Kapitel 3

 

Zwei Monate nachdem Alaska-Kid und Kurz auf die Elchjagd gegangen waren, um sich Proviant zu verschaffen, saßen sie wieder in der Kneipe „Zum Elch“ in Dawson.

 

Die Jagd war glücklich beendet, das Fleisch hergeschafft und für zwei und einen halben Dollar das Pfund verkauft worden.

 

Gemeinsam verfügten sie jetzt über dreitausend Dollar in Goldstaub und über ein gutes Hundegespann. Sie hatten entschieden Glück gehabt. Obgleich der Zustrom von Goldsuchern das Wild hundert Meilen oder mehr in die Berge hineingetrieben hatte, war es ihnen doch schon, als sie die halbe Entfernung zurückgelegt hatten, gelungen, in einer engen Schlucht vier Elche zu erlegen.

 

Das Geheimnis, wie diese Tiere sich gerade dorthin verirrt hatten, war jedenfalls nicht größer als das Glück, das die beiden Jäger verfolgte. Denn noch ehe der erfolgreiche Tag zu Ende gegangen war, stießen sie auf ein Lager mit einigen ausgehungerten Indianerfamilien, die ihnen berichteten, daß sie seit drei Tagen kein Wild gesehen hätten. Kid und Kurz gaben ihnen Fleisch im Tausch gegen einige halbverhungerte Hunde. Nachdem sie die Tiere dann eine Woche lang tüchtig aufgefüttert hatten, spannten sie sie vor den Schlitten und fuhren das Fleisch auf den sehr aufnahmefähigen Dawsoner Markt.

 

Jetzt handelte es sich für die beiden Männer darum, ihren Goldstaub in Lebensmittel zu verwandeln.

 

Der augenblickliche Preis für Mehl und Bohnen betrug anderthalb Dollar das Pfund, aber die Schwierigkeit bestand darin, daß niemand verkaufen wollte. Dawson lag eben in den ersten Wehen einer Hungersnot.

 

Hunderte von Männern, die Geld, aber keine Lebensmittel besaßen, hatten das Land verlassen müssen. Viele von ihnen waren, solange das Wasser noch offen war, den Fluß hinabgezogen, und noch mehr waren die sechshundert Meilen über das Eis nach Dyea gewandert, obgleich sie kaum Lebensmittel genug für die Wanderung bei sich hatten.

 

Kid und Kurz trafen sich in der warmen Kneipe. Kid bemerkte gleich, daß sein Kamerad blendender Laune war.

 

»Das Leben ist wahrhaftig kein Festessen, wenn man nicht wenigstens Whisky und etwas Süßes dazu hat«, lautete Kurz‘ Gruß, während er ganze Eisklumpen aus seinem Schnurrbart zog, der langsam aufzutauen begann. Man hörte die Eisklumpen auf den Boden prasseln, wenn er sie wegschleuderte.

 

»Ich habe eben in diesem heiligen Augenblick achtzehn Pfund Zucker gekauft! Der Esel verlangte nur drei Dollar das Pfund. Und wie ist es dir ergangen?«

 

»Ich war auch nicht faul«, antwortete Kid stolz. »Ich habe fünfzig Pfund Mehl bekommen. Und am Adamsbach wohnt ein Mann, der hat mir versprochen, mir morgen noch fünfzig Pfund zu geben.«

 

»Großartig! Wir werden schon durchhalten, bis die Flüsse wieder eisfrei werden. Sag mal, Kid, die Hunde, die wir da gekriegt haben, sind nicht ohne, weißt du! Ein Hundehändler hat mir schon zweihundert Dollar das Stück geboten – er wollte fünf haben. Aber ich habe flott abgelehnt. Sie haben sich ja auch fein herausgemacht, als wir sie mit dem Elchfleisch fütterten. Es ist freilich schon eine tolle Sache, Hunde mit Lebensmitteln zu füttern, die zweieinhalb Dollar das Pfund kosten. Komm, nimm noch ein Glas! Wir müssen wirklich unsere achtzehn Pfund Zucker feiern und einen heben!«

 

Als er einige Minuten später Goldstaub für die Getränke abwog, fiel ihm etwas ein.

 

»Donnerwetter, da hatte ich fast vergessen, daß ich noch einen Mann im „Tivoli“ treffen soll. Er hat etwas verdorbenen Speck, den er uns für anderthalb Dollar das Pfund ablassen will. Den können wir den Hunden zu fressen geben und damit einen ganzen Dollar pro Tag und Stück sparen.«

 

»Auf Wiedersehen also«, sagte Kid. »Ich geh‘ nach Haus und leg‘ mich schlafen.«

 

Kaum hatte Kurz das Zimmer verlassen, als ein pelzbekleideter Mann durch die doppelte Tür und den Windschutz hereinschlüpfte. Sein Gesicht erhellte sich sichtlich, als er Kid sah. Der erkannte sofort Breck, den Mann, dessen Boot er und Kurz durch den »Büchsen-Cañon« und das »Weiße Roß« gefahren hatten.

 

»Ich hab‘ gehört, daß Sie in der Stadt sind«, sagte Breck hastig, während sie sich die Hände schüttelten. »Ich suche Sie schon eine halbe Stunde. Kommen Sie mit hinaus. Ich möchte gern mit Ihnen sprechen.«

 

Kid warf dem summenden, rotglühenden Ofen einen sehnsüchtigen Blick zu.

 

»Geht’s nicht hier?«

 

»Unmöglich. Ist viel zu wichtig. Kommen Sie mit hinaus.«

 

Draußen zog Kid sich einen Handschuh aus, zündete ein Streichholz an und sah nach dem Thermometer, das neben der Tür hing. Die Hand schmerzte in der schneidenden Kälte, und er zog den Handschuh schnell wieder an. Über ihren Häuptern stand der flammende Bogen des Nordlichts. Ganz Dawson hallte wider von dem melancholischen Geheul der vielen Tausende von Wolfshunden.

 

»Wie stand es?« fragte Breck.

 

»Unter sechzig.« Kid spie versuchsweise aus, und der Speichel knisterte in der eisigen Luft. »Und ich glaube, es wird noch mehr fallen, es fällt ja unaufhörlich. Vor einer Stunde stand es erst auf zweiundfünfzig. Jetzt dürfen Sie mir aber nichts von einem neuen Goldfund erzählen.«

 

»Aber das ist es ja eben«, flüsterte Breck vorsichtig. Er warf ängstliche Blicke nach allen Seiten, aus Furcht, daß jemand in der Nähe war und lauschte. »Sie kennen doch den Squawbach, nicht wahr? Er mündet drüben in den Yukon, dreißig Meilen weiter aufwärts.«

 

»Da ist nichts zu machen«, sagte Kid. »Den hat man schon vor vielen Jahren untersucht.«

 

»Das hat man auch mit all den andern reichen Bächen gemacht. Hören Sie jetzt mal her! Es ist eine Menge Gold da. Und es sind nur zweiundzwanzig Fuß bis zum Felsgrund. Es wird kein Claim geben, das nicht mindestens eine halbe Million wert ist. Es ist noch ein großes Geheimnis. Zwei oder drei von meinen intimsten Freunden haben mich eingeweiht. Ich sagte gleich zu meiner Frau, daß ich Sie aufsuchen wollte, bevor ich losging. Also, bis auf dahin! – Mein Gepäck liegt am Ufer versteckt. Die es mir erzählt haben, nahmen mir das Versprechen ab, erst gegen Abend loszugehen, wenn ganz Dawson schläft. Sie wissen ja selbst, was es heißt, wenn man Sie mit der ganzen Goldgräberausrüstung unterwegs sieht. Holen Sie jetzt Ihren Kameraden und kommen Sie mir nach! Sie werden sicher das vierte oder fünfte Claim neben dem des Finders kriegen können. Vergessen Sie nicht: am Squawbach! Es ist das dritte, wenn Sie am Schwedenbach vorbei sind.«

 

 

 

Als Kid die kleine Hütte auf der Anhöhe hinter Dawson betrat, hörte er das vertraute Schnarchen seines Kameraden.

 

»Ach, geh zu Bett«, murmelte Kurz, als Kid ihn an der Schulter rüttelte.

 

»Ich habe keine Nachtwache heute«, knurrte er weiter, als die Hand ihn immer kräftiger schüttelte. »Vertrau deine Sorgen dem Barmixer an.«

 

»Zieh dich schnell an«, sagte Kid, »wir müssen ein paar Claims abstecken.«

 

Kurz setzte sich im Bett auf und wollte einige energische Ausdrücke vom Stapel lassen, als ihm Kid die Hand vor den Mund hielt.

 

»Pst!« warnte Kid. »Es ist eine ganz große Sache. Weck nicht die Nachbarschaft. Dawson schläft noch.«

 

»Nanu, das wirst du mir erst beweisen müssen. Selbstverständlich erzählt keiner einem was von einem großen Goldfund! Oh, sie machen immer alle ein furchtbares Geheimnis daraus, aber eben deshalb ist es verblüffend, daß sie alle hinlaufen.«

 

»Es handelt sich um den Squawbach«, flüsterte Kid. »Es ist alles in Ordnung: Breck hat mir den Tip gegeben. Der Bach ist ganz seicht. Von den Graswurzeln abwärts ist alles Gold. Komm jetzt. Wir machen uns ein paar ganz leichte Pakete und türmen dann sofort.«

 

Kurz schloß wieder die Augen und legte sich ruhig ins Bett zurück. Im nächsten Augenblick hatte Kid ihm die Decken weggerissen.

 

»Wenn du das Gold nicht haben willst, dann will ich es«, erklärte Kid entrüstet.

 

Kurz stand auf und begann sich anzuziehen.

 

»Wollen wir die Hunde mitnehmen?« fragte er.

 

»Nein, am Bach gibt es sicher keinen festgetretenen Weg, und wir kommen deshalb schneller ohne sie hin.«

 

»Dann will ich ihnen was zu fressen geben, damit sie nicht hungern, während wir weg sind. Vergiß nicht, etwas Birkenrinde und ein Licht mitzunehmen.«

 

Kurz öffnete die Tür, spürte die beißende Kälte und zog sich schnell wieder zurück, um die Ohrenklappen festzubinden und die Fäustlinge anzuziehen.

 

Fünf Minuten später kam er wieder. Er rieb sich mit großer Energie die Nase.

 

»Du, Kid, ich bin sehr gegen dieses Wettrennen. Es ist kälter heute als die Türangeln der Hölle vor tausend Jahren, ehe das erste Feuer angezündet wurde. Außerdem ist heute Freitag, der Dreizehnte, und wir werden nur Pech haben, so sicher, wie Funken nach oben fliegen.«

 

Mit kleinen Goldgräberbündeln auf dem Rücken schlossen sie die Tür hinter sich und rutschten den Hügel hinab. Die strahlende Pracht des Nordlichts war schon erloschen – nur die Sterne zitterten in der eisigen Kälte am Himmel, und ihr unsicherer Schein stellte den Füßen der Wanderer Fallen.

 

Bei einer Wegbiegung strauchelte Kurz in dem tiefen Schnee, und das gab ihm Anlaß, seine Stimme zu erheben und den Tag samt Woche, Monat und Jahr in gutgewählten Worten zu segnen.

 

»Kannst du denn nicht den Mund halten?« zischelte Kid. »Laß doch den Kalender in Ruhe. Du weckst ja ganz Dawson, so daß sie alle hinter uns herkommen.«

 

»So, das meinst du? Siehst du das Licht in der Hütte dort? Und in der andern da drüben? Und hörst du die Tür dort knallen? Oh, ganz Dawson schläft, da ist gar kein Zweifel möglich! Die Lichter da? Alles natürlich nur Leute, die ihre toten Tanten begraben! Nichts liegt ihnen ferner, als auf die Goldsuche zu gehen. Ich wette mein Leben, daß sie gar nicht daran denken.«

 

Als sie den Fuß des Hügels erreichten und mitten in Dawson waren, blitzte Licht in allen Hütten auf, Türen wurden zugeworfen, und hinter sich hörten sie das schlurfende Geräusch vieler Mokassins auf dem hartgetretenen Schnee.

 

Kurz gab gleich seine Meinung zum besten.

 

»Aber der Teufel mag wissen, wo plötzlich all die trauernden Verwandten herkommen!«

 

Sie gingen an einem Mann vorbei, der am Wege stand und mit leiser Stimme vorsichtig rief: »Charley, Charley, mach ein bißchen dalli.«

 

»Siehst du das Bündel auf seinem Rücken, Kid? Der Friedhof muß verflucht weit weg liegen, daß die Trauernden ihre Bettdecke mitschleppen müssen.«

 

Als sie die Hauptstraße erreichten, waren mindestens hundert Mann in einer langen Reihe hinter ihnen her, und als sie in dem trügerischen Sternenlicht den Weg zum Fluß hinab suchten, hörten sie, daß noch mehr Leute sich hinten anschlossen. Kurz glitt aus und rutschte den dreißig Fuß hohen Abhang durch den tiefen Schnee hinunter.

 

Kid folgte ihm freiwillig und warf ihn um, als er gerade wieder aufstand.

 

»Ich habe den Weg zuerst gefunden«, fauchte Kurz und zog die Handschuhe aus, um den Schnee aus den Stulpen zu schütteln.

 

Im nächsten Augenblick mußten sie wie die Wilden durch den Schnee kriechen, um nicht mit den vielen, die ihnen folgten, zusammenzustoßen.

 

Als der Fluß seinerzeit zugefroren war, hatte sich hier Packeis angesammelt, und überall lagen in wilder Verwirrung Eisschollen, die der frische Schnee verbarg.

 

Als beide mehrmals gestürzt waren und sich tüchtig geschlagen hatten, zog Kid sein Licht hervor und zündete es an. Die Leute hinter ihnen gaben ihren Beifall durch laute Zurufe kund. In der windstillen Luft brannte die Kerze ganz klar, und es war jetzt tatsächlich leichter, den Weg zu finden.

 

»Es ist wahrhaftig das reine Wettrennen«, stellte Kurz fest. »Oder meinst du vielleicht, daß es lauter Schlafwandler sind?«

 

»Wir befinden uns jedenfalls an der Spitze der ganzen Kolonne«, antwortete Kid.

 

»Da bin ich nun nicht ganz so sicher. Vielleicht ist es nur eine Feuerfliege da vorn. Vielleicht sind es lauter Feuerfliegen, die da – und die dort. Guck sie dir nur an! Glaub mir, es ist eine ganze Reihe da vorn.«

 

Der Weg nach der andern Seite des Yukon führte eine ganze Meile weit über das Packeis, und überall auf dieser ganzen weiten gewundenen Strecke flammten Kerzen auf. Und hinter ihnen flammten noch mehr Lichter den Fluß entlang bis zu den Uferhängen.

 

»Weißt du, Kid, das ist schon kein Wettrennen mehr, das ist ja wie der Auszug aus Ägypten. Es müssen mindestens tausend vor uns und tausend hinter uns sein. Jetzt solltest du auch mal den guten Rat deines alten Onkels hören! Meine Medizin ist gut. Wenn ich eine Vorahnung bekomme, dann stimmt sie immer. Und meine Vorahnung sagt mir, daß wir bei diesem Wettrennen Pech haben werden. Laß uns ruhig umkehren und weiterpennen.«

 

»Spar dir lieber deine Puste, wenn du durchhalten willst«, knurrte Kid mürrisch.

 

»Uha, uha! Meine Beine sind freilich etwas kurz geraten, aber ich schleiche so besonnen mit schlappen Knien, ohne meine Muskeln zu überanstrengen, und ich bin todsicher, daß ich noch jeden Schnelläufer hier überholen kann.«

 

Und Kid wußte, daß Kurz recht hatte, denn er hatte schon längst die einzig dastehenden Fähigkeiten seines Kameraden im Marschieren kennengelernt.

 

»Ich habe mich ja auch nur zurückgehalten, um dir eine Chance zu geben«, neckte ihn Kid.

 

»Und ich laufe hier und trete dir auf die Hacken. Wenn du es nicht besser kannst, muß du mich lieber vorangehen und das Tempo angeben lassen.«

 

Kid erhöhte die Schnelligkeit und hatte bald den nächsten Haufen der Wettläufer eingeholt.

 

»Mach jetzt ein bißchen schnell, Kid«, drängte sein Kamerad. »Laß die Toten liegen. Es ist ja kein Leichenbegängnis. Hau die Füße tüchtig in den Schnee, als wären es Pflastersteine.«

 

Kid zählte acht Männer und zwei Frauen in dieser Gruppe, aber noch ehe sie das Packeis hinter sich hatten, überholten sie schon die zweite Gruppe, die aus zwanzig Männern bestand. Wenige Fuß von dem Westufer schwenkte der Weg nach Süden ab, und das Packeis wurde durch ein glattes Eisfeld ersetzt, das jedoch von frischem, mehrere Fuß hohem Schnee bedeckt war. Durch diesen Schnee lief die Schlittenbahn, ein schmales Band, knapp zwei Fuß breit, wo der Schnee von den vielen Füßen festgestampft war. Zu beiden Seiten dieses Pfades sank man bis zu den Knien oder noch tiefer ein.

 

Die Wettläufer, die von ihnen überholt wurden, waren nicht sehr geneigt, ihnen Platz zu machen, und Kid und Kurz mußten deshalb stets in den tiefen Schnee hinauswaten und konnten nur unter ungeheuren Anstrengungen vorbeigelangen.

 

Kurz war ebenso unüberwindlich wie pessimistisch. Wenn die Goldsucher schimpften, weil sie überholt wurden, antwortete er ihnen in derselben Tonart.

 

»Warum habt ihr es denn so eilig?« fragte einer.

 

»Warum ihr?« gab er zurück. »Gestern nachmittag ist eine ganze Bande von Goldsuchern vom Indianerfluß gekommen und hat euch den Rahm abgeschöpft. Es gibt keine Claims mehr.«

 

»Wenn das wahr ist, dann möchte ich wissen, warum ihr es so eilig habt?«

 

»Wer, wir? Ich suche gar kein Gold. Ich stehe im Dienst der Regierung. Ich bin in amtlichem Auftrag hier. Ich soll am Squawfluß eine Volkszählung abhalten.«

 

Und als ein anderer ihn mit den Worten begrüßte: »Wo willst du denn hin, Kleiner? Glaubst du wirklich, daß noch Platz für dich im Wagen ist?«, antwortete er: »Für mich? Ich bin doch der Entdecker der Goldminen am Squawbach. Ich habe eben in Dawson meine Mutung eintragen lassen, damit mir kein Chechaquo die Claims wegnimmt.«

 

Die durchschnittliche Schnelligkeit, die die Wettläufer auf dem glatten Boden erreichten, betrug drei und eine halbe Meile stündlich. Kurz und Kid machten vier und eine halbe, aber sie liefen auch hin und wieder eine kurze Strecke und kamen dann noch schneller vorwärts.

 

»Ich werde dir schon die Beine ablaufen!« rief Kid herausfordernd.

 

»Hoho, ich laufe auf den Stummeln weiter und trete dir die Hacken von den Mokassins. Übrigens ist es gar nicht nötig! Ich habe die Sache im Kopf nachgerechnet. Die Claims am Bach messen je fünfhundert Fuß – es kommen also, sagen wir, zehn Stück auf die Meile. Und es sind noch tausend Wettläufer vor uns, und der ganze Bach ist keine hundert Meilen lang. Irgend jemand muß also verlieren, und ich habe eine Ahnung, als ob wir das wären.«

 

Bevor Kid antwortete, machte er eine große Kraftanstrengung und ließ Kurz ein halbes Dutzend Fuß zurück.

 

»Wenn du dir deine Puste ein bißchen sparen würdest, könnten wir schon ein paar von den Tausend einholen!« schimpfte er.

 

»Wer? Ich? Wenn du ein bißchen aus dem Wege gehst, werde ich dir zeigen, was Schnelligkeit heißt.«

 

Kid lachte und legte sich wieder ins Geschirr. Die ganze Geschichte hatte natürlich ein anderes Aussehen bekommen. Durch den Kopf schoß ihm ein Ausdruck des sonderbaren deutschen Philosophen: »Die Umwertung der Werte…« Eigentlich machte es ihm viel weniger Spaß, ein Vermögen zu gewinnen, als Kurz zu besiegen. Und alles in allem, überlegte er, kam es ja gar nicht auf den Gewinn an, sondern auf das Spiel selbst. Wille und Muskeln, Seele und Säfte mußten in diesem Wettstreit mit Kurz bis zum äußersten angespannt werden, obgleich Kurz ein Mann war, der nie ein Buch geöffnet hatte und eine große Oper nicht von einer Tanzmelodie, ein Epos nicht von einer Frostbeule unterscheiden konnte.

 

»Kurz, ich werde dir schon geben, was du brauchst! Ich habe seit dem Tage, an dem ich in Dyea ankam, jede einzelne Zelle in meinem Körper neu aufgebaut. Meine Muskeln sind jetzt so zäh wie Peitschenschnüre und so bitter und böse wie der Biß einer Klapperschlange. Vor einigen Monaten hätte ich mich selbst angejauchzt, wenn ich etwas hätte schreiben können, aber damals konnte ich es einfach nicht. Ich mußte es erst erlebt haben, und jetzt, da ich es erlebe, habe ich gar keine Lust, es niederzuschreiben. Ich bin wirklich in jeder Beziehung hart und erprobt. Kein dreckiger Wicht von Gebirgler kann mir etwas bieten, ohne es hundertfach bezahlen zu müssen. Jetzt kannst du ja in Führung gehen, und wenn du genug hast, übernehme ich sie und werde dir eine halbe Stunde lang mehr als genug zu schaffen machen.«

 

»Donnerwetter!« grinste Kurz lustig. »Und dabei ist er noch nicht einmal trocken hinter den Ohren. Geh mir jetzt aus dem Wege und laß Papa seinem kleinen Jungen zeigen, wie man’s macht.«

 

Dann lösten sie sich jede halbe Stunde in der Führung ab.

 

Sie sprachen nicht mehr viel. Die Anstrengung hielt sie warm, obgleich der Atem auf ihren Gesichtern von den Lippen bis zum Kinn zu Eis wurde. So stark war die Kälte, daß sie unaufhörlich ihre Nasen und Wangen mit den Handschuhen reiben mußten. Sobald sie nur für kurze Zeit damit aufhörten, wurde das Fleisch sofort unempfindlich und mußte in der allerenergischsten Weise gerieben werden, damit sie wieder das brennende Prickeln empfanden, das die Rückkehr des normalen Blutumlaufes kennzeichnete.

 

Oft glaubten sie bereits die Spitze der Prozession erreicht zu haben, aber immer wieder überholten sie neue Goldsucher, die vor ihnen aufgebrochen waren.

 

Hin und wieder versuchten Gruppen von Männern, sich hinter ihnen zu halten. Sie verloren aber immer wieder den Mut, wenn sie eine oder zwei Meilen gefolgt waren, und verschwanden in der Dunkelheit hinter den beiden.

 

»Wir sind ja den ganzen Winter unterwegs gewesen«, erklärte Kürz, »und da bilden all diese Esel, die von dem ewigen Herumlungern in ihren Hütten ganz schlapp geworden sind, sich ein, es mit uns aufnehmen zu können. Na, wenn sie von dem richtigen guten alten Sauerteig wären, würde die Sache schon anders aussehen. Denn wenn einer vom alten Sauerteig etwas kann und versteht, dann ist es das Laufen.«

 

Einmal strich Kid ein Zündholz an und sah nach, wie spät es war. Aber er wiederholte den Versuch nicht, denn der Frost biß seine Hände so niederträchtig, daß es eine halbe Stunde dauerte, bis sie wieder brauchbar waren.

 

»Es ist jetzt vier Uhr«, sagte er, als er sich den Handschuh wieder anzog, »und wir haben schon an dreihundert überholt.«

 

»Dreihundertachtunddreißig«, verbesserte Kurz. »Ich habe sie genau gezählt. Geh aus dem Weg, Fremder. Laß Leute an die Spitze, die laufen können.«

 

Diese Aufforderung richtete er an einen Mann, der nur noch dahintaumelte und ihnen deshalb den Weg versperrte. Dieser und noch einer waren die einzigen völlig ausgepumpten Männer, die sie trafen. Jetzt waren sie fast an der Spitze des Zuges. Sie hörten übrigens erst später von all den Greueln, die sich in dieser Nacht abgespielt hatten. Erschöpfte Männer hatten sich am Rande des Weges zur Ruhe gesetzt, um nie wieder aufzustehen. Sieben starben vor Kälte, während unzählige von den Überlebenden dieses Wettrennens sich nachher in den Hospitälern von Dawson Zehen, Füße und Finger abschneiden lassen mußten. Zufällig war die Nacht, in der das Wettrennen stattfand, die kälteste des ganzen Jahres. Vor Tagesanbruch zeigten die Alkoholthermometer in Dawson eine Temperatur von siebzig Grad Fahrenheit unter Null. Und die Männer, die an dem Rennen teilnahmen, waren mit wenigen Ausnahmen Leute, die erst kürzlich ins Land gekommen waren und deshalb gar nicht wußten, wie man sich in solcher Kälte verhalten sollte.

 

Den nächsten, der das Rennen aufgegeben hatte, fanden sie einige Minuten später, als ein Streifen des Nordlichts vom Horizont bis zum Zenit wie der Lichtstrahl eines Scheinwerfers aufblitzte. Der Mann saß auf einem Eisblock am Wege.

 

»Nur immer los, Schwester Mary«, begrüßte Kurz ihn heiter. »Lauf weiter. Wenn du da sitzen bleibst, bist du bald steif wie ein Kirchturm.«

 

Der Mann gab keine Antwort, und sie blieben stehen, um ihn zu untersuchen.

 

»Steif wie ein Schürhaken«, lautete Kurz‘ Urteil. »Wenn du ihn umstülpst, bricht er mittendurch.«

 

»Sieh mal nach, ob er noch atmet«, sagte Kid, während er mit entblößten Händen durch den Pelz und die wollene Jacke das Herz suchte.

 

Kurz schob seine rechte Ohrklappe hoch und legte das Ohr an die vereisten Lippen.

 

»Keine Spur«, berichtete er.

 

»Das Herz schlägt auch nicht mehr«, sagte Kid.

 

Er zog sich wieder die Handschuhe an und schlug die Hand einige Minuten mit der anderen energisch, ehe er sie wieder der Kälte aussetzte, um ein Streichholz anzuzünden. Es war ein alter Mann, und es bestand kein Zweifel, daß er schon tot war. In der Minute, in der ihn das Licht des Zündholzes beleuchtete, sahen sie einen langen grauen, bis zur Nase von Eis überkrusteten Bart. Die Wangen waren weiß wie der Schnee, und die Augen, deren Wimpern voller Eisklumpen hingen, waren zugefroren. Dann erlosch das Streichholz.

 

»Komm«, sagte Kurz und rieb sich das Ohr. »Wir können dem alten Esel ja doch nicht mehr helfen. Und ich bin überzeugt, daß mein Ohr erfroren ist. Jetzt wird sich die verfluchte Haut abschälen, und es wird eine ganze Woche weh tun.«

 

Als einige Minuten später wieder ein Lichtstreifen sein zitterndes Feuer über den Himmel warf, erblickten sie zwei Gestalten vielleicht eine Viertelmeile vor sich auf dem Eis.

 

Sonst war auf eine Meile im Umkreis nichts zu sehen, das sich regte.

 

»Das sind die Anführer der ganzen Kolonne«, sagte Kid, als es wieder dunkel wurde. »Los, daß wir sie kriegen!«

 

Als sie noch eine halbe Stunde gegangen waren, ohne sie einzuholen, begann Kurz zu laufen.

 

»Wenn wir sie auch erreichen, werden wir sie doch nie überholen«, erklärte er. »Donnerwetter, was für ein Tempo! Ich halte Dollars gegen Pfeffernüsse, daß das keine Chechaquos sind. Die sind vom richtigen alten Sauerteig, darauf kannst du dich in die Nase beißen.«

 

Als sie endlich die beiden erreichten, hatte Kid die Führung, und er freute sich aufrichtig, als er etwas langsamer gehen konnte, um Schritt mit ihnen zu halten. Er hatte gleich den Eindruck, daß die Person, die ihm am nächsten schritt, eine Frau war. Wie er zu dieser Überzeugung kam, konnte er freilich nicht sagen. Eingehüllt in Kopftuch und Pelzwerk, sah die Gestalt aus wie jede andere, aber es war etwas an ihr, das ihm bekannt vorkam, und er konnte dieses Gefühl nicht abschütteln. Er wartete den nächsten Lichtstreifen des Nordlichts ab, und bei diesem Schein sah er, wie klein die Füße waren. Aber er sah noch mehr – nämlich den Gang. Und er war sich gleich darüber klar, daß es der unverkennbare Gang war, von dem er einst festgestellt hatte, daß er ihn nie vergessen würde.

 

»Die marschiert aber gut«, vertraute Kurz ihm mit heiserem Flüstern an. »Ich wette, sie ist eine Indianerin.«

 

»Wie geht es Ihnen, Fräulein Gastell?« begrüßte Kid sie.

 

»Danke, und Ihnen?« antwortete sie und wandte schnell den Kopf, um ihn zu sehen. »Es ist leider noch zu dunkel, um richtig sehen zu können. Wer sind Sie?«

 

»Alaska-Kid.«

 

Sie lachte in die kalte Luft hinaus, und ihm schien, daß er noch nie in seinem Leben ein so herrliches Lachen gehört hätte.

 

»Und sind Sie schon verheiratet und haben all die Kinder bekommen, von denen Sie mir so Interessantes erzählten?« Bevor er antworten konnte, fuhr sie fort: »Wie viele Chechaquos sind noch hinter Ihnen her?«

 

»Einige Tausend, glaube ich. Wir haben über dreihundert überholt. Und sie verlieren keine Zeit unterwegs.«

 

»Es ist die alte Geschichte«, sagte sie bitter. »Die Neuankömmlinge belegen die reichen Claims an den Bächen, und die Alten, die gedarbt und gelitten und das ganze Land zu dem gemacht haben, was es ist, bekommen nichts. Die Alten sind es, die diese Goldlager am Squawbach gefunden haben; es ist mir unbegreiflich, wie es durchgesickert ist, und sie hatten den alten Leuten am Löwensee Bescheid gegeben. Aber der liegt zehn Meilen hinter Dawson, und wenn sie kommen, werden sie entdecken, daß der Bach bis zu den Wolken voller Pfähle ist – und alles von diesen Chechaquos. Es ist nicht recht, und es ist nicht schön, daß das Glück so verrückt handelt.«

 

»Es ist sehr traurig«, sagte Kid, »aber ich will mich hängen lassen, wenn ich ausrechnen kann, was dagegen zu machen ist. Wer zuerst kommt, mahlt zuerst.«

 

»Ich möchte gern etwas dagegen machen«, rief sie mit flammenden Augen. »Ich sähe am liebsten, wenn sie alle unterwegs erfrören oder ihnen sonst etwas Schreckliches geschähe, jedenfalls bis die Leute vom Löwensee da sind.«

 

»Sie meinen es offenbar sehr gut mit uns«, lachte Kid.

 

»So ist es nicht gemeint«, sagte sie schnell. »Aber von den Leuten vom Löwensee kenne ich jeden einzelnen, und ich weiß, daß es Männer sind. Sie haben in den guten alten Tagen in diesem Lande gehungert und haben wie die Titanen geschuftet, um etwas daraus zu machen. Ich habe selbst damals die schweren Tage mit ihnen am Koyokuk erlebt, als ich noch ein kleines Mädchen war. Und habe mit ihnen die Hungersnot am Birkenbach durchgemacht und die andere Hungersnot bei den „Vierzig Meilen“. Sie sind Helden, die eine Belohnung verdienen, und doch kommen Tausende von Grünschnäbeln hierher, die gar nicht das Recht auf die Felder haben, und sind den Alten um viele Meilen voraus. Und jetzt müssen Sie mir meine lange Tirade verzeihen. Ich will lieber meine Lunge schonen, denn ich weiß ja nicht, ob nicht Sie oder die andern versuchen wollen, Papa und mich zu überholen.«

 

Für eine Stunde wurden keine Worte mehr zwischen Joy und Kid gewechselt, aber er bemerkte, daß sie und ihr Vater eine Zeitlang leise miteinander sprachen.

 

»Ich weiß jetzt, wer das ist«, erzählte Kurz Kid. »Es ist der alte Louis Gastell, einer von den Besten unter den „Alten“. Das Mädel muß sein Fohlen sein. Es ist so lange her, daß er ins Land kam, daß keiner sich mehr erinnert, und er brachte das Töchterchen als Wickelkind mit. Er und Beetles sind Kompagnons gewesen; sie hatten den ersten lausig kleinen Dampfer, der bis zum Koyokuk fuhr.«

 

»Wir wollen doch lieber nicht versuchen, sie zu überholen«, sagte Kid. »Wir sind ja doch an der Spitze der ganzen Prozession; es sind nur noch vier vor uns.«

 

Kurz erklärte sich einverstanden, und es folgte wieder eine Stunde tiefen Schweigens, während sie unermüdlich weiterliefen.

 

Gegen sieben wurde die Dunkelheit von einem letzten Aufflackern des Nordlichts erhellt, und sie sahen im Westen eine breite Öffnung in den schneebedeckten Bergen.

 

»Der Squawbach!« rief Joy aus.

 

»Wir sind auch tüchtig gelaufen«, antwortete Kurz begeistert. »Meiner Berechnung nach hätten wir erst in einer halben Stunde dasein sollen. Ich muß meine Beine gründlich gebraucht haben.«

 

An dieser Stelle bog der Weg von Dyea, der an vielen Stellen vom Packeis versperrt wurde, scharf über den Yukon nach dem östlichen Ufer ab. Und hier mußten sie den festgetretenen, allgemein benutzten Weg verlassen, über das Packeis klettern und einer schmalen Fährte folgen, die nur wenig gebraucht war und nach dem Westufer hinüberführte.

 

Louis Gastell, der an der Spitze ging, strauchelte im Dunkel auf dem glatten Eis. Er setzte sich und hielt seinen Fuß mit beiden Händen. Dann gelang es ihm, wieder auf die Beine zu kommen, aber er blieb zurück, und man sah deutlich, daß er hinkte. Nach einigen Minuten blieb er stehen.

 

»Es hat keinen Zweck«, sagte er zu seiner Tochter. »Ich habe mir den Fuß verstaucht. Du mußt vorausgehen und für mich und dich je ein Claim abstecken.«

 

»Können wir nichts dabei machen?« fragte Kid.

 

Louis Gasteil schüttelte den Kopf.

 

»Sie kann ebensogut zwei Claims abstecken wie einen. Ich werde langsam ans Ufer kriechen, mir dort ein Feuer machen und einen Verband um den Fuß legen. Es wird schon wieder in Ordnung kommen. Nur los, Joy, nimm für uns die Claims oberhalb des Finderclaims. Es wird reicher nach oben.«

 

»Hier ist etwas Birkenrinde«, sagte Kid und teilte seinen Vorrat. »Wir werden uns Ihrer Tochter annehmen.«

 

Louis Gastell lachte barsch.

 

»Schönen Dank«, sagte er. »Aber sie kann selbst für sich sorgen. Folgen Sie ihr nur und achten Sie darauf, was sie tut…«

 

»Haben Sie etwas dagegen, daß ich die Führung übernehme?« fragte sie und begab sich an die Spitze. »Ich kenne dieses Land besser als Sie.«

 

»Übernehmen Sie nur die Führung«, antwortete Kid galant. »Ich bin auch ganz mit Ihnen einig. Es ist eine Schande, daß wir Chechaquos den Alten vom Löwensee zuvorkommen sollen.«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Wir können unsere Fährte nicht verlöschen. Sie werden uns nachlaufen wie die Schafe.«

 

Eine Viertelstunde später bog sie in einem scharfen Winkel nach Westen ab. Kid bemerkte, daß sie jetzt über Schnee liefen, den bisher keiner betreten hatte; aber weder er noch Kurz bemerkten, daß die undeutliche Fährte, der sie bisher gefolgt waren, weiter nach Süden führte. Wenn sie gesehen hätten, was Louis Gastell tat, nachdem sie ihn verlassen hatten, würde sich die Geschichte Klondikes anders gestaltet haben. Denn dann hätten sie festgestellt, daß dieser erfahrene Mann der alten Tage nicht länger sitzen blieb, sondern ihnen, wie ein Spürhund mit der Nase auf der Fährte, nachging. Dann hätten sie auch gesehen, wie er den Weg, der sie nach Westen geführt hatte, deutlicher und breiter stampfte. Und endlich hätten sie auch bemerkt, daß er die alte undeutliche Fährte, die nach Süden ging, verwischte.

 

Eine Fährte führte den Bach hinauf, aber sie war so undeutlich, daß sie sie in der Dunkelheit immer wieder aus ihrer Sicht verloren. Nach einer Viertelstunde überließ Joy den Männern abwechselnd die Führung und das Bahnen des Weges durch den Schnee. Da sie aber nur langsam vorwärts kommen konnten, gelang es der ganzen Prozession von Läufern, sie einzuholen, und als es gegen neun Uhr hell wurde, sahen sie, so weit ihr Auge reichte, eine ununterbrochene Reihe von Männern. Joys dunkle Augen leuchteten bei diesem Anblick.

 

»Wie lange ist es her, seit wir den Bach hinaufzugehen begannen?« fragte sie.

 

»Zwei Stunden«, antwortete Kid.

 

»Und zwei Stunden zurück machen vier Stunden«, lachte sie. »Die Alten vom Löwensee sind gerettet.«

 

Ein leiser Verdacht schoß Kid durch den Kopf. Er blieb stehen und blickte sie an.

 

»Ich verstehe nicht«, sagte er.

 

»Natürlich nicht. Aber ich will es Ihnen erklären. Hier ist der Norwegenbach. Der Squawbach ist der nächste südlich von ihm.«

 

Kid war einen Augenblick sprachlos.

 

»Das haben Sie absichtlich getan?« fragte Kurz.

 

»Ich tat es, um den Alten eine Chance zu geben.« Sie lachte spöttisch.

 

Die beiden Männer grinsten sich zu und stimmten ihr schließlich bei.

 

»Ich würde Sie über mein Knie legen und Ihnen anständige Dresche geben, wenn die Frauen hierzulande nicht so selten wären«, versicherte Kurz.

 

»Ihr Vater hat sich also nicht den Fuß verstaucht, sondern nur gewartet, bis wir weg waren, um allein weiterzugehen?« fragte Kid. Sie nickte.

 

»Und Sie waren sein Lockvogel?«

 

Wieder nickte sie. Und diesmal klang Kids Lachen frei und echt. Es war das unwillkürliche Lachen eines Mannes, der seine Niederlage freimütig einräumt.

 

»Warum sind Sie uns nicht böse?« fragte sie reumütig. »Oder warum verdreschen Sie mich nicht?«

 

»Weißt du, Kid, wir können ja ebensogut umkehren«, schlug Kurz vor. »Ich fange an, kalte Füße zu bekommen.«

 

Kid schüttelte den Kopf.

 

»Das würde eine Verspätung von vier Stunden bedeuten. Wir sind jetzt, glaube ich, den Bach acht Meilen hinaufgegangen, und soviel ich sehen kann, macht der Norwegenbach einen weiten Bogen nach Süden. Wir wollen ihm ein Stück folgen, dann irgendwo hinuntergehen und den Squawbach oberhalb des Finderclaims erreichen.« Er sah Joy an. »Wollen Sie mit uns kommen? Ich sagte Ihrem Vater ja, daß wir uns um Sie kümmern würden.«

 

»Ich…«, sie zögerte. »Ich glaube, ich werde es tun, wenn Sie nichts dagegen haben.« Sie sah ihn fest und gerade an, und ihr Gesicht war weder herausfordernd noch spöttisch. »Sie sind schuld daran, Herr Kid, daß ich wirklich bereue, was ich getan habe. Aber einer mußte die Alten retten.«

 

»Ich habe den Eindruck, daß ein Wettrennen nach dem Golde seinen Hauptwert als sportliche Leistung hat.«

 

»Und ich habe den Eindruck, daß Sie beide sich glänzend damit abfinden«, fuhr sie fort. Dann fügte sie, mit einer Andeutung von einem Seufzer, hinzu: »Wie schade, daß Sie nicht zu den Alten gehören.«

 

Sie blieben noch zwei Stunden auf dem gefrorenen Flußbett des Norwegenbaches. Dann bogen sie auf einen schmalen, unebenen Nebenfluß ein, der nach Süden führte. Gegen Mittag überschritten sie die Wasserscheide. Wenn sie zurückblickten, sahen sie die lange Reihe der Wettläufer sich allmählich auflösen.

 

Hier und da zeigten Rauchsäulen, daß man im Begriff war, ein Lager aufzuschlagen.

 

Sie selbst hatten noch Schweres durchzumachen. Sie wateten bis zum Leib durch den Schnee und mußten immer wieder nach wenigen Metern haltmachen, um sich auszuruhen. Kurz war der erste, der eine Rast vorschlug.

 

»Wir sind jetzt über zwölf Stunden unterwegs«, sagte er. »Weißt du, Kid, ich gestehe ohne weiteres, daß ich müde bin. Und das bist du auch, mein Freund. Ich bin so frei zu behaupten, daß ich so zähe an der Fährte hänge wie ein hungriger Indianer, wenn ein großes Stück Bärenfleisch winkt. Aber das arme Mädchen hier kann sich nicht länger auf den Beinen halten, wenn es nichts in den Magen kriegt. Hier ist eben die richtige Stelle, um ein Feuer zu machen. Was meint ihr dazu?«

 

Sie schlugen das einfache Lager so schnell, geschickt und methodisch auf, das Joy, die sie mit eifersüchtigen Augen betrachtete, sich gestehen mußte, daß selbst die Alten es nicht besser hätten machen können.

 

Fichtenzweige, die sie auf dem Schnee ausbreiteten und auf die sie eine Decke legten, bildeten eine vorzügliche Unterlage, auf der sie sich ausruhen und ihre Tätigkeit als Köche ausüben konnten. Aber sie hielten sich vorsichtig vom Feuer fern, bis sie sich Nase und Kinn kräftig gerieben hatten.

 

Kid spie in die Luft, und das Knistern kam so prompt und kräftig, daß er den Kopf schüttelte.

 

»Ich gebe es auf«, sagte er. »Ich habe noch nie eine solche Kälte erlebt.«

 

»Einen Winter hatten wir am Koyokuk sechsundachtzig Grad Fahrenheit«, antwortete Joy. »Und jetzt sind es mindestens siebzig oder fünfundsiebzig, und ich weiß, daß ich mir leider die Backen erfroren habe. Sie brennen wie Feuer.«

 

Auf dem steilen Abhang der Wasserscheide lag kein Eis. Sie nahmen deshalb Schnee, der so fein, hart und kristallinisch wie Puderzucker war, und legten einige Handvoll davon in die Goldpfanne, bis sie Wasser genug hatten, um Kaffee zu kochen. Kid briet Speck und taute die Kekse auf. Kurz nahm sich der Heizung an und sorgte für das Feuer und Joy für das bescheidene Geschirr, das aus zwei Tellern, zwei Tassen, zwei Löffeln, einer Büchse mit gemischtem Pfeffer und Salz und einer andern mit Zucker bestand. Als sie dann aßen, benutzten Joy und Kid denselben Löffel. Sie aßen von demselben Teller und tranken aus derselben Tasse.

 

Es war schon fast zwei Uhr nachmittags, als sie den Rücken der Wasserscheide hinter sich hatten und einen Nebenfluß des Squawbaches hinabzugehen begannen. Früher im Winter hatte ein Elchjäger eine Fährte durch den Cañon hinterlassen – das heißt, er war beim Hin- und Zurückgehen immer wieder in seine eigenen Fußspuren getreten. Die Folge war, daß man mitten im Schnee eine Reihe von unregelmäßigen Klumpen sah, die durch später gefallenen Schnee halbwegs verdeckt waren. Wenn der Fuß nicht genau den festen Klumpen traf, sank er tief in den weichen losen Schnee, und man konnte das nur schwerlich vermeiden, um so mehr, als der Elchjäger ein ziemlich langbeiniger Herr gewesen zu sein schien. Joy, die jetzt sehr eifrig war, daß die beiden Männer ein paar Claims erhalten sollten, fürchtete, daß sie mit Rücksicht auf sie langsamer gehen würden. Sie verlangte deshalb, die Führung zu behalten. Die Schnelligkeit und die ganze Art, wie sie die schwierige Wanderung durchführte, fand Kurz‘ vorbehaltlosen Beifall.

 

»Guck sie dir mal an«, rief er. »Piekfein ist sie! Das richtige rote Bärenfleisch! Sieh dir mal an, wie die Mokassins sausen. Da gibt’s nichts mit hohen Absätzen, sie gebraucht die Beinchen, wie sie der liebe Herrgott geschaffen hat. Sie ist das richtige Frauchen für einen Bärenfänger.«

 

Sie warf ihm über die Schulter ein anerkennendes Lächeln zu, das auch Kid umfaßte. Und Kid fühlte zwar die offene Kameradschaft dieses Lächelns, hatte aber dabei doch die bittere Empfindung, daß es nicht nur eine Schicksalsgenossin, sondern auch ein Weib war, das ihm einen Teil dieses Lächelns schenkte.

 

Als sie das Ufer des Squawbaches erreichten und zurückblickten, sahen sie, wie der Zug der Wettläufer sich in unordentliche Reihen aufgelöst hatte, die im Begriff waren, sich über die Wasserscheide zu arbeiten.

 

Dann glitten sie den Hang hinab in das Flußbett. Der Bach, der bis zum Grunde gefroren war, hatte eine Breite von zwanzig bis dreißig Fuß und lief zwischen sechs bis acht Fuß hohen Wällen aus angeschwemmtem Lehm. Kein Fußtritt hatte je den Schnee, der auf dem Eis lag, beschmutzt, und sie wußten deshalb, daß sie jetzt oberhalb des Finderclaims und der letzten Pfähle der Leute vom Löwensee waren.

 

Die Quellen, die den meisten Flüssen Klondikes eigentümlich sind, gefrieren nicht einmal bei der niedrigsten Temperatur. Das Wasser kommt aus den Uferabhängen und bleibt in Pfützen stehen, die durch das Oberflächeneis und durch Schneefälle gegen die schlimmste Kälte geschützt werden. Es kommt deshalb vor, daß ein Mann, der durch tiefen Schnee watet, plötzlich durch eine Eisdecke von einem halben Zoll bricht und bis zu den Knien im Wasser steht. Und wenn er sich dann nicht gleich trockene Strümpfe anziehen kann, muß er binnen fünf Minuten seine Unbesonnenheit mit dem Verlust der Füße büßen.

 

Obgleich es erst gegen drei Uhr nachmittags war, hatte die graue Dämmerung der Arktis schon eingesetzt. Sie sahen sich nach dem Pfahl um, der ihnen das letzte abgezeichnete Claim kenntlich machen sollte. Joy, eifrig und impulsiv, wie sie war, entdeckte ihn zuerst. Sie eilte zu Kid und rief: »Hier ist jemand gewesen! Sehen Sie nur den Schnee! Schauen Sie schnell nach dem Zeichen… hier ist es. Sehen Sie die Fichte dort!«

 

Auf einmal versank sie bis zum Gürtel im Schnee. »O Gott, jetzt sitze ich drin«, sagte sie traurig. Dann nahm sie sich zusammen und rief schnell: »Kommen Sie mir nicht nahe, ich werde hier durchwaten.« Schritt für Schritt kämpfte sie sich vorwärts, bis sie wieder festen Boden unter den Füßen hatte, aber es war schwer gewesen, denn immer wieder brach sie durch die dünne Eisdecke, die unter dem trockenen Schnee lag.

 

Kid wartete es aber nicht ab. Er sprang ans Ufer und holte welke, eingetrocknete Zweige und Reisig, die bei den Frühlingsüberschwemmungen im Busch aufgesammelt worden und hierhergetrieben waren, wo sie jetzt nur auf das Streichholz warteten. Als sie zu ihm kam, stoben schon die ersten Funken und Flammen aus dem brennenden Reisighaufen.

 

»Setzen Sie sich«, befahl er.

 

Sie setzte sich gehorsam in den Schnee. Er nahm seinen Rucksack ab und breitete eine Decke vor ihren Füßen aus.

 

Von oben hörten sie die Stimmen der Wettläufer, die ihnen gefolgt waren.

 

»Lassen Sie Kurz abstecken«, schlug sie vor.

 

»Geh, Kurz«, sagte Kid, als er ihre Mokassins, die schon ganz steif waren, in Angriff nahm. »Steck tausend Fuß ab und setz zwei Pfähle hinein. Die Eckpfähle können wir ja später stecken.«

 

Kid schnitt die Schnürsenkel und das Leder der Mokassins durch. Sie waren schon so steif geworden, daß sie krachend barsten, als er sie zerhackte und zerschnitt. Die Siwashsocken und die dicken wollenen Strümpfe waren feste Hülsen aus Eis. Es war, als ob ihre Füße und Fesseln in Behältern aus Wellblech steckten.

 

»Wie steht es mit Ihren Füßen?« fragte er.

 

»Ziemlich unempfindlich. Ich kann die Zehen weder fühlen noch bewegen. Aber es wird schon wieder werden. Das Feuer brennt ja herrlich. Passen Sie auf, daß Ihre eigenen Hände nicht dabei erfrieren. Sie müssen schon unempfindlich geworden sein, danach zu urteilen, wie Sie jetzt herumfummeln.«

 

Er zog sich die Handschuhe wieder an, und fast eine Minute lang schlug er aus aller Kraft die Hände gegen seine Seiten. Als er das Blut prickeln spürte, zog er die Handschuhe wieder aus und zerrte und riß, schnitt und sägte mit dem Messer an den gefrorenen Bekleidungsgegenständen Joys herum. Endlich kam die weiße Haut des einen Fußes zum Vorschein, dann die des andern, um der eisigen Kälte von siebzig Grad Fahrenheit unter Null ausgesetzt zu werden.

 

Dann wurden beide Füße mit Schnee gerieben, und zwar mit rücksichtsloser Kraft, bis Joy sich schließlich krümmte und wand und ihre Zehen bewegte, während sie glücklich klagte, daß es wieder weh tat. Halb zog er sie, halb schob sie selbst sich näher an das Feuer heran. Dann legte er ihre Füße auf eine Decke, ganz nahe an die heilbringenden Flammen. »Sie müssen noch eine Weile gut achtgeben«, sagte er.

 

Jetzt konnte sie auch ohne Gefahr ihre Fäustlinge ausziehen und sich selbst die Füße reiben, und das tat sie mit der Klugheit der Erfahrung, indem sie Sorge trug, daß die Hitze des Feuers nur langsam wirken konnte. Während sie das tat, nahm Kid seine eigenen Hände in Arbeit. Der Schnee schmolz weder, noch wurde er weich. Die feinen Kristalle waren wie ebenso viele Sandkörner.

 

Nur langsam begann das Stechen und Klopfen des Blutumlaufs in das erfrorene Fleisch zurückzukehren. Dann schürte Kid das Feuer, nahm Joy das leichte Bündel vom Rücken und holte eine ganz neue Garnitur Fußbekleidung heraus.

 

Kurz kehrte jetzt das Flußbett entlang zurück und kletterte den Uferhang herauf.

 

»Ich glaube sicher, daß ich gut tausend Fuß abgesteckt habe«, berichtete er. »Nummer siebenundzwanzig und achtundzwanzig, obgleich ich bei Nummer siebenundzwanzig nur den oberen Pfahl eingesteckt hatte, als ich schon den ersten von der ganzen Bande hinter uns traf. Er sagte mir direkt, daß ich Nummer achtundzwanzig nicht abstecken dürfe. Und ich erzählte ihm…«

 

»Ach ja, was sagten Sie ihm?« rief Joy eifrig.

 

»Ich erzählte ihm direkt, daß ich, wenn er nicht schleunigst fünfhundert Meter weiter hinaufginge, seine erfrorene Nase so lange bearbeiten würde, bis sie zu Vanilleeis mit Schokoladensoße geworden wäre. Da riß er aus, und ich habe zwei Claims von genau je fünfhundert Fuß abgezeichnet. Er steckte das nächste Claim ab, und ich denke, daß die übrige Rasselbande den ganzen Bach bis zu den Quellen und weiter auf der andern Seite abgesteckt hat. Unsere Claims sind jedenfalls gesichert. Es ist jetzt so dunkel, daß man nichts sehen kann, aber wir können die Eckpflöcke morgen stecken.«

 

Als sie am nächsten Morgen aufwachten, stellten sie fest, daß das Wetter während der Nacht völlig umgeschlagen war. Es war jetzt so milde, daß Kurz und Kid, während sie noch in ihren gemeinsamen Decken lagen, die Temperatur auf nur zwanzig Grad unter Null einschätzten. Die schlimmste Kälte schien überstanden. Auf ihren Decken lagen die glitzernden Eiskristalle sechs Zoll hoch.

 

»Guten Morgen! Wie geht es mit Ihren Füßen?« begrüßte Kid Joy Gastell über das Feuer hinweg, als sie den Schnee abschüttelte und sich in ihrem Schlafsack aufrichtete.

 

Kurz machte ein neues Feuer an und holte Eis vom Bach. Kid bereitete das Frühstück. Als sie die Mahlzeit beendet hatten, war es hell geworden.

 

»Jetzt kannst du gehen und die Eckpflöcke stecken«, sagte Kurz. »Dort, wo ich vorhin Eis zum Kaffee holte, hab‘ ich Kies gesehen, und jetzt werde ich mal – nur so zum Spaß – etwas Wasser machen und eine Pfanne von dem Kies auswaschen.«

 

Kid entfernte sich mit der Axt in der Hand, um die Pfähle zu stecken. Er begann seinen Rundgang von dem Pfahl von Nummer siebenundzwanzig unterhalb des Flusses und ging dann im rechten Winkel durch das kleine Tal bis zu dessen Rand. Er tat es methodisch, fast automatisch, denn sein Gehirn beschäftigte sich mit Erinnerungen an den vorhergehenden Abend. Er hatte irgendwie das Gefühl, die Herrschaft über die feinen Linien und festen Muskeln dieser Füße und Fesseln errungen zu haben, die er mit Schnee gerieben hatte, und ihm schien, daß diese Herrschaft sich auf die ganze Frau erstreckte. Unklar und doch heftig quälte ihn das Gefühl, daß ihm dies alles gehörte. Es kam ihm vor, als brauchte er nur zu Joy Gastell zu gehen, ihre Hände zu nehmen und ihr zu sagen: »Komm.«

 

Als er in diesem Zustand herumging, machte er eine Entdeckung, die ihn die Herrschaft über die weißen Füße einer Frau gründlich vergessen ließ. Am Rande des Tales steckte er keinen Eckpfahl ab. Er kam überhaupt gar nicht bis zum Rand des Tales, sondern sah sich statt dessen einem andern Bach gegenüber. Er merkte sich dort eine Wiese, die schon abgesteckt war, und eine große, leicht zu erkennende Fichte. Dann ging er zu der Stelle am Bach zurück, wo die Pfähle standen. Er folgte dem Bachbett, umging die Ebene in einem hufeisenförmigen Bogen und stellte dabei fest, daß es sich nur um einen einzigen Bach, nicht um zwei Wasserläufe handelte. Dann watete er zweimal von einem Ende des Tales bis zum andern durch den tiefen Schnee – das erste Mal ging er von dem unteren Pfahl im Claim siebenundzwanzig aus, das zweite Mal vom oberen Pfahl in Nummer achtundzwanzig und entdeckte dabei, daß der obere Pfahl dieses Claims unterhalb des unteren im ersten Claim stand. In der grauen Dämmerung des gestrigen Abends, als es schon fast dunkel gewesen war, hatte Kurz beide Claims innerhalb des Hufeisens abgezeichnet.

 

Kid trottete zu dem kleinen Lager zurück. Kurz hatte soeben das Waschen des Kieses in seiner Pfanne beendet und konnte sich nicht länger halten, als er ihn sah:

 

»Jetzt haben wir’s geschafft!« brüllte er und hielt die Pfanne hoch. »Schau nur her! Eine saubere Portion Gold! Zweihundert Dollar auf den Tisch des Hauses, wenn ich mich nicht irre. Gold hat der Bach also genug schon im Waschkies. Ich habe viele Goldminen in meinem Leben gesehen, aber solche Butter, wie die hier, hatte ich noch nie in der Pfanne.«

 

Kid warf einen gleichgültigen Blick auf das rohe Gold, goß sich dann eine Tasse Kaffee ein und setzte sich. Joy merkte, daß irgend etwas nicht stimmte, und sah ihn mit fragenden und besorgten Augen an.

 

Kurz war dagegen tief entrüstet, daß sein Kamerad so gleichgültig schien.

 

»Warum guckst du nicht her und kommst ganz aus dem Häuschen vor Freude?« fragte er empört. »Wir haben hier ein hübsches kleines Vermögen, wenn du nicht deine edle Nase über Pfannen mit zweihundert Dollar rümpfst.«

 

Kid nahm einen Schluck Kaffee, bevor er antwortete. »Sag mal, Kurz, warum haben unsere beiden Felder solche Ähnlichkeit mit dem Panamakanal?«

 

»Was meinst du damit?«

 

»Nun, die östliche Einfahrt zum Kanal liegt westlich von der westlichen – das ist alles.«

 

»Red schon weiter«, sagte Kurz. »Ich verstehe den Witz nicht.«

 

»Um es kurz zu sagen, du hast unsere beiden Felder in einem großen hufeisenförmigen Bogen abgezeichnet…«

 

Kurz setzte die Pfanne mit dem Gold in den Schnee und stand auf. »Weiter…«, wiederholte er.

 

»Der obere Pfahl von achtundzwanzig steht zehn Fuß unterhalb dem von siebenundzwanzig.«

 

»Du meinst, daß wir nichts gekriegt haben, Kid?«

 

»Schlimmer noch: wir haben zehn Fuß weniger als gar nichts bekommen.«

 

Kurz lief wie der Blitz zum Ufer hinab. Fünf Minuten später war er schon wieder da. Auf Joys fragenden Blick hin nickte er. Ohne ein Wort zu sagen, ging er zu einem Baumstamm und setzte sich. Dann starrte er in den Schnee vor sich hin.

 

»Wir können ebensogut das Lager abbrechen und nach Dawson zurückwandern«, sagte Kid und begann die Decken zusammenzulegen.

 

»Es tut mir leid, Kid«, sagte Joy. »Ich bin ja an allem schuld.«

 

»Es ist alles gut«, sagte er. »So etwas kann alle Tage passieren, wissen Sie.«

 

»Es ist meine Schuld, nur meine Schuld«, wiederholte sie hartnäckig. »Aber Papa hat für mich ein Claim beim Finderclaim abgesteckt, wie Sie ja wissen. Ich überlasse Ihnen meinen.«

 

Er schüttelte den Kopf.

 

»Kurz?« bat sie.

 

Kurz schüttelte den Kopf und begann zu lachen. Es war ein ungeheures Gelächter. Das Kichern und Prusten wurde allmählich zu einem Gebrüll, das aus übervollem Herzen kam. »Ich bin nicht etwa hysterisch geworden«, sagte er. »Zuweilen finde ich die ganze Welt so verdammt komisch, und jetzt eben geht es mir so.«

 

Sein Blick fiel zufällig auf die Pfanne mit dem Gold. Er ging hinüber und gab ihr feierlich einen Fußtritt, daß das ganze Gold in den Schnee flog.

 

»Es gehört ja nicht uns«, sagte er. »Es gehört dem Idioten, den ich heut nacht fünfhundert Fuß weiter hinaufjagte. Mich ärgert dabei nur, daß es genau vierhundertneunzig Fuß zuviel waren – zu seinen Gunsten! Komm jetzt, Kid! Wir gehen nach Dawson zurück. Und wenn du Lust hast, mich totzuschlagen, kannst du es tun – ich werde keine Hand rühren.«