IV

»Sie wissen vielleicht (übrigens habe ich es Ihnen selbst erzählt)«, begann Swidrigailow, »daß ich hier wegen einer riesigen Summe im Schuldgefängnis saß, ohne die geringste Aussicht, daß ich jemals die Mittel zur Bezahlung besitzen würde. Es hat keinen Zweck, im einzelnen darzulegen, auf welche Weise mich Marfa Petrowna damals loskaufte; wissen Sie, bis zu welchem Grade von Tollheit sich ein Weib manchmal verlieben kann? Sie war eine ehrenhafte, recht kluge, obgleich völlig ungebildete Frau. Stellen Sie sich vor, daß diese sehr eifersüchtige, ehrenhafte Frau nach und sich bei allen fortwährend über mich zu beklagen; wie hätte sie das einer solchen neuen, schönen Freundin gegenüber unterlassen können? Ich kann mir denken, daß zwischen den beiden überhaupt von nichts anderem gesprochen wurde als von mir, und zweifellos wurde Awdotja Romanowna mit all den düsteren, geheimnisvollen Märchen bekannt gemacht, die über mich in Umlauf waren … Ich möchte wetten, daß Ihnen auch schon etwas davon zu Ohren gekommen ist?«

»Jawohl, Lushin beschuldigte Sie, Sie hätten sogar den Tod eines kleinen Mädchens verschuldet. Ist das wahr?«

»Tun Sie mir den Gefallen und lassen Sie mich mit all diesen Abgeschmacktheiten in Ruhe«, erwiderte Swidrigailow ärgerlich und mürrisch. »Wenn Sie so großes Verlangen tragen, über all diesen Unsinn die Wahrheit zu hören, so will ich es Ihnen ein andermal erzählen; aber jetzt …«

»Es wurde auch von einem Diener, den Sie auf dem Lande hatten, gesprochen; angeblich hätten Sie auch da eine Schuld auf sich geladen.«

»Tun Sie mir den Gefallen und hören Sie damit auf!« unterbrach ihn Swidrigailow wieder mit sichtlicher Ungeduld.

»War das nicht eben der Diener, der nach seinem Tode zu Ihnen ins Zimmer kam, um Ihnen die Pfeife zu stopfen? Sie haben mir ja selbst davon erzählt!« fragte Raskolnikow; sein Ton klang immer gereizter.

Swidrigailow blickte Raskolnikow forschend an, und dem letzteren schien es, als ob in diesem Blicke momentan, blitzartig ein boshaftes Lächeln aufzuckte; aber Swidrigailow beherrschte sich und antwortete sehr höflich:

»Ja, es war derselbe. Ich sehe, daß dies alles auch Sie außerordentlich interessiert, und halte es für meine Pflicht, bei der ersten passenden Gelegenheit Ihre Wißbegierde zu befriedigen. Hol’s der Teufel! Ich sehe, daß ich wirklich manchem als eine romantische Persönlichkeit erscheinen doch? Ich merke, daß Sie mir jetzt mit großer Aufmerksamkeit zuhören, … Sie interessanter junger Mann! …«

Swidrigailow schlug ingrimmig mit der Faust auf den Tisch. Sein Gesicht hatte sich stark gerötet. Raskolnikow sah deutlich, daß das eine Glas oder die anderthalb Gläser Champagner, die er so sachte in kleinen Schlückchen geschlürft hatte, auf ihn schon berauschend gewirkt hatten, und beschloß, aus diesem Umstande Nutzen zu ziehen. Swidrigailow erschien ihm sehr verdächtig.

»Nach allem, was ich da eben von Ihnen gehört habe, bin ich der festen Überzeugung, daß Sie auch bei der Reise hierher es auf meine Schwester abgesehen haben«, sagte er offen und unverhohlen zu Swidrigailow, um ihn noch mehr zu reizen.

»Ach, reden Sie doch nicht so etwas!« erwiderte Swidrigailow, der plötzlich die Herrschaft über sich zurückzugewinnen schien. »Ich habe Ihnen ja schon gesagt, … und außerdem kann mich Ihre Schwester nicht leiden.«

»Ja, das ist auch meine Überzeugung, daß sie Sie nicht leiden kann. Aber darum handelt es sich jetzt nicht.«

»Also davon sind Sie überzeugt, daß sie mich nicht leiden kann?« Swidrigailow zwinkerte mit den Augen und lächelte spöttisch. »Sie haben recht, sie liebt mich nicht; aber übernehmen Sie niemals eine Gewähr für die Bewertung von Vorgängen, die zwischen Mann und Frau oder zwischen einem Liebhaber und der Geliebten stattgefunden haben. Da ist immer so ein Winkelchen, das der ganzen Welt verborgen bleibt und nur den beiden bekannt ist. Können Sie garantieren, daß Awdotja Romanowna bei meinem Anblicke einen wirklichen Widerwillen empfunden hat?«

»Aus manchen Worten und Andeutungen in Ihrer Erzählung entnehme ich, daß Sie auch jetzt noch Ihre Absichten bezüglich meiner Schwester eifrig verfolgen, und selbstverständlich sind es ganz gemeine Absichten.«

»Wie? Mir sollten solche Worte und Andeutungen entschlüpft sein?« fragte Swidrigailow höchst naiv, ohne das Beiwort, das seinen Absichten beigelegt war, im geringsten zu beachten.

»Auch jetzt in diesem Augenblicke verraten Sie sich. Warum sind Sie denn zum Beispiel so ängstlich? Warum erschraken Sie jetzt eben auf einmal?«

»Ich bin ängstlich und erschrecke? Vor Ihnen erschrecke ich? Eher hätten Sie Anlaß, vor mir Angst zu haben, cher ami. Aber was rede ich nur für dummes Zeug zusammen … Ich sehe, ich bin betrunken; beinahe hätte ich wieder zuviel gesagt. Hol der Teufel den Wein! Heda, Wasser!«

Er ergriff die Flasche und schleuderte sie ohne Umstände zum Fenster hinaus. Filipp brachte Wasser.

»Das ist alles Unsinn«, sagte Swidrigailow, während er ein Handtuch anfeuchtete und es sich gegen den Kopf drückte. »Ich kann Sie mit einem einzigen Worte widerlegen und Ihren ganzen Verdacht als nichtig erweisen. Wissen Sie, daß ich mich wieder verheirate?«

»Sie haben es mir schon früher gesagt.«

»So? Nun, ich hab’s vergessen. Aber damals konnte ich es noch nicht mit voller Sicherheit sagen; denn ich hatte die Braut noch nicht einmal gesehen. Damals war es erst ein Plan. Na, aber jetzt habe ich bereits eine Braut, und die Sache ist abgemacht; und wenn ich jetzt nicht unaufschiebbare Geschäfte hätte, so würde ich Sie jedenfalls sofort zu den Leuten hinführen – denn ich möchte Sie dabei um Ihren Rat bitten. Ach, Donnerwetter! Ich habe ja nur noch zehn Minuten Zeit. Hier ist meine Uhr; sehen Sie selbst. Aber ich will es Ihnen doch noch erzählen; denn es ist ein hübscher kleiner Spaß, meine Heirat meine ich, so in ihrer Art, … aber wo wollen Sie denn hin? Wieder weg?«

»Nein, jetzt habe ich nicht mehr die Absicht, von Ihnen wegzugehen.«

»Überhaupt nicht? Na, wir wollen sehen! Ich werde Sie hinführen, ganz bestimmt, und Ihnen meine Braut zeigen; nur nicht jetzt gleich. Jetzt müssen wir bald gehen, Sie nach Gesicht, das Gesicht einer leidenden Schwärmerin; ist Ihnen das niemals aufgefallen? Na also, an die erinnert sie. Gleich am anderen Tage nach unserer Verlobung brachte ich ihr für anderthalbtausend Rubel Geschenke mit: einen Brillantschmuck, einen aus Perlen, einen silbernen Toilettenkasten – so groß! – mit allerlei Inhalt; das Gesichtchen der kleinen Madonna färbte sich ganz rosig. Ich setzte sie gestern auf meinen Schoß, aber wahrscheinlich doch gar zu ungeniert; denn sie wurde blutrot, und die Tränchen perlten ihr hervor. Aber sie wollte es nicht zeigen; sie glühte über das ganze Gesicht. Die andern waren alle für ein Weilchen aus dem Zimmer hinausgegangen, und ich war mit ihr ganz allein geblieben; da fiel sie mir auf einmal um den Hals (zum ersten Male ganz von selbst), umschlang mich mit ihren beiden Ärmchen, küßte mich und schwur, sie werde mir eine gehorsame, treue, gute Frau sein; sie wolle mich glücklich machen; dazu werde sie ihr ganzes Leben, jede Minute ihres Lebens verwenden; alles, alles wolle sie dafür zum Opfer bringen, und für all das wünsche sie nur meine Achtung zu besitzen; ›weiter‹, sagte sie, ›brauche ich nichts, nichts, gar nichts, keine Geschenke!‹ Das müssen Sie doch selbst sagen: ein solches Geständnis unter vier Augen anzuhören von einem sechzehnjährigen Engelchen im Tüllkleidchen, mit krausen Löckchen, mit der Röte mädchenhafter Verschämtheit auf dem Gesichte und mit Tränen holder Schwärmerei in den Augen – das müssen Sie doch selbst sagen, das hat einen großen Reiz! Nicht wahr, einen großen Reiz! Das ist doch schließlich etwas Wertvolles, nicht? Nicht wahr? Na, … na, hören Sie, … wir wollen einmal zu meiner Braut hinfahren, … nur nicht jetzt gleich!«

»Kurz gesagt, gerade dieser ungeheuerliche Abstand in den Jahren und in der geistigen Entwicklung erregt Ihre Sinnlichkeit! Haben Sie denn wirklich vor, das Mädchen zu heiraten?«

»Aber warum denn nicht? Ganz bestimmt! Jeder sorgt für sich, und am lustigsten lebt derjenige, der sich selbst am besten zu betrügen versteht. Ha-ha! Aber Sie sind ja wohl so ein ganz besonderer Tugendbold? Haben Sie Nachsicht mit mir, Väterchen! Ich bin ein sündiger Mensch. He-he-he!«

»Sie haben aber doch für Katerina Iwanownas Kinder gesorgt. Indessen, Sie werden wohl auch dafür Ihre Gründe gehabt haben; … ich verstehe jetzt alles.«

»Kinder habe ich überhaupt lieb; ich mag Kinder sehr gern«, erwiderte Swidrigailow lachend. »In dieser Hinsicht kann ich Ihnen sogar ein höchst interessantes kleines Erlebnis mitteilen, das auch jetzt noch nicht seinen Abschluß gefunden hat. Am ersten Tage nach meiner Ankunft besuchte ich verschiedene Sumpflokale; na, nach sieben Jahren Entbehrung stürzte ich mich mit Wonne da hinein. Sie haben wohl schon gemerkt, daß ich es nicht eilig habe, mit meiner früheren Sippschaft, meinen ehemaligen Freunden und Bekannten wieder in Verkehr zu treten. Na, ich will suchen, möglichst lange ohne sie auszukommen. Wissen Sie, als ich bei Marfa Petrowna auf dem Lande wohnte, bin ich oft ganz krank geworden vor sehnsüchtiger Erinnerung an all diese geheimnisvollen Lokale und Lokälchen, wo jemand, der darin Routine hat, gar manches zu finden vermag. Ein tolles Leben hier in Petersburg; das niedere Volk säuft; die gebildete Jugend überläßt sich einem untätigen Müßiggange, verpufft ihre Kraft in unerfüllbaren Träumereien und Schwärmereien und verkrüppelt geistig durch das ewige Theoretisieren; die Juden, die hier von überallher zusammenströmen, scharren heimlich Geld zusammen, und alles übrige sumpft. Gleich bei meiner Ankunft war es mir, als ob mir der wohlbekannte Geruch dieser Stadt entgegenschlüge. Ich besuchte zufällig eine sogenannte Tanzsoiree – es war ein schauderhaftes Sumpflokal (aber solche Lokale sind mir je unsauberer, um so lieber); na, natürlich wurde ein Cancan getanzt, wie man ihn sich nicht ärger denken kann und wie er zu meiner Zeit überhaupt noch gar nicht existierte. Ja, darin kann man wirklich einen großen Fortschritt konstatieren. Da sah ich auf einmal, wie ein etwa nahmen sie mit tausend Freuden an; sie halten es für eine Ehre, und ich verkehre noch immer bei ihnen … Wenn Sie wollen, können wir einmal hinfahren, nur nicht jetzt gleich.«

»Hören Sie auf mit Ihren gemeinen, schändlichen Geschichten, Sie liederlicher, schändlicher, sinnlicher Mensch!«

»Sie sind ein Schiller, ein russischer Schiller! Où va-t-elle la vertu se nicher? Wissen Sie was? Ich werde Ihnen absichtlich noch mehr solche Geschichten erzählen, bloß um Ihre Äußerungen der Entrüstung zu hören. Das ist mir ein wahrer Genuß!«

»Zweifellos! Ich komme mir ja selbst in diesem Augenblicke lächerlich vor«, murmelte Raskolnikow ärgerlich.

Swidrigailow lachte aus vollem Halse; schließlich rief er Filipp, zahlte und stand auf.

»Na, ich bin ja ziemlich betrunken! Assez causé!« sagte er. »Es ist mir ein wahrer Genuß gewesen!«

»Sehr begreiflich, daß es für Sie ein Genuß war!« rief Raskolnikow und erhob sich gleichfalls. »Wie sollte es denn auch für einen alten Wüstling nicht ein Genuß sein, von solchen Erlebnissen zu erzählen, während er sich dabei schon wieder mit einem andern unnatürlichen Vorhaben derselben Art beschäftigt, und noch dazu unter diesen Umständen und einem Menschen, wie ich, gegenüber. Das kitzelt!«

»Na, wenn dem so ist«, erwiderte Swidrigailow einigermaßen erstaunt und sah Raskolnikow forschend an, »wenn dem so ist, so sind Sie selbst ein arger Frechling. Wenigstens haben Sie im höchsten Grade das Zeug dazu. Sie sind ein starker Theoretiker, ein sehr starker, … na, und auch zum praktischen Handeln sind Sie ja sehr wohl befähigt. Aber nun genug davon. Ich bedaure aufrichtig, daß ich mich nur so kurze Zeit habe mit Ihnen unterhalten können; aber Sie laufen mir ja nicht davon … Warten Sie nur! …«

Swidrigailow verließ das Restaurant, und Raskolnikow folgte ihm. Swidrigailow war nicht erheblich betrunken; der Champagner war ihm nur für einen Augenblick zu Kopfe gestiegen, und der Rausch verflog mit jeder Minute mehr. Ein offenbar sehr wichtiges Vorhaben beschäftigte ihn stark, und er machte ein sehr ernstes Gesicht. Irgendeine Erwartung regte ihn augenscheinlich auf und versetzte ihn in Unruhe. Raskolnikow gegenüber hatte er in den letzten Minuten auf einmal sein Benehmen geändert und war von Minute zu Minute gröber und spöttischer geworden. Raskolnikow hatte das alles recht wohl bemerkt und war nun gleichfalls in unruhiger Erregung. Swidrigailow erschien ihm sehr verdächtig; er beschloß, ihm nachzugehen.

Sie traten auf das Trottoir.

»Sie gehen also nach rechts und ich nach links, oder meinetwegen auch umgekehrt. Jedenfalls adieu, bon plaisir, auf fröhliches Wiedersehen!«

Damit ging er nach rechts, in der Richtung auf den Heumarkt zu.

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