Kapitel 2

 

Fast ununterbrochen stürmte es, während Kid mühselig gegen den Wind nach dem Strande ankämpfte. In der grauen Morgendämmerung sah er einige Männer im Begriff, ein halbes Dutzend Boote mit den kostbaren Ausrüstungen, die über den Chilcoot getragen worden waren, zu beladen. Es waren nur schwerfällige, selbstgebaute Boote, von Männern zusammengezimmert, die keine Schiffsbauer waren und rohe Planken verwendet hatten, welche sie selbst mit eigenen Händen aus frischen, geschälten Baumstämmen gesägt hatten. Ein fertig beladenes Boot war schon zur Abfahrt bereit, und Kid blieb stehen, um sich die Sache anzusehen.

 

Der Wind, der auf dem See günstig war, wehte hier gerade gegen das Ufer und peitschte das Wasser der seichten Pfützen zu schmutzigen Spritzern. Die Männer, die zu dem abfahrenden Boot gehörten, schoben es, in hohen Gummistiefeln watend, in das tiefere Wasser. Zweimal taten sie das. Dann kletterten sie schwerfällig hinein. Da sie aber nicht mit den Riemen umzugehen verstanden, wurde das Boot wieder an den Strand getrieben und stieß auf. Kid bemerkte, daß die Schaumspritzer an den Seiten des Bootes fast sofort zu Eis wurden. Der dritte Versuch führte immerhin zu einem Teilerfolg. Die beiden Männer, die zuletzt ins Boot kletterten, waren bis zum Leib durchnäßt, aber das Boot war jetzt jedenfalls flott. Sie arbeiteten ungeschickt mit den schweren Riemen, und langsam gelang es ihnen, von der Küste abzukommen.

 

Dann setzten sie ein Segel, das aus Bettdecken zusammengenäht war; aber ein einziger Windstoß zerriß es, und sie wurden zum drittenmal an die Küste getrieben.

 

Kid lachte vor sich hin und ging weiter. Alles das würde ihm vielleicht selbst bald passieren, denn auch er sollte – in seiner neuen Rolle als Angestellter eines feinen Herrn – in den nächsten Stunden in einem ähnlichen Boot von derselben Küste abfahren.

 

Rings wurde mit der Kraft der Verzweiflung gearbeitet, denn der Winter mit seinem Eis stand vor der Tür. Es war deshalb das reine Hasardspiel, ob es ihnen gelingen würde, die große Kette von Seen zu durchqueren, bevor alles zufror. Als Kid das Zelt der Herren Sprague und Stine oben erreichte, war hier dennoch kein Anzeichen von Eifer und Arbeit zu bemerken.

 

Am Feuer, im Schutz einer Persenning, saß ein kleiner vierschrötiger Mann und rauchte behaglich eine Zigarette aus Packpapier.

 

»Hallo«, sagte er, »Sie sind wohl der neue Mann von Herrn Sprague?«

 

Kid nickte zur Bestätigung, hatte aber gleichzeitig das Gefühl, daß der andere absichtlich die Worte »Herr« und »Mann« besonders betont hatte. Er war auch überzeugt, eine Andeutung von Blinzeln in den Augen des andern bemerkt zu haben.

 

»Na, und ich bin der Mann von Doktor Stine«, fuhr der Fremde fort. »Ich bin nur fünf Fuß und zwei Zoll lang, und ich heiße Kurz, Abkürzung von Jack Kurz, und manchmal heiße ich auch „Hansdampf in allen Gassen“.«

 

Kid reichte ihm die Hand.

 

»Bist du mit Bärenfleisch aufgezogen worden?« fragte er.

 

»Todsicher«, antwortete der andere, »wenn mein erstes Frühstück, soweit ich mich entsinne, auch aus Büffelmilch bestand. Setz dich her und steck dir was ins Gesicht. Die Chefs pennen noch.«

 

Obgleich Kid schon einmal gefrühstückt hatte, setzte er sich doch hinter die Persenning und verzehrte sein zweites Frühstück mit dreifachem Appetit. Die schwere Arbeit, die seinen ganzen Körper gereinigt hatte, hatte ihm auch den Magen und den Hunger eines Wolfs geschenkt. Er konnte essen, was und soviel es sein sollte, und fand dabei gar keine Gelegenheit zu merken, daß er eine sogenannte Verdauung besaß. Er stellte fest, daß Kurz eine ebenso beredte wie pessimistische Persönlichkeit war, und er erhielt von ihm nicht nur etliche ziemlich überraschende Auskünfte über ihre beiden Chefs, sondern auch einige düstere Prophezeiungen in bezug auf ihr Unternehmen. Thomas Stanley Sprague war angehender Mineningenieur und Sohn eines Millionärs. Doktor Adolphe Stine war ebenfalls der Sohn eines wohlhabenden Vaters. Mit Hilfe der beiden Väter war es ihnen gelungen, eine Gesellschaft zu gründen, die ihr Klondike-Abenteuer finanzierte.

 

»Sie sind einfach aus lauter Moneten gemacht«, erklärte Kurz. »Als sie in Dyea landeten, betrug der Frachtpreis schon siebzig Cent, doch es gab keine Indianer. Es gab aber eine Gesellschaft aus Oregon, richtiggehende Minenarbeiter – die hatten das Schwein gehabt, ein Gespann von Indianern für siebzig Cent zusammenzubringen. Die Indianer hatten schon die Traggurte angelegt – die Ausrüstung wog alles in allem dreitausend Pfund -, als Sprague und Stine ankamen. Die boten den Indianern achtzig und neunzig Cent, und als sie auf einen Dollar gekommen waren, sprangen die Indianer von ihrem Vertrag ab und ließen die dreitausend Pfund der Minenarbeiter liegen. Sprague und Stine sind also durchgekommen, mußten aber den Spaß mit dreitausend Dollar bezahlen. Und die Leute aus Oregon liegen noch heute am Strand. Sie werden erst nächstes Jahr weiterkommen.

 

O ja, es sind ein paar richtige Biester, dein Chef und meiner auch. Wenn es heißt, mit Geld um sich zu schmeißen oder andern Leuten auf die Zehen zu treten, dann sind sie tüchtig. Was haben sie zum Beispiel gemacht, als sie an den Linderman kamen? Die Zimmerleute waren eben dabei, ein Boot zu bauen, das sie vertraglich verpflichtet waren, einer Gesellschaft aus San Franzisko für sechshundert Dollar zu liefern. Sprague und Stine boten ihnen einen runden Tausender, und auch die sprangen dann aus ihrem Vertrag. Das Boot sieht ganz gut aus, aber die andere Gesellschaft ging dadurch kaputt. Jetzt hat sie ihre Ausrüstung hier liegen, aber kein Boot, um sie weiterzuschaffen. Und sie muß die Weiterfahrt nun auch aufs nächste Jahr verschieben.

 

Na, nimm noch ’n Pott Kaffee und laß mich dir sagen, daß ich nichts mit den Biestern zu tun haben möchte, wenn ich nicht um jeden Preis nach Klondike wollte. Sie haben das Herz nicht auf dem rechten Fleck. Sie würden den Trauerflor vom Sarg wegnehmen, wenn es ihrem Geschäft nützen täte. Hast du ’n Vertrag unterschrieben?«

 

»Sie haben versprochen…«, begann Kid.

 

»Mündlich, jawohl«, unterbrach Kurz ihn. »Da steht also nur dein Wort gegen das ihrige, das ist alles. Na, in Gottes Namen! Wie heißt du übrigens, Kamerad?«

 

»Kannst mich Kid nennen, Alaska-Kid.«

 

»Schön, also Kid – du wirst schon deinen Ärger kriegen mit deinem mündlichen Vertrag. Jetzt sollst du mal ein Beispiel hören, was du von ihnen zu erwarten hast. Mit dem Geld können sie um sich schmeißen, aber arbeiten können sie nicht. Auch nicht morgens aus der Falle kriechen. Wir hätten schon vor einer Stunde laden und abfahren sollen. Du und ich, wir müssen die ganze verfluchte Schufterei allein besorgen. Jetzt wirst du sie bald nach Kaffee brüllen hören – vom Bett aus natürlich, weißt du, und dabei sind sie doch erwachsene Männer. Was verstehst du übrigens vom Segeln auf dem Wasser? Ich bin ein alter Viehzüchter und Goldsucher, aber auf dem Wasser bin ich der reine Grünschnabel, und die beiden da haben auch keinen Schimmer. Was weißt du denn?«

 

»Einen Dreck weiß ich«, antwortete Kid und schmiegte sich enger an die Persenning, als ein starker Windstoß den Schnee aufwirbelte. »Seit meiner Kindheit bin ich in keinem Boot gewesen. Aber ich denke, wir werden es schon lernen.«

 

Ein Zipfel der Zeltbahn riß sich los, und Kid bekam eine tüchtige Portion Schnee in den Kragen.

 

»Ja, lernen können wir es schon«, knurrte er mürrisch.

 

»Natürlich können wir es lernen. Lernen kann jedes Wickelkind. Aber ich halte Dollars gegen Pfeffernüsse, daß wir heute nicht von hier wegkommen.«

 

Es war schon acht Uhr geworden, als eine Stimme aus dem Zelt nach Kaffee rief, und es wurde neun, ehe die beiden Unternehmer auftauchten.

 

»Hören Sie«, sagte Sprague, ein gutgenährter, rotwangiger junger Mann von fünfundzwanzig Jahren, »es ist Zeit, daß wir abfahren, Kurz. Sie und…«, bei diesen Worten schaute er Kid fragend an, »… ich habe Ihren Namen gestern abend nicht recht verstanden.«

 

»Kid.«

 

»Gut, Kurz, Sie und Herr Kid machen sich jetzt wohl daran, das Boot zu beladen.«

 

»Nur Kid – lassen Sie das „Herr“ ruhig fort«, schlug Kid vor.

 

Sprague nickte kurz und verschwand zwischen den Zelten. Doktor Stine, ein hagerer, bleicher junger Mann, folgte ihm.

 

Kurz sah seinen Kameraden vielsagend an.

 

»Mehr als anderthalb Tonnen, und die rühren keine Hand dabei.«

 

»Vermutlich werden wir bezahlt, um die Arbeit zu tun«, antwortete Kid gut gelaunt. »Und wir können ebensogut gleich damit anfangen.«

 

Es ist durchaus kein Spaß, dreitausend Pfund hundert Schritt weit auf den Schultern schleppen zu müssen. Da es außerdem stürmte und die beiden in schweren Gummistiefeln durch den Schnee waten mußten, wurden sie ganz erschöpft. Dann mußten sie auch noch das Zelt abbrechen und das Lagergerät verpacken. Hierauf blieb noch das Verstauen der ganzen Ausrüstung im Boot übrig. Und da es dabei immer tiefer sackte, mußten sie es immer weiter in das Wasser hinausschieben und auch eine immer weitere Strecke waten. Gegen zwei Uhr war die Arbeit vollbracht, und Kid war völlig zermürbt vom Hunger, obgleich er zweimal gefrühstückt hatte. Die Knie zitterten ihm. Kurz, der sich in einem ähnlichen Zustand befand, wühlte in den Töpfen und Pfannen, bis er eine große Büchse fand, in der kalte gekochte Bohnen mit großen Happen Räucherspeck aufbewahrt waren. Sie hatten nur einen einzigen Löffel mit einem langen Stiel, und den tauchten sie jetzt abwechselnd in die Büchse.

 

Kid war vollkommen überzeugt, noch nie in seinem Leben etwas gegessen zu haben, das ihm so herrlich geschmeckt hatte.

 

»Großer Gott«, murmelte er zwischen zwei Bissen, »ich habe noch nie so einen Appetit gehabt wie auf dieser Reise.«

 

Während sie sich noch dieser angenehmen Tätigkeit hingaben, erschienen Sprague und Stine.

 

»Worauf warten wir denn?« murrte Sprague. »Sollen wir denn nie von hier fort?«

 

Kurz war gerade an der Reihe; er tauchte den Löffel in die Büchse und gab ihn dann Kid zurück. Und keiner von ihnen sagte ein Wort, ehe sie die Büchse ausgekratzt hatten.

 

»Natürlich haben wir gar nichts getan«, sagte Kurz, während er seinen Mund mit dem Handrücken abwischte. »Wir haben nicht das geringste getan. Und Sie haben natürlich auch nichts zu essen gekriegt. Es war wirklich sehr nachlässig von mir.«

 

»Ja doch«, sagte Stine schnell. »Wir aßen in einem andern Zelt – bei einigen Freunden.«

 

»Hab‘ ich mir gedacht«, grunzte Kurz.

 

»Aber jetzt sind Sie ja fertig, da können wir vielleicht abfahren«, schlug Sprague vor.

 

»Da ist das Boot«, sagte Kurz. »Beladen ist es schon. Aber wie haben Sie sich eigentlich gedacht, daß wir damit wegkommen sollen?«

 

»Wir klettern hinein und stoßen ab. Kommen Sie.« Sie wateten alle ins Wasser, und die Chefs kletterten an Bord, während Kid und Kurz das Boot vom Ufer abschoben. Als die Wellen den oberen Rand ihrer hohen Stiefel erreichten, kletterten auch sie ins Boot. Aber die beiden andern hatten natürlich ihre Riemen nicht bereit, und deshalb wurde das Boot zurückgetrieben und saß gleich wieder fest. Mit einer ungeheuren Kraftverschwendung wiederholten sie das Manöver ein dutzendmal.

 

Kurz setzte sich verzweifelt auf den Dollbord, nahm einen soliden Priem und rief das Weltall zum Zeugen ihres Elends an, während Kid das Wasser aus dem Boot schöpfte und die beiden Chefs unfreundliche Bemerkungen untereinander austauschten.

 

»Wenn ihr meinen Befehlen gehorchen wollt, werde ich das Boot schon klarmachen«, sagte Sprague schließlich.

 

Der Versuch war gut gemeint, ehe es ihm aber gelang, ins Boot zu klettern, war er bis zum Gürtel durchnäßt.

 

»Wir werden ins Lager zurückkehren und Feuer machen«, sagte er, als das Boot wieder festsaß. »Mich friert.«

 

»Sei doch nicht wasserscheu«, schalt Stine. »Andere Leute sind heute auch schon abgefahren und waren nasser als du. Jetzt will ich es euch zeigen.«

 

Diesmal war er es, der naß wurde und mit klappernden Zähnen erklärte, daß er ein Feuer nötig hätte.

 

»Ein paar Spritzer wie da haben nichts zu sagen«, rief Sprague höhnisch. Auch ihm klapperten freilich die Zähne im Munde. »Wir wollen weiter.«

 

»Kurz, sehen Sie nach, wo mein Kleidersack steckt, und machen Sie dann ein Feuer«, befahl der andere.

 

»Sie wagen es nicht!« rief Sprague.

 

Kurz sah von einem zum andern und spuckte aus, rührte sich aber nicht.

 

»Er ist mein Angestellter, und ich denke, daß er meinen Befehlen gehorchen wird«, antwortete Stine. »Kurz, schaffen Sie meinen Sack an Land.«

 

Kurz gehorchte, während Sprague zitternd vor Kälte im Boot blieb. Da Kid keinen Befehl erhalten hatte, blieb er ruhig sitzen. Er war zufrieden, daß er sich einen Augenblick ausruhen konnte.

 

»Ein Boot, das auseinanderfällt, kann nicht schwimmen«, murmelte er vor sich hin.

 

»Was wollen Sie damit sagen?« schnauzte Sprague ihn an.

 

»Ich hielt Selbstgespräche, eine liebe alte Gewohnheit«, antwortete Kid.

 

Sein Unternehmer beehrte ihn mit einem barschen Blick und schmollte weiter. Nach einigen Minuten gab er jedoch nach.

 

»Suchen Sie meinen Sack heraus, Kid«, befahl er, »und helfen Sie beim Feuermachen. Wir fahren erst morgen früh ab.«

 

 

 

Am nächsten Tage stürmte es immer noch. Der Linderman-See war eigentlich nur eine enge, mit Wasser gefüllte Schlucht. Der Wind, der von den Bergen herab in diesen Trichter wehte, war sehr unregelmäßig. Bald kam er in heftigen und stürmischen Stößen, bald besänftigte er sich und wurde zu einer leichten Brise.

 

»Wenn Sie die Sache mir überlassen, glaube ich, daß ich es schaffe«, sagte Kid, als wieder alles zur Abfahrt bereit war.

 

»Was verstehen Sie denn davon?« kläffte Stine ihn an.

 

»Nichts verstehe ich«, antwortete Kid und setzte sich wieder.

 

Es war das erste Mal, daß er für Lohn arbeitete, aber er war schon auf dem besten Wege, die notwendige Unterordnung zu lernen. Gehorsam und liebenswürdig hatte er sich an den vergeblichen Versuchen, vom Ufer abzukommen, beteiligt.

 

»Wie würden Sie es denn machen?« fragte Sprague schließlich, halb seufzend, halb klagend.

 

»Ich würde mich ruhig hinsetzen und warten, bis der Sturm für eine Weile nachläßt, und dann aus allen Kräften losschieben.«

 

So einfach war seine Idee, aber er war doch der erste, der darauf kam. Und gleich das erste Mal, als sie seine Methode versuchten, hatten sie Erfolg. Dann hißten sie eine Decke als Segel und glitten auf den See hinaus. Stine und Sprague gerieten gleich in eine bessere Stimmung. Kurz war trotz seines Pessimismus sowieso immer gut aufgelegt, und Kid interessierte sich zu sehr für die ganze Sache, um schlechter Laune sein zu können. Sprague quälte sich eine Viertelstunde mit der Ruderpinne ab, dann sah er Kid ermunternd an, bis er ihn ablöste.

 

»Meine Arme sind wie zerbrochen, so schwer ist es«, murmelte Sprague, wie um sich zu entschuldigen.

 

»Sie haben wohl nie Bärenfleisch gegessen?« fragte Kid liebenswürdig.

 

»Was, zum Teufel, meinen Sie damit?«

 

»Gar nichts – ich fragte nur.«

 

Aber hinter dem Rücken der beiden Chefs erwischte Kid ein verständnisvolles Grinsen von Kurz, der den tieferen Sinn des Gleichnisses verstanden hatte.

 

Kid steuerte das Boot durch den ganzen Linderman-See und erwies sich dabei als so tüchtig, daß die beiden jungen Männer, die ebensoviel Geld wie Unlust zur Arbeit hatten, ihn einstimmig zum Steuermann ernannten. Kurz war nicht weniger zufrieden damit und überließ die Bootsarbeit gern dem andern, während er selbst freiwillig das Kochen übernahm. Zwischen dem Linderman- und dem Bennet-See kam eine Strecke, wo die Ausrüstung wieder getragen werden mußte. Nachdem sie den größten Teil gelöscht hatten, wurde das Boot den engen, aber reißenden Strom hinabgelotst, und bei dieser Gelegenheit erweiterte Kid sein Wissen von Wasser und Booten um ein Bedeutendes. Als sie aber die Ausrüstung tragen sollten, verschwanden Sprague und Stine spurlos, und die beiden Männer schufteten zwei Tage lang wie nie zuvor, um das ganze Gepäck zur neuen Ladestelle zu schaffen. Und dasselbe wiederholte sich ein Mal über das andere. Kid und Kurz arbeiteten bis zur völligen Erschöpfung, während ihre Herren und Meister sich regelmäßig drückten und auch noch Bedienung von ihnen verlangten.

 

Aber der unerbittliche arktische Winter rückte immer näher, und immer wieder wurden sie von allen möglichen Verzögerungen, die sehr gut zu vermeiden gewesen wären, zurückgehalten. Als sie am »Windigen Arm« waren, nahm Stine eigenmächtig Kid die Ruderpinne aus der Hand, und es dauerte keine Stunde, so war es ihm schon gelungen, das Boot gegen das sturmgepeitschte Felsufer zu fahren, so daß es schwere Schäden erlitt.

 

Die Reparatur kostete sie zwei Tage. Als sie dann wieder am Morgen abfahren sollten und an den Strand hinunterkamen, sahen sie, daß am Bug und Heck des Bootes mit Holzkohle in großen Buchstaben ein böses Wort geschrieben war: Chechaquo.

 

Kid amüsierte sich über den boshaften Bootsnamen, der hier so außerordentlich passend erschien.

 

»Aber hören Sie mal!« sagte Kurz, als Stine ihn beschuldigte, das verbrecherische Wort geschrieben zu haben. »Lesen kann ich freilich und auch zur Not buchstabieren, und ich weiß sogar, daß Chechaquo „Grünschnabel“ bedeutet, aber meine Erziehung ist doch noch nicht so weit gediehen, daß ich so ein verfluchtes schweres Wort schreiben könnte.«

 

Beide Unternehmer sandten Kid durchbohrende Blicke, denn die Beleidigung saß. Und Kid hielt es nicht für nötig, zu erwähnen, daß Kurz ihn letzte Nacht gefragt hatte, wie eben dieses Wort buchstabiert würde.

 

»Das ist wenigstens ebenso schlimm wie deine Frage nach dem Bärenfleisch«, vertraute Kurz ihm später am Tage an.

 

Kid lachte. Während er immer wieder neue Fähigkeiten an sich selbst feststellte, gefielen ihm gleichzeitig die beiden Chefs immer weniger. Es war eigentlich nicht so sehr Ärger – den hatte er anfangs empfunden – wie Widerwillen. Er hatte selbst Bärenfleisch gekostet, und es schmeckte ihm herrlich, die beiden aber zeigten ihm, wie man es nie essen durfte. In seinem Herzen dankte er Gott, daß er nicht so geschaffen war wie sie. Er faßte einen Widerwillen gegen sie, der fast an Haß grenzte. Ihre Faulheit reizte ihn aber weniger als ihre hoffnungslose Unfähigkeit. Irgendwo tief in ihm wollte sich die Art des alten Isaac Bellew und all der andern abgehärteten Bellews durchsetzen.

 

»Du, Kurz«, sagte er eines Tages, als sie wieder wie gewöhnlich die Abfahrt verschoben hatten. »Weißt du, die beiden sind keine Liebhaber von Bärenfleisch. Ich möchte ihnen am liebsten eins mit dem Riemen über den Kopf versetzen und sie in den Fluß schmeißen.«

 

»Geht mir genauso«, stimmte Kurz ihm bei. »Sie sind keine Fleischesser. Richtige Fischfresser sind sie. Und es ist gar kein Zweifel, daß sie stinken.«

 

Endlich erreichten sie die Stromschnellen. Zuerst den »Büchsen-Cañon« und dann, einige Meilen weiter abwärts, das »Weiße Roß«. Der Büchsen-Cañon entsprach völlig seinem Namen. Er war eine Büchse, in der man fast steckenblieb, wenn man erst einmal hineingekommen war – eine richtige Falle. Wollte man wieder heraus, so mußte man durch den Boden hindurch. Zu beiden Seiten standen senkrechte Felswände. Der Fluß schrumpfte zu einem Bruchteil seiner bisherigen Breite ein und stürzte brüllend und mit einer so wahnsinnigen Schnelligkeit durch diesen dunklen Schacht, daß das Wasser in der Mitte zu einem Kamm schwoll, der gut acht Fuß höher war als das Wasser an den Felswänden. Und dieser Kamm war wieder von steifen, aufrechten Wellen gekrönt, die sich über ihm kräuselten, aber unveränderlich an ihrem Platze blieben. Dieser Cañon war sehr gefürchtet, denn er hatte seinen Todeszoll von den durchfahrenden Goldsuchern erhoben.

 

Kid und seine Begleiter legten am oberen Ufer bei, wo sie bereits eine Menge anderer Boote trafen, die dort in Ängsten warteten. Zu Fuß begaben sie sich dann weiter, um die Verhältnisse an Ort und Stelle nachzuprüfen. Sie krochen bis an den Rand des Cañons und blickten in das wirbelnde Wasser hinunter. Sprague zog sich schaudernd zurück.

 

»Mein Gott!« rief er. »Ein Schwimmer hätte nicht die geringste Chance dort unten.«

 

Kurz gab Kid einen leisen Stoß mit dem Ellbogen und flüsterte ihm zu: »Er hat schon kalte Füße. Ich halte Dollars gegen Pfeffernüsse, daß sie nicht mitfahren.«

 

Kid hörte kaum, was er sagte. Von Anfang der Reise an hatte er sich bemüht, die Hartnäckigkeit und unfaßbare Böswilligkeit der Elemente zu erforschen, und der flüchtige Eindruck, den er jetzt gewann, als er dort hinabblickte, erschien ihm als eine Herausforderung.

 

»Wir müssen auf dem Kamm reiten«, sagte er. »Wenn wir nicht auf ihm hängenbleiben, schleudert die Flut uns gegen die Wände.«

 

»Und wir werden nie erfahren, was mit uns geschah«, lautete Kurz‘ Urteil.

 

»Kannst du schwimmen, Kid?«

 

»Wenn es uns dort unten schiefgeht, möchte ich es lieber nicht können.«

 

»Dasselbe sag‘ ich«, erklärte schwermütig ein Fremder, der neben ihnen stand und in den Cañon hinunterstarrte. »Und ich wünschte, ich wäre schon durch.«

 

»Ich würde meine Chance, durchzukommen, nicht verkaufen«, antwortete Kid.

 

Er meinte es aufrichtig, sagte es aber eigentlich nur, um dem Mann Mut zu machen. Er schickte sich an, nach dem Boot zurückzukehren.

 

»Wollen Sie es versuchen?« fragte der Mann.

 

Kid nickte.

 

»Ich möchte, ich hätte auch den Mut«, gestand der andere. »Ich bin schon seit einigen Stunden hier. Je länger ich hinuntergucke, um so mehr Angst bekomme ich. Ich habe nie etwas mit Booten zu tun gehabt, und außerdem habe ich nur meinen Neffen, der ein junger Bursche ist, und meine Frau mit. Wenn Sie heil durchgekommen sind, wollen Sie dann auch mein Boot durch den Cañon lotsen?«

 

Kid sah Kurz an, der mit der Antwort zögerte.

 

»Er hat seine Frau mit«, sagte Kid, um Eindruck zu machen. Er hatte sich auch nicht in seinem Kameraden geirrt.

 

»Selbstverständlich«, sagte Kurz. »Ich zögerte eben, weil ich daran dachte. Ich wußte, daß es einen Grund gab, weshalb wir es tun müssen.«

 

Wieder schickten sie sich an weiterzugehen, aber Sprague und Stine rührten sich nicht vom Fleck.

 

»Glückliche Fahrt!« rief Sprague Kid nach. »Ich werde… werde…«, er zögerte einen Augenblick, »ich werde hier stehenbleiben und zusehen, wie es Ihnen geht.«

 

»Wir brauchen drei Mann im Boot, zwei an den Riemen und einen im Ruder«, sagte Kid ruhig.

 

Sprague warf Stine einen Blick zu.

 

»Fällt mir nicht im Traum ein«, erklärte dieser Herr. »Wenn Herr Sprague sich nicht fürchtet, hier stehenzubleiben und zuzugucken, tue ich es auch nicht.«

 

»Wer fürchtet sich?« fragte Sprague erregt.

 

Stine antwortete ihm im selben Ton, und als ihre Leute sie verließen, zankten sich die beiden Chefs aus Leibeskräften.

 

»Wir kommen schon ohne sie durch«, sagte Kid zu Kurz. »Du setzt dich vorn mit einem Riemen hin, und ich nehme das Ruder. Alles, was du tun kannst, ist, das Boot geradeaus zu halten. Wenn wir erst losgehen, wirst du nicht mehr hören können, was ich dir sage. Aber du sollst immer nur das Boot gerade voraus halten.«

 

Sie machten das Boot flott und arbeiteten sich in die Mitte des reißenden Stromes hinaus. Aus dem Cañon ertönte ein Brüllen, das immer stärker wurde. Der Fluß war so glatt wie geschmolzenes Glas, bevor er in die Mündung des Cañons hineingezogen wurde, und Kurz benutzte die Gelegenheit, um einen Priem zu nehmen. Dann steckte er seinen Riemen ins Wasser. Das Boot sprang sofort in die gekräuselten Wellen auf dem Kamm. Der Lärm, der donnernd von den engen hohen Felswänden widerhallte, war so stark, daß sie nichts anderes mehr hören konnten. Sie erstickten fast, so heftig schlugen die fliegenden Schaumspritzer ihnen ins Gesicht. Es gab Augenblicke, da Kid seinen Kameraden vorn im Bug kaum sehen konnte. Die ganze Geschichte dauerte zwar nur zwei Minuten, aber in dieser kurzen Zeit durchsausten sie auf dem Rücken des Wellenkammes eine Strecke von dreiviertel Meilen. Als sie heil hindurchgeschlüpft waren, legten sie das Boot im stillen Wasser hinter dem Cañon bei.

 

Kurz, der während der Fahrt vergessen hatte zu spucken, entleerte jetzt seinen Mund vom Priemsaft und spie kräftig aus.

 

»Das nenne ich Bärenfleisch!« rief er begeistert. »Richtiges Bärenfleisch! Weißt du, da fehlte aber nicht viel, nicht wahr, Kid? Im Vertrauen kann ich dir ja ganz ruhig erzählen, daß ich, ehe wir losfuhren, die allerjämmerlichste, lausigste Memme diesseits der Rocky-Mountains war. Aber jetzt hab‘ ich Bärenfleisch gegessen. Und jetzt los, jetzt wollen wir das andere Boot durchbringen.«

 

Auf dem Rückwege zu Fuß trafen sie ihre beiden Unternehmer, die ihre wilde Fahrt von oben beobachtet hatten.

 

»Da kommen die Fischfresser«, sagte Kurz. »Wollen wir uns nicht lieber in Lee halten?«

 

 

 

Als sie das Boot des Fremden, der Breck hieß, durch den Cañon gelotst hatten, lernten sie auch seine Frau kennen. Es war eine schlanke, mädchenhafte Frau, deren blaue Augen mit Tränen der Dankbarkeit gefüllt waren. Breck selbst versuchte, Kid fünfzig Dollar in die Hand zu stecken, und als es mißlang, wiederholte er den Versuch bei Kurz.

 

»Fremder«, sagte der, als er das Geld ablehnte, »ich kam hierher, um Gold aus dem Boden zu kratzen, nicht um es meinen Kollegen aus der Tasche zu ziehen.«

 

Breck suchte in seinem Boot und holte eine Flasche mit Whisky hervor. Kurz streckte schon die Hand aus, um sie zu nehmen, zog sie aber plötzlich wieder zurück. Dabei schüttelte er den Kopf und sagte: »Wir haben noch dieses verdammte „Weiße Roß“ vor uns, und man sagt, daß es noch schlimmer ist als die „Büchse“. Ich glaube, es ist besser, wenn ich mir jetzt keinen Affen anschaffe.«

 

Einige Meilen weiter abwärts liefen sie wieder an den Strand und legten bei. Dann gingen sie alle vier weiter, um sich das gefährliche Gewässer anzusehen. Der Fluß, der hier lauter Stromschnellen bildete, wurde durch ein Felsriff nach rechts gezwungen. Die ganze Wassermasse wurde in einem scharfen Bogen in den engen Durchgang gedrückt, so daß die Strömung furchtbar gesteigert und der Fluß zu mächtigen Wogen gepeitscht wurde, die grimmig ihre weißen Schaumspritzer gegen den Himmel schleuderten. Das war die gefürchtete „Mähne“ des „Weißen Rosses“, und hier gab es noch eine reichere Todesernte. Auf der einen Seite der „Mähne“ war der Strom fast wie ein Korkenzieher, der teils emporschleuderte, teils hinabzog, auf der andern Seite der „Mähne“ befand sich ein großer Wirbel. Um durchzukommen, mußte man folglich auf der „Mähne“ selbst bleiben.

 

»Gegen dieses Aas ist der „Büchsen-Cañon“ ja die reine Sonntagsschule«, sagte Kurz schließlich.

 

Als sie noch dastanden und das Gewässer betrachteten, fuhr ein Boot in die erste Stromschnelle hinein. Es war ein großes Boot, gut dreißig Faden lang, mit mehreren Tonnen Ausrüstung und sechs Mann an Bord. Bevor es die „Mähne“ erreichte, tauchte es in die Wellen hinab und wurde dann wieder in die Luft geschleudert. Hin und wieder hüllten Schaum und Spritzer es vollständig ein, so daß es gar nicht mehr zu sehen war.

 

Kurz warf Kid einen langen Seitenblick zu und sagte: »Es saust tüchtig und hat dabei noch nicht mal die schlimmste Stelle erreicht. Jetzt holen sie die Riemen ein. Und jetzt sind sie mittendrin… Gott im Himmel… das Boot ist ja ganz weg! Nein, da ist es wieder…«

 

Trotz seiner Größe verschwand das Boot doch zuweilen ganz hinter dem Schaumwirbel der Wellenköpfe. Im nächsten Augenblick war es aber auf der „Mähne“, wurde von einem Wellenkamm hochgeschleudert und dadurch wieder sichtbar.

 

Zu seiner größten Verwunderung sah Kid den ganzen langen Boden des Bootes mit dem Kiel sich deutlich vom Hintergrund abzeichnen.

 

Einen Augenblick – den Bruchteil einer Sekunde nur – schwebte das Boot in der Luft, die Männer saßen untätig auf ihren Plätzen, nur der Mann achtern hielt die Ruderpinne umklammert. Dann stürzte es ins Wellental hinab und entschwand für eine Sekunde den Blicken der Zuschauer. Dreimal sprang das Boot in die Höhe, und dreimal vergrub es sich wieder in den Wogen, dann sah man am Ufer, wie es aus der „Mähne“ hinausglitt und der Bug in die Wirbel hineingezogen wurde. Der Mann am Steuer versuchte vergebens, es zu verhindern; er warf sein ganzes Gewicht gegen die Ruderpinne, überließ sich dann aber völlig dem Stromwirbel und suchte nur das Boot im Kreis zu halten.

 

Dreimal lief es im Wirbel herum, jedesmal so nahe an den Felsen, wo Kid und Kurz standen, daß sie ohne Mühe hätten an Bord springen können. Der Rudergast, ein Mann mit einem roten Bart, den er offenbar erst seit kurzem stehen ließ, winkte ihnen mit der Hand zu. Das Boot konnte nur aus dem Wirbel herauskommen, wenn es wieder in die „Mähne“ hineingeriet. Bei der letzten Runde geriet es auch wirklich in die „Mähne“ hinein, unglücklicherweise aber quer zum oberen Ende. Offenbar aus Angst vor dem furchtbaren Sog des Stromwirbels versäumte es der Steuermann, das Boot wieder auf den richtigen Kurs zu bringen, und als er es endlich versuchte, war es zu spät. Bald oben in der Luft, bald tief in den Wellen begraben, durchquerte das große Boot die „Mähne“, um in den Schlund des Korkenziehers auf der anderen Seite des Kammes eingesogen zu werden. Einige hundert Fuß weiter abwärts begannen Kisten, Schachteln und Warenballen an die Oberfläche zu kommen. Dann tauchten der Kiel des Bootes und die Köpfe der Männer auf. Zweien von ihnen gelang es, im stillen Wasser unten das Ufer zu erreichen. Die anderen wurden hinabgezogen, das ganze Wrackgut wurde von der starken Strömung fortgetragen und entschwand bald den Blicken.

 

Eine lange Minute schwiegen sie alle. Dann ergriff Kurz als erster das Wort: »Los«, sagte er. »Wir können ebensogut gleich losgehen. Wenn ich noch länger hier stehenbleibe, kriege ich bloß kalte Füße.«

 

»Das wird eine stürmische Fahrt werden«, grinste Kid.

 

»Es ist ja nicht deine erste«, lautete die Antwort. Hierauf wandte sich Kurz an die Chefs. »Kommen Sie mit?« fragte er.

 

Vielleicht war das dumpfe Brüllen des Flusses schuld daran, daß die Einladung überhört wurde.

 

Kurz und Kid wanderten jetzt durch den fußhohen Schnee zu ihrem Boote zurück, das dort lag, wo die Stromschnellen begannen. Dann stießen sie ab. Zwei Erwägungen schossen Kid dabei durch den Kopf, erstens, daß sein Kamerad ein prachtvoller Kerl war – und natürlich wirkte dieser Umstand auch anspornend auf ihn -, zweitens – und das wirkte ebenfalls als Anreiz -, daß der alte Isaac Bellew und alle andern Bellews ähnliches vollbracht hatten, als sie nach dem Westen wanderten. – Was sie getan haben, kann ich auch tun! Es war das Bärenfleisch, das starke Bärenfleisch, das sie kräftig und hart gemacht hatte, aber er wußte auch – und besser als je -, daß nur Männer, die schon stark waren, Fleisch dieser Art essen konnten.

 

»Du hältst dich natürlich oben auf der „Mähne“«, rief Kurz ihm zu. Er nahm sich einen Priem, als das Boot in dem stärker werdenden Strom schneller zu gleiten begann und bereits in die erste Schnelle hineinsauste. Kid nickte, warf versuchsweise sein ganzes Gewicht mit voller Kraft gegen die Ruderpinne und hielt das Boot zum Sprung auf die „Mähne“ bereit.

 

Einige Minuten später lagen sie, halb im Wasser begraben, im stillen Wasser unterhalb des »Weißen Rosses« am Ufer. Kurz spie einen Mundvoll Tabaksoße aus und drückte Kid die Hand.

 

»Bärenfleisch! Bärenfleisch!« sang er dabei. »Wir essen es roh! Wir essen es lebendig!«

 

Oben trafen sie Breck – seine Frau blieb in einiger Entfernung von ihnen stehen. Kid drückte ihm die Hand.

 

»Ich fürchte, daß Ihr Boot nicht durchhält«, sagte er. »Es ist kleiner als unseres und kentert leichter.«

 

Der Mann zog ein Bündel Geldscheine aus der Tasche. »Ich gebe jedem von Ihnen hundert Dollar, wenn Sie es durchs „Roß“ bringen.«

 

Kid warf einen Blick auf die schäumende „Mähne des Weißen Rosses“. Die graue Dämmerung, die hier im Norden lange dauerte, brach schon herein. Es begann kälter zu werden, und die ganze Landschaft bekam allmählich ein wildes und trostloses Aussehen.

 

»Darum handelt es sich nicht«, sagte Kurz. »Wir wollen Ihr Geld gar nicht. Wollen es nicht anrühren. Aber mein Kamerad weiß mit Booten Bescheid, und wenn er sagt, daß Ihr Boot nicht sicher ist, dann weiß er, was er sagt.«

 

Kid nickte bestätigend, aber im selben Augenblick fiel sein Blick auf Frau Breck. Ihre Augen waren auf ihn gerichtet, und er fühlte, wenn er je die Augen einer Frau hatte flehen sehen, so jetzt. Kurz folgte seinem Blick und sah dasselbe wie er. Die beiden sahen sich unsicher an, sagten aber kein Wort. Dann nickten sie sich, beide von demselben Gedanken ergriffen, zu und schlugen den Weg ein, der zu den Stromschnellen führte. Sie waren kaum hundert Schritt weit gegangen, als sie Stine und Sprague trafen, die ihnen entgegenkamen.

 

»Wo gehen Sie hin?« fragte Sprague.

 

»Wir wollen das andere Boot durch das „Roß“ lotsen«, antwortete Kurz.

 

»Nein, das dürfen Sie nicht! Es fängt an, dunkel zu werden, und Sie müssen das Lager in Ordnung bringen.«

 

So stark war der Widerwille Kids, daß er kein Wort herausbringen konnte.

 

»Er hat seine Frau mit«, sagte Kurz.

 

»Das ist seine Sache«, bemerkte Stine.

 

»Und ebensosehr Kids und meine«, gab Kurz zurück.

 

»Ich verbiete es euch«, erklärte Sprague barsch. »Kid, wenn Sie einen Schritt weitergehen, entlasse ich Sie.«

 

»Und ich Sie, Kurz«, fügte Stine hinzu.

 

»Da werdet ihr euch was Schönes einbrocken, wenn ihr uns entlaßt«, antwortete Kurz. »Wie, zum Teufel, wollt ihr denn euer Dreckboot nach Dawson bringen? Wer soll euch den Kaffee im Bett servieren und euch die Nägel maniküren? Los, Kid! Sie werden uns nicht entlassen. Außerdem haben wir ja unsere Verträge. Wenn Sie uns entlassen, müssen Sie uns so viel Proviant geben, daß wir durch den Winter kommen.«

 

Kaum hatten sie das Boot Brecks hinausgeschoben und das erste grobe Wasser erreicht, als die Wellen auch schon die Reling überspülten. Es waren zunächst nur kleine Wellen, aber sie zeigten ernst genug, was kommen würde. Kurz warf einen launigen Blick zurück, während er seinen unvermeidlichen Priem nahm, und Kid fühlte, wie ein warmer Strom durch sein Herz lief, als er diesen Mann betrachtete, der nicht schwimmen konnte und, wenn sie kenterten, keine Chance hatte, sich zu retten.

 

Die Stromschnellen wurden immer wilder, und der Schaum begann sie zu bespritzen. In der zunehmenden Dämmerung sah Kid die schimmernde „Mähne“ und den gewundenen Weg des reißenden Stromes. Er steuerte hinein und empfand eine brennende Befriedigung, als das Boot gerade auf die Mitte der „Mähne“ geriet. Dann aber folgten die schäumenden Spritzer, das Boot wurde hoch empor und wieder in die Tiefe geschleudert und vom Wasser begraben, aber von alledem hatte er keinen klaren Eindruck. Er wußte nur, daß er sich mit seinem ganzen Gewicht auf die Ruderpinne warf und daß er wünschte, sein Onkel wäre dabei und könnte ihn sehen. Dann tauchten sie wieder auf, atemlos, bis auf die Haut durchnäßt, das Boot bis zum Dollbord mit Wasser gefüllt. Die leichteren Gepäckstücke schwammen frei im Boot herum. Kurz holte ein paarmal weit mit dem Riemen aus, und das Boot glitt durch das stille Wasser, bis es unversehrt das Ufer anlief. Auf dem Hang stand Frau Breck – ihr Gebet war erhört, und die Tränen strömten ihr über das Gesicht.

 

»Es ist einfach eure Pflicht, das Geld zu nehmen!« rief Breck ihnen zu.

 

Kurz stand auf, stolperte und setzte sich mitten ins Wasser, während das Boot den einen Dollbord in die See tauchte, sich aber gleich wieder aufrichtete.

 

»Zum Teufel mit dem Geld!« rief er. »Aber geben Sie uns den Whisky. Jetzt fange ich an, kalte Füße zu kriegen, und ich fürchte schon, daß es ein richtiger Schnupfen wird.«

 

Am nächsten Morgen waren sie, wie gewöhnlich, unter den letzten, die ihr Boot zur Abfahrt brachten. Selbst Breck, der nichts vom Segeln verstand, und nur seine Frau und seinen jungen Neffen zur Hilfe hatte, brach schon beim ersten Tagesgrauen sein Zelt ab, belud sein Boot und segelte ab. Aber Stine und Sprague hatten keine Eile. Sie schienen gar nicht zu erfassen, daß die Seen jeden Augenblick zufrieren konnten. Sie drückten sich, wo sie konnten, standen überall im Wege, verzögerten alles und bekrittelten die Arbeit von Kid und Kurz.

 

»Ich werde bald meine Achtung vorm lieben Gott verlieren, wenn ich daran denke, daß er diesen beiden Mißverständnissen menschliche Gestalt gegeben hat.« Mit diesen lästerlichen Worten drückte Kurz seine Verachtung aus.

 

»Nun, dann gehörst du jedenfalls zur richtigen Sorte«, antwortete Kid grinsend. »Um so mehr muß ich Gott achten, wenn ich dich angucke.«

 

»Na ja, verschiedenes ist ihm schon gelungen«, gab Kurz zurück, um seine Verlegenheit über die Schmeichelei zu verbergen.

 

Der Wasserweg nach Dawson führte auch durch den Le-Barge-See. Hier war kaum eine reißende Strömung, aber die ganze Strecke von vierzig Meilen mußte man rudern, wenn nicht zufällig ein günstiger Wind wehte. Die Zeit dieser günstigen Winde war jedoch schon vorbei, und eine eisige Kühle aus dem Norden blies ihnen ins Gesicht und schuf eine grobe See, gegen die anzurudern fast unmöglich war. Das Schneegestöber vermehrte noch ihre Schwierigkeiten um ein Beträchtliches. Dazu kam, daß das Wasser auf den Ruderblättern sofort gefror, so daß ein Mann die ganze Zeit reichlich zu tun hatte, um das Eis mit einer Axt loszuschlagen. Wenn Sprague und Stine gezwungen wurden, beim Rudern zu helfen, versuchten sie ganz offensichtlich, sich zu drücken. Kid hatte gelernt, sein Gewicht beim Rudern richtig auszunutzen, aber er bemerkte, daß die Chefs nur so taten, als gebrauchten sie ihre vollen Kräfte, in Wirklichkeit aber die Riemen flach durchs Wasser strichen.

 

Als drei Stunden vergangen waren, zog Sprague seinen Riemen ein und erklärte, daß sie umkehren müßten, um in der Mündung des Flusses Schutz zu suchen. Stine stellte sich auf seine Seite, und damit war die harte Arbeit, die sie mehrere Meilen vorwärts gebracht hatte, wieder vergebens gewesen. Am zweiten und dritten Tage wurden ähnliche vergebliche Versuche gemacht. In der Mündung des Flusses bildeten die vielen, beständig vom »Weißen Roß« herkommenden Boote eine Flottille von über zweihundert Stück. Mit jedem Tage kamen vierzig oder fünfzig neue an, und nur zwei oder drei erreichten das Nordwestufer des Sees und kehrten nicht wieder zurück.

 

Das stille Wasser vereiste, und es bildeten sich dünne Eisbänder um die Landzungen herum. Jeden Augenblick konnte man gewärtig sein, daß der See ganz zufror. »Wir könnten es noch schaffen, wenn sie ein bißchen vernünftiger wären«, sagte Kid zu Kurz, als sie ihre Mokassins am Abend des dritten Tages am Feuer trockneten. »Wir würden es sogar heute geschafft haben, wenn sie nicht verlangt hätten, daß wir umkehrten. Nur noch eine Stunde, und wir hätten das andere Ufer erreicht. Sie sind ein paar richtige Wickelkinder.«

 

»Ja, wahrhaftig«, stimmte Kurz ihm bei.

 

Er hielt seine Mokassins ans Feuer und überlegte einen Augenblick.

 

»Hör mal, Kid. Es sind noch mehr als hundert Meilen bis Dawson. Wenn wir hier nicht einfrieren wollen, müssen wir irgend etwas tun. Was meinst du?«

 

Kid sah ihn an und wartete, daß er fortfahren sollte. »Wir haben allmählich die beiden Wickelkinder gehörig an die Strippe gekriegt«, erklärte Kurz. »Sie können nur Befehle geben und Geld hinausschmeißen, sonst aber sind sie, wie du richtig sagst, die reinen Wickelkinder. Wenn wir wirklich nach Dawson wollen, müssen wir das Kommando hier im Laden übernehmen.«

 

Sie sahen sich an.

 

»Gemacht«, sagte Kid und reichte Kurz die Hand, um das Übereinkommen feierlich zu bestätigen.

 

Früh am nächsten Morgen ließ Kurz, lange ehe es hell geworden war, seine Stimme hören.

 

»Raus«, brüllte er, »’raus aus dem Bett! Hier ist der Kaffee, ihr Langschläfer! Los! Wir fahren gleich ab.«

 

Knurrend und murrend krochen Stine und Sprague aus dem Zelt und mußten es sich gefallen lassen, daß sie zwei Stunden früher als je zuvor aufbrachen. Der Wind war noch steifer geworden, und es dauerte nicht lange, so waren alle Gesichter von einer Eiskruste bedeckt, während das Eis die Riemen noch schwerer machte als sonst. Drei Stunden lang kämpften sie sich vorwärts und noch eine vierte dazu. Ein Mann saß am Ruder, ein anderer schlug das Eis von den Riemen, die beiden übrigen lösten einander regelmäßig ab. Die Nordwestküste kam immer näher. Aber der Wind wurde auch immer steifer, und schließlich warf Sprague seinen Riemen in das Boot zum Zeichen, daß er den Kampf aufgab. Kurz griff zu, obgleich er soeben erst abgelöst war.

 

»Dann hauen Sie wenigstens das Eis ab«, sagte er und reichte Sprague die Axt.

 

»Aber wozu denn?« wimmerte der andere. »Wir schaffen es ja doch nicht. Wir wollen wieder umkehren.«

 

»Wir fahren weiter«, sagte Kurz. »Hauen Sie das Eis von den Riemen. Und wenn Sie sich erholt haben, können Sie mich wieder ablösen.«

 

Es war eine herzzerbrechende Quälerei, aber sie erreichten die Küste – freilich nur, um festzustellen, daß überall Klippen und Felsen waren, so daß sie nirgends landen konnten.

 

»Das hab‘ ich euch ja gesagt«, jammerte Sprague.

 

»Sie haben das Ufer ja nie gesehen«, antwortete Kurz.

 

»Wir kehren um.«

 

Keiner sprach. Kid steuerte das Boot gegen die Wellen, als sie an dem ungastlichen Ufer entlangsegelten. Zuweilen schafften sie mit einem Riemenzug einen Fuß, aber es gab auch Augenblicke, in denen drei oder vier Riemenzüge kaum genügten, das Boot auf derselben Stelle zu halten. Kid tat sein Bestes, um den beiden Schwächlingen Mut einzuflößen. Er erinnerte sie daran, daß die Boote, die erst einmal die Küste erreicht hatten, nie wieder zurückgekehrt waren – also, erklärte er ihnen, hatten sie irgendwo einen Hafen gefunden. Und sie arbeiteten noch eine Stunde und eine zweite.

 

»Wenn ihr beide nur ein bißchen von dem vielen Kaffee, den ihr in euren Betten getrunken habt, in die Riemen hineinschwitzen würdet, dann schafften wir es schon«, sagte Kurz, um sie anzutreiben. »Aber ihr macht nur die Bewegungen und rudert nicht für einen Heller.«

 

Einige Minuten später warf Sprague die Riemen hin.

 

»Ich bin fertig«, sagte er, und ein Schluchzen war in seiner Stimme.

 

»Das sind wir alle«, antwortete Kid, der selbst schon so erschöpft war, daß er jeden Augenblick hätte weinen oder einen Mord begehen können. »Aber wir arbeiten trotzdem weiter.«

 

»Wir wollen zurück. Wenden Sie gleich.«

 

»Kurz, wenn er nicht mehr rudern will, dann nimmst du seinen Riemen«, kommandierte Kid.

 

»Selbstverständlich«, lautete die Antwort. »Er kann Eis hauen.«

 

Aber Sprague lehnte es ab, den Riemen abzugeben. Stine hatte aufgehört zu rudern, und das Boot begann schon zurückzutreiben.

 

»Wendet das Boot!« befahl Sprague.

 

Und Kid, der noch nie in seinem Leben einen Mann verflucht hatte, wunderte sich über sich selber.

 

»Zuerst sollst du zur Hölle gehen«, antwortete er. »Nimm den Riemen und rudere los!«

 

Es gibt Augenblicke, in denen Männer so erschöpft sind, daß sie alle Hemmungen, die die Kultur sie gelehrt hat, abstreifen.

 

Ein solcher Augenblick war jetzt gekommen.

 

Alle ohne Ausnahme waren sie jetzt auf dem Punkt angelangt, wo es biegen oder brechen hieß. Sprague zog seinen Fäustling aus, zog den Revolver aus der Tasche und zielte auf den Mann am Steuer.

 

Das war ein neues Erlebnis für Kid – er hatte noch nie ein Schießeisen auf sich gerichtet gesehen. Und jetzt schien es ihm, zu seinem großen Erstaunen, eine ganz belanglose Angelegenheit. Er fand, daß es etwas ganz Selbstverständliches war.

 

»Wenn du das Schießeisen nicht sofort weglegst«, sagte er, »nehme ich es dir weg und haue dir damit über die Finger.«

 

»Wenn Sie das Boot nicht wenden, schieße ich«, drohte Sprague.

 

Da mischte Kurz sich hinein. Er hörte auf, das Eis abzuschlagen, und stellte sich hinter Sprague.

 

»Jetzt schieß nur ruhig los«, sagte Kurz und schwang die Axt. »Ich sehne mich direkt nach einer Gelegenheit, dir den Schädel einzuschlagen. Nur los, laß das Festessen sofort beginnen.«

 

»Das ist ja die reine Meuterei«, begann Stine. »Sie sind angestellt, um unseren Befehlen zu gehorchen.«

 

Kurz wandte sich zu ihm.

 

»Na, Sie kriegen auch Ihr Teil, wenn ich erst mit Ihrem Kompagnon fertig bin, Sie kleiner schweineprügelnder Schleicher.«

 

»Sprague«, sagte Kid, »ich gebe Ihnen genau dreißig Sekunden, um das Schießeisen wegzustecken und den Riemen wieder aufzunehmen.«

 

Sprague zögerte einen Augenblick, lachte hysterisch auf, steckte den Revolver in die Tasche und begann wieder zu rudern.

 

Dann erkämpften sie sich abermals zwei Stunden lang, Zoll für Zoll, ihren Weg an den schaumgepeitschten Klippen entlang, bis Kid allmählich zu fürchten begann, daß er eine Dummheit gemacht hatte. Und da, als er schon an die Umkehr dachte, sahen sie unmittelbar vor sich eine enge Öffnung, die kaum zwanzig Fuß breit war und in einen kleinen Hafen führte, wo selbst die stärksten Windstöße kaum die Oberfläche des Wassers kräuselten. Das war der Hafen, den die Boote, die früher abgefahren waren, ohne zurückzukehren, ebenfalls erreicht hatten. Sie landeten an einem allmählich ansteigenden Ufer. Die beiden Chefs blieben ganz erschöpft im Boot liegen, während Kid und Kurz das Zelt aufschlugen, Feuer machten und zu kochen begannen.

 

»Du, Kurz, was meinst du eigentlich mit dem Ausdruck „schweineprügelnder Schleicher“?« fragte Kid.

 

»Der Deibel soll mich holen, wenn ich eine Ahnung habe, was es bedeutet«, lautete die Antwort, »aber das ist ja auch ganz schnuppe.«

 

Der Wind, der schnell wieder abgeflaut war, legte sich bei Anbruch der Nacht völlig, und das Wetter wurde klar und kalt. Eine Tasse Kaffee, die zum Abkühlen beiseite gestellt und vergessen war, fanden sie wenige Sekunden später mit einer Eiskruste überzogen. Als Sprague und Stine sich gegen acht Uhr schon in ihre Decken gewickelt hatten und den Schlaf völliger Erschöpfung schliefen, kam Kid von einem Besuch beim Boot zurück.

 

»Es friert jetzt, Kurz«, sagte er. »Es liegt schon eine Eisschicht über dem ganzen See.«

 

»Was willst du tun?«

 

»Es ist nur eins zu tun. Der See friert natürlich zuerst zu. Die reißende Strömung wird den Fluß jedenfalls noch einige Tage offenhalten. Von heute an muß jedes Boot, das noch im Le-Barge-See ist, bis nächstes Jahr dableiben.«

 

»Du meinst also, daß wir schon heute nacht abfahren müssen?«

 

Kid nickte.

 

»Raus, ihr Langschläfer!« lautete Kurz‘ Antwort, die er mit gewaltiger Stimme brüllte, während er schon begann, das Zelt abzubrechen.

 

Die beiden andern erwachten. Sie stöhnten, teils weil ihre überanstrengten Muskeln schmerzten, teils weil sie so brutal aus dem Schlaf der Erschöpfung herausgerissen wurden.

 

»Wie spät ist es denn?« fragte Stine.

 

»Halb neun.«

 

»Aber es ist ja noch ganz dunkel«, wandte er ein.

 

Kurz löste die Zeltschnüre, so daß das Zelt zusammenzufallen begann.

 

»Es ist gar nicht Morgen«, sagte er. »Es ist immer noch Abend. Aber der See friert zu. Wir müssen durch.« – Stine erhob sich. Sein Gesicht zeigte Zorn und Empörung.

 

»Laß ihn zufrieren. Wir rühren uns nicht vom Fleck.«

 

»Schön«, erklärte Kurz. »Dann fahren wir eben allein mit dem Boot weiter.«

 

»Sie sind angestellt…«

 

»… um Sie nach Dawson zu bringen«, unterbrach ihn Kurz. »Und wir bringen Sie ja auch hin, nicht wahr?«

 

Er verlieh seiner Frage einen besonderen Nachdruck, indem er das Zelt über ihren Köpfen zusammenstürzen ließ.

 

Sie bahnten sich den Weg durch das dünne Eis des kleinen Hafens und gelangten in den See hinaus, wo das Wasser, das schon breiig und glasig wurde, am Riemen gefror. Es vereiste immer mehr, so daß die Bewegungen der Riemen behindert wurden, und wenn das Wasser von ihnen herabträufelte, bildeten sich lange Eiszapfen. Dann begann das Eis eine feste Decke zu bilden, und das Boot kam immer langsamer vorwärts.

 

Später dachte Kid oft an diese Nacht, aber es gelang ihm nie, sich etwas anderes ins Gedächtnis zurückzurufen, als daß sie wie ein Nachtmahr gewesen war. Und er fragte sich unwillkürlich, welch furchtbare Leiden Stine und Sprague bei dieser Gelegenheit hatten durchmachen müssen. Als eines eigenen Erlebnisses erinnerte er sich, wie er sich durch die schneidende Kälte und durch schier unerträgliche Entbehrungen von solchem Ausmaß hindurchgekämpft hatte, daß ihm schien, sie hätten tausend Jahre oder noch länger gedauert.

 

Als der Morgen kam, saßen sie schon fest. Stine klagte, daß seine Finger erfroren wären, und Sprague tat die Nase weh, während die Schmerzen in Kids Wangen und Nase ihm zeigten, daß es auch ihn getroffen hatte.

 

Als das Tageslicht allmählich stärker wurde, erweiterte sich ihr Ausblick, und so weit sie überhaupt sehen konnten, war die ganze Oberfläche des Sees zu Eis geworden.

 

Das offene Wasser war verschwunden. Hundert Meter entfernt lag das Nordufer. Kurz behauptete, daß die Mündung des Flusses dort sein müßte und daß er offenes Wasser sehen könnte. Nur er und Kid waren noch imstande zu arbeiten. Mit ihren Riemen zerschlugen sie das Eis und schoben das Boot durch die so geschaffene schmale Rinne. Mit einer letzten Anspannung aller Kräfte gelang es ihnen, die Mündung des schnell strömenden Flusses zu erreichen.

 

Als sie sich umblickten, sahen sie mehrere Boote, die sich während der ganzen Nacht weitergekämpft hatten, jetzt aber hilflos und hoffnungslos festsaßen. Dann schwenkten sie um eine Landspitze und wurden von der Strömung erfaßt, die sie mit einer Schnelligkeit von sechs Meilen in der Stunde weitertrug.

 

Tag für Tag trieben sie den schnell strömenden Fluß hinab, und Tag für Tag rückte das Eisfeld von der Küste her näher. Wenn sie abends lagern wollten, mußten sie zuerst ein großes Loch in das Eis schlagen, in dem sie das Boot die Nacht über liegenlassen konnten, und dann das gesamte Lagergerät mehrere hundert Fuß weit über die Eisfläche bis zum Ufer tragen. Und morgens mußten sie wieder das Eis, das sich inzwischen um das Boot gebildet hatte, zerschlagen, bevor sie die eisfreie Strömung in der Mitte des Flusses erreichen konnten. Kurz stellte den kleinen Blechofen im Boot auf, und Sprague und Stine lungerten dann die endlosen Stunden, die sie den Fluß hinabtrieben, um ihn herum. Die beiden hatten sich völlig in ihr Schicksal ergeben. Sie erteilten keine Befehle mehr, und ihr ganzes Trachten ging nur darauf aus, Dawson zu erreichen. Kurz, pessimistisch und unermüdlich wie immer, grölte heiter mit kurzen Zwischenräumen drei Verszeilen von der ersten Strophe eines alten Liedes, von dem er sich sonst an nichts mehr erinnerte. Je kälter es wurde, um so eifriger und häufiger sang er:

 

 

 

»Wie den alten Argonauten

 

Kann uns keiner heut verwehren

 

Auszuziehen, tum – tum – tum,

 

Um das Goldne Vlies zu scheren.«

 

 

 

Als sie die Mündung der Hootalinqua und des Großen und des Kleinen Lachsflusses passierten, entdeckten sie, daß sich große Mengen Packeis in den Hauptarm des Yukon hineinschoben. Dieses Packeis staute sich um das Boot zusammen und hielt es fest, so daß sie jetzt sogar gezwungen wurden, es jeden Abend aus der vereisten Strömung herauszuschlagen. Auch morgens mußten sie sich dann wieder einen Weg durch das Eis bahnen, um das Boot in die Strömung zu bringen.

 

Die letzte Nacht am Ufer verbrachten sie zwischen den Mündungen des Weißen Flusses und des Stewarts. Gegen Morgen sahen sie, daß der Yukon in seiner ganzen Breite von fast einer halben Meile wie ein weißes Band zwischen den vereisten Ufern lag. Da verfluchte Kurz das gesamte Weltall mit weniger überströmender Laune als sonst. Dann warf er Kid einen verzweifelten Blick zu.

 

»Wir werden das letzte Boot sein, das dieses Jahr Dawson erreicht«, sagte Kid.

 

»Aber es ist ja überhaupt kein Wasser mehr da, Kid.«

 

»Dann müssen wir eben das Eis zerschlagen und Wasser schaffen. Nur los.«

 

Sprague und Stine protestierten vergeblich – sie wurden ohne weiteres im Boot verstaut, während Kid und Kurz eine halbe Stunde lang mit den Äxten arbeiteten, um die schnell fließende, aber vereiste Strömung zu erreichen. Als es ihnen gelungen war, das Boot vom Küsteneis frei zu machen, wurde es vom Treibeis der Strömung einige hundert Meter weiter am Rand des Eisfeldes entlanggetrieben. Bei dieser Gelegenheit wurde der eine Dollbord abgerissen und das Boot selbst schwer beschädigt.

 

Erst unterhalb der Landspitze, auf der sie die Nacht verbracht hatten und die sich weit in den Fluß hinausschob, gelangten sie richtig in die Strömung hinein. Jetzt arbeiteten sie sich immer tiefer in sie hinein. Aber es war schwerer als je, denn die Eissplitter hatten großen Schollen Platz gemacht, und das Treibeis, das es noch dazwischen gab, verwandelte sich schnell in eine feste Fläche.

 

Mit den Riemen schoben sie die Schollen beiseite, hin und wieder sprangen sie auf das Eis, um das Boot weiterschieben zu können, und als sie in dieser Weise eine Stunde gearbeitet hatten, erreichten sie die Mitte des Flusses. Fünf Minuten, nachdem sie ihre Arbeit beendet hatten, war das Boot eingefroren. Der ganze Fluß wurde im Weiterströmen zu Eis. Die Schollen wurden allmählich zu einer festen Fläche, bis das Boot schließlich mitten in einem Eisblock steckte, der fünfundsiebzig Fuß im Durchmesser maß. Zuweilen trieben sie seitwärts, zuweilen wieder geradeaus; das Boot zerriß durch sein Gewicht die unsichtbaren Fesseln, mit denen die Eismasse, die sich in stetiger Bewegung befand, es festzuhalten suchte, wurde aber immer wieder von noch stärkeren Kräften gebunden. In dieser Weise verlief Stunde auf Stunde, während Kurz den Ofen heizte, die Mahlzeiten zubereitete und seinen Kriegsgesang hinausschmetterte.

 

Es wurde Nacht. Und nach vielen vergeblichen Bemühungen gaben sie den Versuch auf, das Boot an die Küste zu bringen. Hilflos trieben sie weiter durch die eisige Dunkelheit.

 

»Und was geschieht, wenn wir an Dawson vorbeitreiben?« fragte Kurz.

 

»Dann müssen wir eben zu Fuß zurückgehen«, antwortete Kid, »wenn wir nicht vorher das Pech haben, im Packeis zerquetscht zu werden.«

 

Der Himmel war klar, und beim kalten Schein der Sterne sahen sie hin und wieder flüchtig die Silhouetten der Berge, die zu beiden Seiten in weiter Ferne emporragten. Gegen elf Uhr hörten sie unter sich ein dumpfes Knarren und Brüllen. Ihre Fahrt begann sich zu verlangsamen. Eisschollen stellten sich ihnen in den Weg, schoben sich übereinander, türmten sich auf und rutschten auf sie herab. Das Packeis drohte sie zu zerquetschen; eine Scholle, die nach oben geschoben wurde, zerriß die eine Seite des Bootes. Es versank zwar nicht, denn es wurde von dem Floß getragen, in dem es feststeckte, aber eine Sekunde lang sahen sie das schwarze Wasser kaum einen Fußbreit von der zerschlagenen Seite des Bootes auftauchen. Dann hörte jede Bewegung auf. Nach einer halben Stunde begann die ganze Eisdecke des Flusses sich zu bewegen, und fast eine Stunde lang glitt das Boot dann mit der ganzen Eisfläche weiter den Fluß hinab, bis neues Packeis eine Stockung verursachte. Wieder kam das Boot dann ins Treiben, und diesmal lief die Strömung schnell und wild; man hörte immerfort das Scheuern und Knarren der Schollen und Flöße. Bald darauf entdeckten sie Lichter an Land, und gerade als sie schon daran vorbeilaufen wollten, gaben das Gesetz der Schwere und der Yukon das Spiel auf, und der Fluß legte sich für sechs Monate zur Ruhe. Einige Neugierige, die bei Dawson am Ufer standen, um zu sehen, wie der Fluß zufror, hörten durch die Dunkelheit Kurz‘ Schlachtlied:

 

 

 

»Wie den alten Argonauten

 

Kann uns keiner heut verwehren

 

Auszuziehen, tum – tum – tum,

 

Um das Goldne Vlies zu scheren.«

 

 

 

Drei Tage schufteten Kid und Kurz dann wieder, um die anderthalb Tonnen Gepäck von der Mitte des Flusses zu dem Bretterverschlag zu schaffen, den Stine und Sprague auf dem Hügel gemietet hatten, von dem aus man ganz Dawson überblicken konnte. Als die Arbeit beendet war und alle in der warmen Hütte saßen, rief Sprague Kid zu sich. Draußen zeigte das Thermometer fünfundsechzig Grad Fahrenheit unter Null.

 

»Ihr Monat ist freilich noch nicht ganz um«, sagte Sprague. »Aber hier haben Sie Ihren vollen Monatslohn. Und ich wünsche Ihnen guten Erfolg.«

 

»Aber wie steht es denn mit unserem Vertrag?« fragte Kid. »Sie wissen ja, daß hier Hungersnot herrscht. Man kann nicht einmal, wenn man seinen eigenen Proviant hat, in den Minen Arbeit bekommen. Sie haben sich ja einverstanden…«

 

»Ich weiß nichts von einem Vertrag«, unterbrach ihn Sprague. »Du doch auch nicht, Stine?«

 

»Wir haben Sie für einen Monat engagiert, und hier haben Sie Ihr Geld. Wollen Sie die Quittung unterschreiben oder nicht?«

 

Kid ballte die Fäuste, und ihm wurde einen Augenblick rot vor Augen. Die beiden wichen erschrocken zurück. Noch nie hatte Kid einen Mann im Zorn geschlagen, aber er fühlte sich so sicher, Sprague niederschlagen zu können, daß es ihm einfach widerstrebte, es zu tun.

 

Kurz, der die schwierige Lage Kids erkannte, legte sich ins Mittel.

 

»Schau mal her, Kid, ich arbeite sowieso nicht weiter bei dem schäbigen Gesindel. Jetzt hab‘ ich auch mehr als genug und mach‘ mich dünne. Du und ich, wir halten zusammen, nicht? Nimm deine Decken und marschier geradewegs in den „Elch“. Ich begleiche nur noch die Rechnung hier. Nehme mir, was mir zusteht, und gebe ihnen, was ihnen gebührt. Auf dem Wasser tauge ich ja nicht viel, aber hier, mit festem Boden unter den Füßen, fühle ich mich eher zu Hause. Jetzt werde ich mal Sturm blasen…«

 

Eine halbe Stunde später erschien Kurz im „Elch“. Nach seinen blutigen Knöcheln und einer Hautabschürfung auf der rechten Wange zu schließen, hatte er den Herren Sprague und Stine offenbar gegeben, was ihnen gebührte.

 

»Du hättest nur die Hütte sehen sollen«, grinste er, als sie zusammen an der Bar standen. »Eine Rumpelkammer ist ein Staatssalon dagegen. Ich halte Menschendollars gegen Pfeffernüsse, daß keiner von ihnen sich die nächste Woche auf der Straße zeigen wird. Und jetzt wollen wir mal sehen, wie es für uns beide steht. Lebensmittel kosten anderthalb Dollar das Pfund. Arbeit kriegt man nicht, wenn man sich nicht selbst beköstigen kann. Elchfleisch verkaufen sie für zwei Dollar das Pfund – wenn sie es haben, aber sie haben nichts. Wir haben Geld genug, um uns Munition und Proviant für einen Monat zu kaufen, und dann marschieren wir den Klondike hinauf nach dem Hinterland. Wenn wir da keine Elche finden, bleiben wir einfach bei den Indianern. Aber wenn wir nicht binnen sechs Wochen mindestens fünftausend Pfund Elchfleisch gekriegt haben, dann…ja, dann kehre ich reumütig zu unsern verflossenen Chefs zurück und bitte um gutes Wetter. Einverstanden?«

 

Kid gab dem Kameraden die Hand. Dann aber kamen ihm Bedenken.

 

»Ich habe ja keine Ahnung von der Jagd«, sagte er. Kurz hob sein Glas.

 

»Du bist ein Fleischesser – und ich werde dein Lehrmeister sein.«