatte, und zog einen großen Klumpen schweren Metalls hervor. Andere folgten seinem Beispiel, und auf allen Seiten tauchten ähnliche Klumpen auf. Kurz starrte sie an.

 

»Herrgott!« rief er. »Kupfer! Rohes rotes Kupfer! Und sie glauben, es sei Gold.«

 

»Ihn Gold sein«, versicherte Carluk vertrauensvoll. Mit seiner schnellen Auffassungsgabe hatte er sofort den Sinn des Ausrufes verstanden.

 

»Und die armen Teufel haben ihr ganzes Vertrauen darauf gesetzt«, murmelte Kid. »Schau es dir an. Der Klumpen da wiegt mindestens vierzig Pfund. Sie haben viele hundert Pfund davon, und sie haben es hierher geschleppt, obgleich sie kaum Kraft genug hatten, sich selbst zu schleppen. Sieh mal, Kurz, wir müssen ihnen etwas zu essen geben.«

 

»So so, das klingt ja verflucht einfach! Aber wie steht es mit deinen geliebten Zahlen? Wir haben zusammen Proviant für einen Monat, also dreißig mal sechs Mahlzeiten, im ganzen hundertachtzig Mahlzeiten. Hier sind zweihundert Indianer, die alle einen erstklassigen ausgewachsenen Appetit haben. Wir können ihnen also nicht einmal eine einzige Mahlzeit geben.«

 

»Dann haben wir das Hundefutter!« antwortete Kid. »Einige hundert Pfund getrockneter Lachs werden schon ein bißchen helfen. Wir müssen es jedenfalls tun. Sie haben ihre ganze Hoffnung auf den weißen Mann gesetzt, weißt du.«

 

»Selbstverständlich können wir sie nicht im Stich lassen«, stimmte Kurz ihm bei, »und daher haben wir jetzt zwei verdammt eklige Dinge zu tun, eines genauso eklig wie das andere. Einer von uns muß ein Wettrennen nach Mucluc machen und dort versuchen, eine Hilfsexpedition auf die Beine zu bringen. Der andere muß hierbleiben, das Lazarett in Betrieb bringen und sich höchstwahrscheinlich auch noch fressen lassen. Aber vergiß allergütigst nicht, daß wir sechs Tage gebraucht haben, um hierherzugelangen, und wenn man auch ohne großes Gepäck reist und dazu noch besonderes Glück hat, so kann man doch den Rückweg bestenfalls in drei Tagen machen.«

 

Einen Augenblick ließ Kid sich die vielen Meilen, die sie zurückgelegt hatten, durch den Kopf gehen, indem er sie an seinen Kräften maß, um auszurechnen, wie lange er wohl dazu brauchen würde. Dann sagte er: »Ich kann morgen abend dort sein.«

 

»Schön!« bestätigte Kurz zufrieden. »Dann werde ich hierbleiben und mich auffressen lassen.«

 

»Aber ich muß einen Fisch für jeden Hund mitnehmen«, erklärte Kid. »Und eine Mahlzeit für mich selbst.«

 

»Die wirst du auch dringend brauchen, wenn du morgen abend in Mucluc sein willst.«

 

Durch Vermittlung Carluks legte Kid jetzt das Programm fest.

 

»Machen Feuer, lange Feuer, viele Feuer…«, schloß er seine Ansprache. »Sehr viele weiße Mann leben Mucluc. Weiße Mann sehr gut. Weiße Mann sehr viel Futter. Fünf Tage mich zurückkommen, viel Proviant. Dieser Mann Kurz sehr gut Freund von mir. Er bleiben hier. Ein großer Häuptling, verstanden?«

 

Carluk nickte und übersetzte.

 

»Aller Proviant hierbleiben. Kurz euch Proviant geben. Er Häuptling, verstanden?«

 

Wieder übersetzte Carluk. Durch Nicken und rauhe Gaumenlaute gaben die andern Indianer ihre Zustimmung zu erkennen.

 

Kid blieb noch und half, bis alle Vorbereitungen in Schwung gekommen waren. Diejenigen, welche noch imstande waren, sich zu bewegen, krochen oder wankten herum, um Brennholz zu sammeln. Lange Feuer wurden nach Indianerart gemacht, daß alle an ihnen Platz fanden. Kurz hatte sich ein Dutzend Leute zu Hilfe genommen, die alle mit einem kurzen Knüppel bewaffnet waren, womit sie allzu hungrige Finger am Stehlen hinderten. Er stürzte sich mit Feuereifer auf seine Tätigkeit als Koch. Die Frauen übernahmen es, in allen verfügbaren Töpfen Schnee zu tauen. Zunächst wurde ein kleines Stück Räucherspeck unter sämtliche Indianer verteilt, und dann bekamen sie je einen Teelöffel Zucker, um den allerschlimmsten Hunger zu stillen. Bald kochten viele Töpfe mit Bohnen über einem kreisförmigen Feuer, in dessen Mitte Kurz sich befand. Mit entrüsteten Blicken achtete er darauf, daß keiner mogelte – wie er sagte -, während er die dünnsten Eierkuchen buk, die er je in seinem Leben zubereitet hatte. »Mich jetzt großer Kochmeister«, sagte er zum Abschied zu Kid. »Und du machst, daß du die Beine rührst. Lauf den ganzen Weg hin und komm im Galopp zurück. Ich rechne, daß du heute und morgen brauchst, um hinzukommen, und mindestens drei Tage für den Rückweg. Morgen werden sie den letzten Fisch verschlingen, und dann gibt’s keinen Krümel, bevor du in drei Tagen zurück bist. Du mußt die Beine rühren, Kid, sie ganz verdammt schnell rühren.«

 

Der Schlitten war leicht, da er ja nur mit den sechs Lachsen, einigen Pfunden gefrorener Bohnen und Speck und einem Schlafsack beladen war. Aber dennoch konnte Kid keine große Schnelligkeit erzielen. Statt auf dem Schlitten zu liegen und die Hunde anzutreiben, mußte er neben der Lenkstange durch den Schnee trotten. Außerdem hatten sie alle schon eine ganze Tagesarbeit hinter sich, und sowohl er wie die Hunde waren müde. Die lange arktische Dämmerung war bereits angebrochen, als er die Wasserscheide überschritt und die „Bald Buttes“ hinter sich ließ.

 

Den Hang hinab ging es schneller, und er konnte öfter, jedenfalls für kurze Zeit, auf den Schlitten springen und die Hunde zu einer Schnelligkeit von sechs Meilen antreiben. Aber die Dunkelheit brach herein, und er verirrte sich in dem weiten Tal eines unbekannten Baches. Hier lief der Strom in mächtigen hufeisenförmigen Kurven über den Felsgrund, und um keine Zeit zu verlieren, durchquerte Kid das Gelände, statt sich an den Bach zu halten. Als es ganz dunkel wurde, mußte er an den Bach zurückkehren, um die Fährte zu suchen. Nachdem er eine ganze Stunde mit vergeblichem Suchen verloren hatte, hielt er es für klüger, jetzt nicht weiterzusuchen, und machte Feuer, gab jedem Hund einen halben Fisch und verzehrte selbst die Hälfte seiner Ration. Als er in seinen Schlafsack gekrochen war, gelang es ihm, vor dem Einschlafen das Problem zu lösen. Die letzte Niederung, die er durchquert hatte, lag dort, wo der Bach sich in mehrere Arme teilte. Er hatte sich folglich um eine Meile von der Fährte entfernt. Er befand sich jetzt am Hauptstrom unterhalb der Stelle, wo seine und Kurz‘ Fährte das Tal durchquerte, um sich über ein kleines Bächlein und die niedrige Wasserscheide auf der andern Seite zu schlängeln.

 

Beim ersten leisen Morgendämmern machte er sich, ohne gefrühstückt zu haben, wieder auf den Weg und watete den Bach eine Meile aufwärts, um die verlassene Fährte wiederzufinden. Ohne daß er oder die Hunde etwas zu essen bekamen, fuhr er dann wieder los. Es wurde kein Halt unterwegs gemacht – acht Stunden lang überquerten er und seine Tiere die ganze Reihe von kleinen Bächen und niedrigen Wasserscheiden und setzten unverdrossen den Weg am Minnowbach entlang fort. Es war gegen vier Uhr nachmittags geworden, und fast undurchdringliche Finsternis umgab ihn schon, als er den hartgetretenen Weg zum Moosebach erreichte. Fünfzig Meilen mußte er diesem noch folgen, ehe die Tagesarbeit beendet war. Er hielt die Tiere an, machte Feuer, gab den Hunden den Rest der Fische, taute seine letzten Bohnen auf und verzehrte sie. Dann sprang er auf den Schlitten, schrie sein »Hü«, und die Hunde warfen sich energisch in die Sielen.

 

»Hü… schnell, schnell, meine Hunde!« rief er. »Hü… hott… schnell, dann bekommt ihr zu fressen! In Mucluc ist Futter genug für euch! Los, ihr Wölfe! Los… hü…!«

 

Im Wirtshaus „Annie Mine“ zeigte die Uhr schon dreiviertel eins. Im Schankraum waren noch viele Gäste. In dem großen Saal glühten die dickbäuchigen Öfen, und da die Ventilation viel zu wünschen übrigließ, herrschte eine ungesunde Hitze. Das harte Klappern des Spielgeldes und das Lärmen der Spieler am Würfeltisch schufen einen eintönigen Hintergrund zu dem ebenso eintönigen Gemurmel der vielen Männer, die rings in dem großen Raum saßen oder standen und sich in größeren oder kleineren Gruppen unterhielten. Die Männer an den Goldwaagen hatten vollauf zu tun, denn Goldstaub war das übliche Zahlungsmittel, und jedes Getränk an der Bar mußte den Männern an den Waagen in Staub bezahlt werden.

 

Die Wände des Schankraums bestanden aus Balken, die noch die Rinde trugen, und die Zwischenräume waren mit arktischem Moos ausgefüllt, das deutlich zu sehen war. Zu der offenen Tür des Tanzsaals klangen die heiteren Töne eines Klaviers und einer Geige heraus. Das chinesische Lottospiel war gerade zu Ende, und der glückliche Gewinner, dem der Gewinn schon an der Waage ausgezahlt war, wollte ihn mit einigen Zechgenossen vertrinken. An den Pharao- und Roulettischen war jeder Platz besetzt, und hier herrschte eifriges Schweigen. Ebenso war es an den Tischen, wo die Kartenspieler saßen, um die sich eine Schar von Kiebitzen gesammelt hatte. An einem Tisch wurde mit großem Ernst und viel Feierlichkeit Sechsundsechzig gespielt. Nur von dem Tisch, wo gewürfelt wurde, hörte man Lärm und Rufen, wenn der Spieler die Würfel mit flottem Schwung auf das grüne Tuch warf, wo sie ihrem sehnsüchtig begehrten, aber immer unerreichten Ziel entgegenstrebten. Dabei rief er unaufhörlich mit lauter Stimme: »Oh, Freundchen… gib doch vier… gib mir einen ordentlichen Treffer! Donnerwetter: Sechs, bring mir noch ’nen richtigen Treffer, mein kleines Freundchen!«

 

Cultus George, ein großer, kräftiger Indianer aus Circle City, hielt sich abseits und lehnte sich mürrisch an die Balkenwand. Er war ein zivilisierter Indianer, falls man einen Indianer zivilisiert nennen kann, weil er wie die weißen Männer lebte. Er fühlte sich sichtlich beleidigt, obgleich dies Beleidigtsein sich über lange Zeit erstreckte. Jahrelang hatte er ja dieselbe Arbeit geleistet wie die Weißen und hatte sie auch an der Seite der Weißen getan, oft genug besser als die Weißen. Er trug auch die gleichen Hosen wie sie, die gleichen schweren Wollhemden. Er besaß eine Uhr wie sie, trug das Haar gescheitelt wie sie und aß dasselbe wie sie – Räucherspeck, Bohnen und Mehl -, und doch war ihm der Zutritt zu ihren Hauptvergnügungen, ihrer begehrtesten Belohnung nach der Arbeit, verboten: er durfte keinen Whisky trinken. Cultus George verdiente viel Geld. Er hatte Goldfelder gefunden und Goldfelder gekauft und verkauft. Im Augenblick war er Fuhrherr und besorgte mit seinen Hundegespannen weite Frachttransporte. Er erhielt zwei Shilling das Pfund für eine Winterfahrt von den „Sechzig Meilen“ bis Mucluc, für den Transport von Räucherspeck sogar drei Shilling, wie es Sitte war. Seine Tasche strotzte von Goldstaub – und doch hätte kein Mann an der Bar ihm etwas zu trinken gegeben. Der Whisky, dieses herrlichste Geschenk der Zivilisation, das die schnellste und gründlichste Befriedigung schuf, existierte für ihn nicht. Nur auf geheimnisvollen, verborgenen und sehr kostspieligen Wegen konnte er sich hin und wieder ein Glas verschaffen. Und er empfand diesen Unterschied immer noch ebenso tief wie am ersten Tage. Heut abend war er ganz besonders durstig, und deshalb haßte er die weißen Männer, mit denen er sonst so emsig wetteiferte, noch bitterer als sonst. Der weiße Mann erlaubte ihm allergnädigst, sein Geld am Spieltisch zu verlieren, aber weder für Geld noch für Freundschaft konnte er einen Trunk an ihrer Bar erlangen. Deshalb war er sehr schüchtern und dachte sehr logisch, und seine Logik war besonders bissig.

 

Der Tanz in dem anliegenden Raum schloß mit einem wilden Finale, das jedoch die drei Säufer, die unter dem Klavier lagen und schnarchten, nicht störte.

 

»Alle an die Bar!« rief der Vortänzer, als die Musik eine Pause machte. Und dann marschierten sämtliche Paare durch die Türöffnung in den Schankraum – die Männer in Mokassins und Pelzen, die Damen in weichen, zarten Kleidern, in seidenen Strümpfen und Tanzschuhen. Eben in diesem Augenblick wurde die doppelte Haustür aufgerissen, und Alaska-Kid wankte erschöpft herein.

 

»Was ist denn los, Kid?« fragte Matson, der Inhaber der „Annie Mine“.

 

Nur mit Mühe gelang es Kid, seinen Mund von den Eisklumpen zu befreien, die in seinem Barte hingen. »Ich habe meine Hunde draußen… sie sind zum Sterben erschöpft«, sagte er heiser. »Einer von euch muß hinausgehen und sich ihrer annehmen… dann erzähle ich euch, was los ist.«

 

In abgebrochenen Sätzen berichtete er, was geschehen war.

 

Selbst der Würfelspieler hatte sein Geld auf dem Tisch liegengelassen und war – obgleich er noch immer nicht seinen großen Treffer gemacht hatte – zu Kid getreten.

 

Er war der erste, der jetzt sprach: »Da müssen wir was tun! Das ist klar… aber was? Du hast Zeit gehabt, dir die Sache zu überlegen. Was meinst du?«

 

»Ja«, sagte Kid. »Jetzt sollt ihr hören, was ich mir ausgedacht habe. Wir müssen so bald wie möglich einige leichte Schlitten abgehen lassen, sagen wir hundert Pfund Proviant auf jedem. Die Ausrüstung des Führers und das Hundefutter erhöhen das Gewicht um weitere fünfzig Pfund. Aber sie werden eine gehörige Schnelligkeit erzielen können. Sagen wir, daß wir fünf solcher Schlitten abschicken, aber sofort, die schnellsten Gespanne, die besten Hundefahrer und Fährtensucher. Auf der weichen Bahn können die Schlitten spielend vorwärts kommen. Sie müssen aber gleich abfahren. Bestenfalls vergehen doch drei Tage, bis die Schlitten hingelangen, und so lange haben die Indianer nichts zu essen. Und sobald die leichteren Schlitten abgeschickt sind, werden wir mit schwerbeladenen nachkommen. Ihr könnt es ja selbst ausrechnen. Zwei Pfund für den Tag ist das allerwenigste, womit wir die Indianer halbwegs anständig auf den Beinen halten können. Das macht vierhundert Pfund täglich, und da sie Kinder und alte Leute mitführen, brauchen wir mindestens fünf Tage, um sie nach Mucluc zu bringen. Was wollt ihr also machen?«

 

»Eine Sammlung veranstalten, um den Proviant zu kaufen«, sagte der Würfelspieler.

 

»Den Proviant nehme ich auf mich«, sagte Kid ungeduldig.

 

»Gibt’s hier nicht!« unterbrach ihn der andere. »Du hast hier nichts auszugeben. Wir machen alle mit. Einer von uns holt eine Waschschüssel. Die ganze Geschichte wird nur ein paar Minuten dauern. Und hier ist der Anfang.«

 

Er zog einen schweren Goldbeutel aus der Tasche, öffnete ihn und ließ einen Strom von grobem Goldstaub und Klumpen in die Waschschüssel rinnen, die inzwischen herbeigeschafft worden war. Ein Mann neben ihm riß seine Hand mit einem kräftigen Ruck beiseite und fluchte mächtig, während er die Öffnung des Sackes nach oben drehte, um den Goldstrom zurückzuhalten. Sechs oder sieben Unzen waren jedoch loser Schätzung nach in die Schüssel gefallein.

 

»Sei nicht solch ein Protz!« schrie der zweite. »Du bist nicht der einzige, der hier Gold hat. Ich bin auch noch da.«

 

»Nanu«, knurrte der Würfelspieler. »Du glaubst wohl, daß es ein Wettrennen ist, so verdammt eifrig bist du.«

 

Die Männer drängten und stießen sich, um ihren Anteil geben zu können, und als sie alle ihr Vergnügen gehabt hatten, hob Kid die gefüllte Schüssel hoch und lachte zufrieden.

 

»Das genügt, um den ganzen Stamm für den ganzen Winter durchzufüttern«, sagte er. »Und wie steht es jetzt mit den Hunden? Zunächst fünf leichte Gespanne, die den Teufel im Leibe haben.«

 

Ein ganzes Dutzend Gespanne wurde zur Verfügung gestellt, und das gesamte Lager, das sich zu einem Komitee aufgeworfen hatte, debattierte und diskutierte, nahm an und verwarf.

 

Sobald ein Gespann gewählt war, eilte der Besitzer, von fünf bis sechs Gehilfen begleitet, hinaus, um sofort anzuschirren und sich bereit zu machen.

 

Ein Gespann wurde zurückgewiesen, weil es erst am selben Nachmittag müde heimgekommen war. Ein Hundebesitzer stellte sein Gespann zur Verfügung, zeigte aber einen verbundenen Fuß, der es ihm unmöglich machte, es selbst zu lenken. Dieses Gespann übernahm Kid, ohne sich um die Einwände der andern zu kümmern, die behaupteten, daß er zu erschöpft sei.

 

Der lange Bill Haskell erklärte, daß der Dicke Olsen nicht in Frage käme, obgleich sein Gespann glänzend wäre, denn er hätte das Gewicht eines ausgewachsenen Elefanten. Der Dicke Olsen empfand seine zweihundertvierzig Pfund als eine tiefe Beleidigung. Tränen des Zorns füllten seine Augen, und seinen unendlichen Wortschwall konnte man erst beschwichtigen, als man versprach, ihm einen Platz in der schweren Division zu geben. Der Würfelspieler ergriff eifrig die Gelegenheit, um das Gespann des Dicken Olsen zu übernehmen.

 

Endlich waren fünf Gespanne gewählt und wurden angeschirrt, während man die Schlitten belud. Das Komitee hatte indessen nur vier Hundefahrer als tüchtig genug für die fliegende Division angesehen.

 

»Da haben wir ja Cultus George«, rief einer. »Er ist der richtige Meilenfresser, außerdem ganz ausgeruht und glänzend in Form.«

 

Aller Augen richteten sich auf den Indianer, dessen Gesicht aber unbeweglich blieb. Er sprach auch kein Wort.

 

»Willst du ein Gespann übernehmen?« fragte Kid.

 

Der große Indianer gab noch immer keine Antwort. Wie ein elektrischer Schlag durchfuhr alle das Gefühl, daß jetzt irgend etwas Unerwartetes geschehen würde. Alle verließen schnell ihre Plätze und bildeten einen Kreis um Kid und Cultus George, die Angesicht zu Angesicht dastanden. Kid fühlte, daß er einstimmig zum Vertreter seiner Kameraden gewählt worden und ihrer Zustimmung sicher war, was jetzt auch geschehen würde. Er war zudem tief empört. Er begriff überhaupt nicht, daß ein anständiger Mensch, der noch dazu den Eifer der Freiwilligen gesehen hatte, sich in einem solchen Falle zurückhalten konnte. Im übrigen hatte Kid auch, während sich das Folgende abspielte, gar keine Ahnung von dem tatsächlichen Standpunkt Cultus Georges. Es fiel ihm nicht ein, daß der Indianer andere Gründe als rein geschäftliche und selbstische für seine Zurückhaltung haben könnte.

 

»Selbstverständlich werden Sie ein Gespann übernehmen«, sagte Kid.

 

»Für wieviel?« fragte Cultus George.

 

Unwillkürlich entrang sich allen Kehlen ein drohendes Knurren. Alle Lippen schürzten sich verächtlich. »Wartet einen Augenblick, Kameraden«, rief Kid. »Vielleicht hat er uns nicht richtig verstanden. Laßt mich ihm die Sache erklären. Hör mal, George, siehst du nicht, daß hier niemand etwas bekommt? Sie tragen alle ihr Scherflein bei, um zweihundert Indianer vorm Hungertod zu retten.«

 

»Wieviel?« wiederholte Cultus George.

 

»Wartet, Kameraden, hör, George. Wir wollen nicht, daß du einen Fehler machst. Die Leute, die jetzt verhungern, gehören deinem eigenen Volke an. Es ist freilich ein anderer Stamm, aber es sind doch Indianer. Nun hast du gesehen, was die weißen Männer hier alle ohne Ausnahme tun: sie geben ihren Goldstaub, sie geben ihre Hunde, ihre Schlitten, streiten sich sogar, wer die Fahrt mitmachen soll. Nur der beste Fahrer kann die Führung übernehmen. Sieh dir mal den Dicken Olsen da an! Er war bereit, sich zu schlagen, nur weil sie ihn nicht gehen lassen wollten. Du müßtest mächtig stolz sein, daß die Männer dich für den besten Hundetreiber halten. Es geht hier nicht um wieviel, sondern um wie schnell.« – »Wieviel?« wiederholte Cultus George.

 

»Schlagt ihn tot!« – »Haut ihm den Schädel ein!« – »Teert und federt ihn!« lauteten einige von den Rufen, die man aus dem jetzt entstehenden wilden Getümmel zu hören bekam. Der Geist der Menschenliebe und der guten Kameradschaft war mit einem Schlage einer brutalen Roheit gewichen.

 

Im Zentrum des Sturms stand Cultus George vollständig unberührt und ruhig, während Kid die Zudringlichsten zurückschob und rief:

 

»Seid doch ruhig! Wer von uns soll die Sache hier machen?« Der Lärm verstummte. »Bringt mir ein Seil«, fügte er dann ruhig hinzu.

 

Cultus George zuckte die Achseln. Sein Gesicht verzerrte sich zu einem ungläubigen und mürrischen Grinsen. Er kannte die weißen Männer. Er hatte zu oft schwere Fahrten mit ihnen gemacht und Mehl und Speck und Bohnen mit ihnen gegessen, um sie nicht gründlich zu kennen. Er wußte, daß es eine Rasse war, die dem Gesetz gehorchte. Er wußte das voll und ganz. Sie bestraften stets den Mann, der sich gegen das Gesetz verging. Er aber hatte kein einziges Gesetz übertreten. Er kannte die Gesetze der Weißen. Er hatte selbst nach diesen Gesetzen gelebt. Er hatte weder gemordet noch gestohlen noch falsches Zeugnis abgelegt. Es gab keine Bestimmung in den Gesetzen des weißen Mannes, die ihm verbot, Bezahlung zu nehmen oder den Preis so hoch zu schrauben, wie es ihm beliebte. Sie verlangten alle ihren Preis und schraubten ihn so hoch, wie sie Lust hatten. Er tat auch jetzt nichts anderes als nur das, was sie ihn selbst gelehrt hatten. Außerdem – wenn er nicht gut genug war, um mit ihnen zu trinken, so war er auch nicht gut genug, um den Philanthropen mit ihnen zu spielen oder sich sonst irgendwie an ihren verrückten Unternehmungen zu beteiligen.

 

Als das Seil herbeigeschafft war, legten der lange Bill Haskell, der Dicke Olsen und der Würfelspieler sehr ungeschickt, aber mit dem Eifer der Entrüstung eine Schlinge um den Hals des Indianers und warfen das Ende des Seils über einen Dachbalken.

 

Cultus George leistete keinen Widerstand. Er wußte, was es war nur Bluff. Die Weißen waren überhaupt tüchtig im Bluffen. War nicht Poker ihr Lieblingsspiel? Betrieben sie nicht all ihre Geschäfte, kauften und verkauften und machten Preistreibereien mit Bluff und Schwindel? Ein halbes Dutzend Männer ergriff das Seil und hielt sich bereit, den Indianer in die Höhe zu ziehen. »Wartet noch!« befahl Kid. »Bindet ihm die Hände. Wir wollen nicht, daß er da oben herumklettert.«

 

Noch mehr Theater, dachte Cultus George und ließ sich die Hände ohne Widerstand auf den Rücken binden.

 

»Jetzt geb‘ ich dir die letzte Chance, George«, sagte Kid. »Willst du eines von den Gespannen übernehmen?«

 

»Wieviel?« fragte Cultus George.

 

Kid gab den Kameraden das Zeichen – befremdet von seinem eigenen Tun und gleichzeitig empört über die unglaubliche Selbstsucht des Indianers. Und Cultus George war nicht weniger erstaunt, als er fühlte, wie die Schlinge sich mit einem Ruck um seinen Hals zusammenzog und er selber plötzlich vom Boden gehoben wurde. Im selben Augenblick brach sein Eigensinn zusammen. Auf seinem Gesicht malten sich in schneller Folge Überraschung, Angst und Schmerz.

 

Kid wartete unruhig, was geschehen würde. Da er selbst noch nie aufgehängt worden war, fühlte er sich auf diesem Gebiete als Neuling. Der Körper des Indianers zuckte krampfhaft, die gefesselten Hände bemühten sich, die Bande zu sprengen, und aus der Kehle kam ein unheimliches Röcheln. Kid hob die Hand.

 

Die Männer waren ärgerlich, daß die Strafe nur so kurz dauerte, ließen aber den Indianer wieder herunter. Seine Augen quollen aus ihren Höhlen, er konnte kaum auf den Beinen stehen, schwankte hin und her, während er mit den gefesselten Händen in die Luft griff.

 

Kid erriet, was er wollte. Rücksichtsvoll steckte er die Finger zwischen das Seil und den Hals und lockerte die Schlinge mit einem harten Ruck. Jetzt erst konnte Cultus George, tief aufatmend, seine Lungen mit Luft füllen.

 

»Du übernimmst also ein Gespann?« fragte Kid.

 

Cultus George antwortete nicht gleich. Im Augenblick dachte er nur daran, Luft zu schöpfen.

 

»O ja, du hast ganz recht«, erklärte Kid, um die Pause auszufüllen. Ihm war selbst die Rolle, die er hier spielen mußte, zuwider. »Wir Weißen sind richtige Bestien. Wir würden unsere Seele für Gold verkaufen und so weiter, aber es kann geschehen, daß wir das mal vergessen, uns davon losreißen und etwas tun, ohne nur einen Augenblick daran zu denken, wieviel wir damit verdienen können. Und wenn wir das tun, Cultus George, dann mußt du aufpassen. Was wir jetzt wollen, ist: Willst du ein Gespann übernehmen?«

 

Cultus George überlegte hin und her. Er war kein Feigling. Vielleicht würden sie ihren Bluff nicht weitertreiben, und dann war er ein Esel, wenn er jetzt nachgab. Und während er überlegte, litt Kid alle Höllenqualen der Angst, daß dieser starrköpfige Indianer darauf bestehen würde, gehängt zu werden.

 

»Wieviel?« wiederholte Cultus George.

 

Kid wollte schon ein Zeichen geben, ihn wieder hochzuziehen.

 

»Mich lieber gehen!« sagte Cultus George sehr schnell, bevor das Seil wieder angezogen wurde.

 

 

 

»Und als die Hilfsexpedition ankam«, erzählte Kurz in der „Annie Mine“, »war dieses Indianerbiest von Cultus George der erste; er hatte sogar Kid um drei Stunden geschlagen, und ihr dürft nicht vergessen, daß Kid immerhin der zweite war. Na, es war aber auch Zeit, als ich Cultus George seine Hunde oben vom Kamm der Wasserscheide antreiben hörte, denn diese verfluchten Siwashs hatten schon meine Mokassins, meine Handschuhe, die Lederriemen und meine Messerscheide aufgefressen, und einige von ihnen begannen hungrige Blicke auf meine Person zu werfen – ich war ja besser gefüttert als sie, versteht ihr.

 

Und Kid? Er war mehr als halb tot. Er fummelte ein bißchen herum und half, das Essen für die zweihundert hungrigen Siwashs zu bereiten, aber dann schlief er ein, als er gerade auf dem Hintern saß und sich einbildete, daß er einen Eimer mit Schnee füllte, um ihn aufzutauen. Ich schleppte ihn dann auf mein Bett, und der Teufel soll mich holen, wenn ich ihn nicht hineinlegen mußte, so hin war er.

 

Ja, selbstverständlich habe ich meine Zahnstocher gewonnen. Die Hunde hatten wahrhaftig die sechs Lachse nötig, die Kid ihnen mitten am Tage gab.«