Erster Teil

Erstes Buch

Die Geschichte einer Familie

1. Fjodor Pawlowitsch Karamasow

Alexej Fjodorowitsch Karamasow war der dritte Sohn des in unserem Kreis ansässigen Gutsbesitzers Fjodor Pawlowitsch Karamasow, der seinerzeit sehr bekannt war (und bis heute noch nicht vergessen ist) wegen seines dunklen, tragischen Endes, das vor genau dreizehn Jahren eintrat; ich werde, wenn es sich anbietet, darauf zurückkommen. Jetzt aber will ich von diesem »Gutsbesitzer«, wie er bei uns genannt wurde, obwohl er sein ganzes Leben fast nie auf seinem Gut lebte, nur so viel sagen, daß er ein sonderbarer, aber ziemlich häufig vorkommender Typ war: nicht nur ein gemeiner und ausschweifender, sondern auch unverständiger Mensch, allerdings einer von denen, die es vorzüglich verstehen, ihre Geldgeschäftchen zu betreiben – sonst aber, wie es scheint auch nichts. Fjodor Pawlowitsch zum Beispiel hatte beinahe mit nichts begonnen; er war ein ganz kleiner Gutsbesitzer gewesen, war zu fremden Tischen gelaufen, um da sein Mittagsbrot zu finden, hatte sich als Kostgänger durchschmarotzt, und dennoch fanden sich bei ihm nach seinem Tode an die hunderttausend Rubel bares Geld. Dabei war er sein Leben lang einer der unverständigsten Narren in unserem ganzen Kreis. Ich wiederhole, ich meine nicht Dummheit – die meisten dieser Narren sind recht klug und schlau –, sondern Unverstand, und zwar eine besondere, nationale Art von Unverstand.

Er war zweimal verheiratet und hatte drei Söhne: den ältesten, Dmitri Fjodorowitsch, von der ersten Frau; die beiden anderen, Iwan und Alexej, von der zweiten. Seine erste Frau stammte aus dem ziemlich reichen, vornehmen Adelsgeschlecht der Miussows, ebenfalls Gutsbesitzer in unserem Kreis. Wie es gekommen war, daß ein Mädchen mit Mitgift und noch dazu in schönes Mädchen, eines jener frischen, klugen Mädchen, die in unserer jetzigen Generation so zahlreich sind, aber auch schon in der vorigen vorkamen, wie ein solches Mädchen einen solchen »Jammerlappen«, wie ihn die Leute damals nannten, heiraten konnte, das will ich nicht lange erörtern. Kannte ich doch selbst noch ein Mädchen aus der vorvorigen, der »romantischen« Generation, das sich nach mehreren Jahren einer rätselhaften Liebe zu einem Mann, den sie jeden Augenblick ganz bequem hätte heiraten können, selbst unüberwindliche Hindernisse ausdachte und sich in einer stürmischen Nacht von einem felsigen Steilufer in einen ziemlich tiefen, reißenden Fluß stürzte und darin umkam, einzig und allein, um Shakespeares Ophelia zu gleichen. Und wäre der lange ins Auge gefaßte, ja liebgewonnene Felsen nicht malerisch gewesen, wäre an seiner Stelle prosaisches flaches Ufer gewesen, der Selbstmord hätte vielleicht überhaupt nicht stattgefunden. Das ist eine Tatsache, und man darf annehmen, daß in unserem russischen Leben der zwei oder drei letzten Generationen nicht wenige Taten dieser oder ähnlicher Art vorkamen. Dementsprechend war denn auch der Schritt Adelaida Iwanowna Miussowas ohne Zweifel auf fremde Einflüsse und auf ihre vom Affekt gefesselten Gedanken zurückzuführen. Vielleicht wollte sie weibliche Selbständigkeit an den Tag legen, sich gegen die gesellschaftlichen Zustände, gegen den Despotismus ihrer Verwandtschaft und ihrer Familie auflehnen, und ihre willige Phantasie überzeugte sie, wenn auch vielleicht nur für den Augenblick, in Fjodor Pawlowitsch trotz seiner Schmarotzerstellung einen der kühnsten, spottlustigsten Männer jener auf alles orientierten Übergangsepoche zu sehen, während er in Wirklichkeit nichts als ein übler Possenreißer war. Das Pikante bestand auch darin, daß die Sache mittels einer Entführung vor sich ging, was für Adelaida Iwanowna einen besonderen Reiz hatte. Und Fjodor Pawlowitsch war damals schon wegen seiner sozialen Stellung zu allen derartigen Streichen bereit; er wünschte leidenschaftlich, Karriere zu machen, ganz gleich mit welchen Mitteln; und sich in eine gute Familie zu drängen und eine Mitgift einzustreichen, das hatte etwas sehr Verlockendes. Gegenseitige Liebe war, wie es scheint, nicht vorhanden, weder auf seiten der Braut noch auf seiner Seite, sogar trotz Adelaida Iwanownas Schönheit. So stand dieser Fall vielleicht einzig da im Leben Fjodor Pawlowitschs, dieses überaus sinnlichen Menschen, der jeden Augenblick bereit war, sich an jeden erstbesten Weiberrock zu hängen, wo immer ihn einer lockte. Trotzdem weckte nur diese eine Frau seine Leidenschaft nicht im geringsten.

Adelaida Iwanowna hatte gleich nach der Entführung erkannt, daß sie für ihren Mann nichts anderes als Verachtung empfinden konnte. So traten die Folgen dieser Heirat außerordentlich rasch zutage. Obwohl sich die Familie ziemlich bald mit dem Geschehenen aussöhnte und der Entflohenen ihre Mitgift auszahlte, begannen die Ehegatten ein ungeordnetes Leben mit ewigen Szenen. Man erzählte sich, die junge Frau habe unvergleichlich mehr Edelmut und Hochherzigkeit bekundet als Fjodor Pawlowitsch, der ihr, wie jetzt bekannt ist, ihr ganzes Geld, etwa fünfundzwanzigtausend Rubel, abnahm, sobald sie es bekommen hatte, so daß die Tausende für sie gleich ins Wasser gefallen waren. Lange Zeit bemühte er sich mit aller Kraft, ein kleines Gut und ein ziemlich gutes Stadthaus, die sie ebenfalls mitbekommen hatte, durch eine entsprechende Urkunde auf seinen Namen übertragen zu lassen. Wahrscheinlich hätte er es auch erreicht, und zwar allein dank der Verachtung und dem Ekel, die seine schamlosen Erpressungen und Betteleien bei seiner Gattin hervorriefen, dank ihrer seelischen Ermüdung und ihrem Wunsch, ihn loszuwerden; zum Glück jedoch schritt die Familie Adelaida Iwanownas ein und setzte der Räuberei eine Grenze. Es war zuverlässig bekannt, daß sich die Eheleute nicht selten schlugen, doch wollte man wissen, daß der aktive Teil nicht Fjodor Pawlowitsch war, sondern Adelaida Iwanowna, eine heißblütige, mutige, ungeduldige, brünette Frau mit bemerkenswerter Kraft. Schließlich verließ sie das Haus und floh mit einem bettelarmen Seminaristen, dem Lehrer Fjodor Pawlowitschs; den dreijährigen Mitja ließ sie zurück.

Fjodor Pawlowitsch richtete im Hause sofort einen ganzen Harem ein und ergab sich zügellos der Trunksucht; zwischendurch fuhr er im Gouvernement umher, beklagte sich weinend bei allen und jedem, Adelaida Iwanowna habe ihn verlassen, und erzählte dabei Einzelheiten aus seinem Eheleben, deren er sich als Ehemann eigentlich hätte schämen müssen. Besonders gefiel und schmeichelte es ihm, allen Leuten die lächerliche Rolle des gekränkten Ehemannes vorzuspielen und sogar die Einzelheiten der ihm angetanen Kränkung ausführlich zu schildern. »Man sollte meinen, Ihnen wäre eine Rangerhöhung zuteil geworden, Fjodor Pawlowitsch, so zufrieden sind Sie trotz Ihres Kummers«, sagten Spötter zu ihm. Viele fügten gar hinzu, er spiele gern wieder von neuem die Rolle des Possenreißers und tue, um noch mehr Gelächter zu erregen, absichtlich so, als merke er seine komische Lage gar nicht. Wer weiß, vielleicht war das bei ihm Naivität. Endlich gelang es ihm, die Spur seiner geflohenen Frau zu finden. Die Ärmste war mit ihrem Lehrer nach Petersburg gegangen, wo sie sich schrankenloser Emanzipation hingab. Fjodor Pawlowitsch entwickelte sofort eine geschäftige Tätigkeit und schickte sich an, nach Petersburg zu fahren; wozu, wußte er selbst nicht. Vielleicht wäre er auch wirklich gefahren; doch nachdem er den Entschluß gefaßt hatte, sah er es zunächst als sein gutes Recht an, zur Ermutigung vor der Reise erneut maßlos zu trinken. Und eben um diese Zeit erhielt die Familie seiner Gattin die Nachricht, daß sie in Petersburg ganz plötzlich gestorben war, in irgendeiner Dachkammer, dem einen Gerücht zufolge an Typhus, nach einem anderen einfach vor Hunger. Fjodor Pawlowitsch war betrunken, als er vom Tod seiner Gattin erfuhr; er soll auf die Straße gelaufen sein und mit zum Himmel erhobenen Armen voll Freude ausgerufen haben: »Nun lässest du mich in Frieden fahren.« Nach anderen Berichten soll er geweint und geschluchzt haben wie ein Kind, so daß man trotz allen Widerwillens angeblich sogar Mitleid für ihn empfand. Durchaus möglich, daß beides zutraf: daß er sich über seine Befreiung freute und dabei auch seine Befreierin beweinte – alles zugleich. Meistens sind die Menschen, sogar die schlechten, viel naiver und offenherziger, als wir gemeinhin annehmen. Und wir selber auch.

2. Der erste Sohn wird aus dem Haus geschafft

Man kann sich natürlich vorstellen, was für ein Erzieher und Vater so ein Mensch sein mußte. Er tat denn auch als Vater, was zu erwarten war, das heißt, er vernachlässigte das Kind vollkommen, nicht aus Haß, auch nicht aus dem Gefühl gekränkten Gattenstolzes, sondern einfach, weil er den Kleinen vergessen hatte. Während er alle Leute mit seinen Tränen und Klagen belästigte und sein Haus in eine Lasterhöhle verwandelte, nahm ein treuer Diener des Hauses namens Grigori den dreijährigen Mitja in seine Obhut, und hätte er nicht für ihn gesorgt, es wäre vielleicht niemandem eingefallen, dem Kind auch nur einmal das Hemd zu wechseln. Außerdem hatte auch die Verwandtschaft mütterlicherseits das Kind in der ersten Zeit fast völlig vergessen. Sein Großvater, Herr Miussow selbst, Adelaida Iwanownas Vater, war damals nicht mehr am Leben; seine verwitwete Gattin, Mitjas Großmutter, war nach Moskau verzogen und sehr krank; Adelaida Iwanownas Schwestern hatten sich verheiratet; infolgedessen mußte Mitja fast ein ganzes Jahr bei dem Diener Grigori zubringen und bei ihm im Gesindehaus wohnen. Selbst wenn sich der Papa seiner erinnert hätte (seine Existenz konnte ihm ja nicht unbekannt sein), er hätte ihn wieder ins Gesindehaus geschickt, da ihn das Kind bei seinen Ausschweifungen störte. Aber da kehrte ein Vetter der verstorbenen Adelaida Iwanowna, Pjotr Alexandrowitsch Miussow, aus Paris zurück, er lebte später viele Jahre ununterbrochen im Ausland, damals aber war er noch sehr jung. Von den übrigen Miussows unterschied er sich erheblich: Er war aufgeklärt, ein Freund der Großstadt und des Auslandes, dazu zeit seines Lebens ein Anhänger westeuropäischer Ideen und gegen Ende seines Lebens ein Liberaler unserer vierziger und fünfziger Jahre. Während seiner Laufbahn stand er mit vielen Liberalen in Rußland und im Ausland in Verbindung; er kannte Proudhon und Bakunin persönlich und erzählte am Ende seiner Wanderungen besonders gern von den drei Tagen der Pariser Februarrevolution von 1848, wobei er andeutete, daß er sich beinahe selbst auf den Barrikaden an ihr beteiligt habe. Das war für ihn eine der angenehmsten Erinnerungen aus seiner Jugendzeit. Er besaß ein beträchtliches eigenes Vermögen, nach der früheren Zählweise an die tausend Seelen. Sein schönes Gut lag nahe bei unserem Städtchen und grenzte an den Landbesitz unseres berühmten Klosters, mit dem Pjotr Alexandrowitsch schon in sehr jungen Jahren, gleich nachdem er sein Gut geerbt hatte, einen endlosen Prozeß begann, um das Recht irgendwelchen Fischfangs im Fluß oder irgendwelchen Holzeinschlags im Wald, genau weiß ich das nicht; einen Prozeß mit den »Klerikalen« hielt er sogar für seine Pflicht als Staatsbürger und aufgeklärter Mensch. Nachdem er alles über Adelaida Iwanowna gehört hatte, an die er sich noch erinnerte, weil sie ihm früher einmal aufgefallen war, und nachdem er erfahren hatte, daß Mitja zurückgeblieben war, nahm er sich trotz der jugendlichen Entrüstung und Verachtung, gegenüber Fjodor Pawlowitsch dieser Sache an. Bei diesem Anlaß lernte er Fjodor Pawlowitsch zum erstenmal kennen. Er erklärte ihm ohne Umschweife, er wünsche die Erziehung des Kindes zu übernehmen. Lange Zeit später erzählte er wiederholt folgende charakteristische Episode: Als er begonnen habe, mit Fjodor Pawlowitsch über Mitja zu sprechen, habe jener eine Weile so getan, als verstehe er schlechterdings nicht, von welchem Kind die Rede sei; er habe sogar gestaunt, daß er irgendwo im Hause einen kleinen Sohn besitzen sollte. Pjotr Alexandrowitschs Bericht mag vielleicht übertrieben gewesen sein, etwas Wahrheit enthielt er doch. Aber Fjodor Pawlowitsch verstellte sich in der Tat sein ganzes Leben lang gern, begann plötzlich vor jemand irgendeine unerwartete Rolle zu spielen, und zwar, was besonders hervorgehoben werden muß, manchmal ganz unnötig, sogar zu seinem eigenen Schaden, wie zum Beispiel im vorliegenden Fall. Dieser Charakterzug ist übrigens vielen Menschen eigen, sogar sehr klugen, nicht nur solchen wie Fjodor Pawlowitsch. Pjotr Alexandrowitsch betrieb die Sache mit großem Eifer und wurde zusammen mit Fjodor Pawlowitsch zum Vormund des Kindes berufen, weil er von der Mutter etwas Vermögen geerbt hatte, nämlich das Haus und das Gut. Mitja siedelte denn auch wirklich zu diesem entfernten Onkel über. Eine eigene Familie besaß dieser nicht, und da er es eilig hatte, wieder für lange Zeit nach Paris zu reisen, übergab er das Kind einer entfernten Tante, einer Moskauer Dame, nachdem er die Zusendung von Geld geregelt hatte. So vergaß auch er das Kind, sobald er sich in Paris wieder eingelebt hatte, besonders als jene Februarrevolution ausbrach, die zeit seines Lebens seine Phantasie fesselte. Die Moskauer Dame jedoch starb, und Mitja wurde von einer ihrer verheirateten Töchter übernommen. Später scheint er nochmals, zum vierten Male, sein Nest gewechselt zu haben, doch will ich mich darüber nicht weiter auslassen, zumal von diesem Erstgeborenen Fjodor Pawlowitschs noch viel zu erzählen sein wird. Ich beschränke mich jetzt auf die notwendigsten Nachrichten über ihn, ohne die ich diesen Roman nicht beginnen kann.

Erstens, dieser Dmitri Fjodorowitsch war von den drei Söhnen Fjodor Pawlowitschs der einzige, der in der Überzeugung aufwuchs, er besitze einiges Vermögen und werde nach erreichter Volljährigkeit unabhängig dastehen. Seine Knaben- und Jünglingsjahre verliefen ungeordnet; ohne das Gymnasium beendet zu haben, kam er auf eine Militärschule, wurde dann in den Kaukasus verschlagen, zum Offizier befördert, duellierte sich, wurde degradiert, diente sich wieder empor, führte ein lockeres Leben und verbrauchte verhältnismäßig viel Geld. Und da er von Fjodor Pawlowitsch vor seiner Mündigkeit keins bekam, machte er bis dahin Schulden. Seinen Vater lernte er erst kennen, als er sofort nach Erreichen der Mündigkeit in unsere Stadt kam, um sich mit ihm über sein Vermögen zu einigen. Sein Erzeuger schien ihm damals nicht sonderlich gefallen zu haben; er blieb nicht lange und reiste so bald wie möglich wieder ab, nachdem er etwas Geld erhalten und eine Art Vertrag über die weiteren Einkünfte aus dem Gut mit ihm geschlossen hatte; über dessen Rentabilität und Wert erhielt er jedoch von Fjodor Pawlowitsch keine Auskunft – eine bemerkenswerte Tatsache. Fjodor Pawlowitsch merkte damals sofort – auch das sei festgehalten –, daß Mitja sich von seinem Vermögen eine übertriebene, unrichtige Vorstellung machte. Fjodor Pawlowitsch war damit sehr zufrieden; er hatte seine Pläne. Er sah, daß der junge Mann leichtsinnig, hitzig, leidenschaftlich, ungeduldig und verschwenderisch war. ›Ich brauche ihm‹, sagte er sich, ›nur von Zeit zu Zeit etwas zukommen zu lassen, dann wird er sich sofort beruhigen, wenn auch selbstverständlich nur für eine Weile.‹ Diese Tatsache begann Fjodor Pawlowitsch auszunutzen: Er speiste ihn von Zeit zu Zeit mit kleinen Gaben ab, und das Ende vom Lied war, nach vier Jahren, als Mitja, ungeduldig geworden, zum zweitenmal im Städtchen erschien, um seine Angelegenheiten mit dem Vater nunmehr endgültig zu ordnen, erfuhr er plötzlich zu seinem größten Erstaunen, daß er bereits nichts mehr besaß, daß sogar eine ordentliche Abrechnung schwierig war, daß er durch die Geldzahlungen nach und nach den ganzen Wert seines Besitztums von Fjodor Pawlowitsch erhalten und womöglich gar schon Schulden gemacht hätte und daß er nach den und den Abmachungen, die dann und dann auf seinen eigenen Wunsch getroffen worden waren, zu keinen weiteren Forderungen berechtigt wäre, und so weiter. Der junge Mann war bestürzt; er vermutete Unrecht und Betrug, geriet außer sich und verlor beinahe den Verstand. Und eben dieser Umstand führte zu der Katastrophe, die der Gegenstand meines ersten, einleitenden Romanes ist oder, richtiger, sein äußerer Rahmen. Bevor ich aber zu diesem Roman komme, muß ich noch von den anderen beiden Söhnen Fjodor Pawlowitschs, Mitjas Brüdern, berichten und etwas zu ihrer Herkunft sagen.

3. Die zweite Ehe und die Kinder daraus

Bald nachdem Fjodor Pawlowitsch den vierjährigen Mitja losgeworden war, heiratete er zum zweitenmal, und diese zweite Ehe dauerte ungefähr acht Jahre. Er holte sich seine zweite, ebenfalls sehr junge Frau, Sofja Iwanowna, aus einem anderen Gouvernement, wohin er mit einem Juden wegen eines kleinen Liefergeschäfts gefahren war. Obgleich Fjodor Pawlowitsch ein Trinker und Wüstling war, beschäftigte er sich nämlich ununterbrochen mit der vorteilhaften Anlage seines Kapitals und brachte seine Geschäftchen immer glücklich, wenn auch fast immer auf betrügerische Weise, zu Ende. Sofja Iwanowna, Tochter eines Diakons, war seit ihrer Kindheit Waise; aufgewachsen war sie im Hause ihrer Wohltäterin, Erzieherin und Peinigerin, einer angesehenen reichen, alten Dame, der Witwe des Generals Worochow. Näheres weiß ich nicht; ich habe nur gehört, daß man die sanfte, gutmütige, fügsame Pflegetochter einmal aus einer Schlinge befreite, die sie an einem Nagel in der Rumpelkammer befestigt hatte – so schwer ertrug sie den Eigensinn und die ewigen Vorwürfe der boshaften Alten, die durch den Müßiggang ein so unausstehlicher Querkopf geworden war. Fjodor Pawlowitsch bewarb sich um die Hand des Mädchens, die alte Frau zog Erkundigungen ein und wies ihm die Tür; und wieder schlug er, wie bei seiner ersten Ehe, eine Entführung vor. Wahrscheinlich hätte sie ihn um keinen Preis geheiratet, wäre ihr rechtzeitig Näheres über ihn bekannt gewesen. Aber er stammte aus einem anderen Gouvernement, und der Verstand des sechzehnjährigen Mädchens reichte nur zu der Überlegung: Lieber in den Fluß gehen als länger bei der Wohltäterin bleiben. So vertauschte sie die Wohltäterin mit einem Wohltäter. Fjodor Pawlowitsch erhielt diesmal keine Kopeke; die Generalin war wütend, gab nichts und verfluchte die beiden. Er hatte auch nicht damit gerechnet, etwas zu bekommen; ihn reizte nur die auffallende Schönheit des Mädchens, vor allem ihr unschuldiger Gesichtsausdruck, der auf ihn, den immer nur lüsternen Liebhaber körperlicher weiblicher Reize, starken Eindruck machte. »Diese unschuldigen Äuglein strichen mir damals wie ein Rasiermesser übers Herz«, sagte er später mit seinem gemeinen häßlichen Kichern. Doch auch das konnte für einen so verdorbenen Menschen nichts anderes als ein sinnlicher Reiz sein. Da er von seiner Heirat keinerlei materiellen Vorteil hatte, machte Fjodor Pawlowitsch mit seiner Frau keine Umstände; sie hatte ihm sozusagen »Schaden gebracht«, und er hatte sie gewissermaßen »aus der Schlinge genommen« – also trat er, ihre unglaubliche Demut und Fügsamkeit ausnutzend, die gewöhnlichsten ehelichen Anstandsregeln geradezu mit Füßen. In seinem Hause feierte er vor den Augen seiner Frau Orgien mit liederlichen Weibern. Als charakteristisch führe ich an, daß sich der Diener Grigori, ein finsterer, dummer, eigensinniger, rechthaberischer Mensch, der die frühere Hausfrau, Adelaida Iwanowna, gehaßt hatte, diesmal auf die Seite der Frau stellte und sich ihretwillen mit Fjodor Pawlowitsch für einen Diener fast unerlaubt heftig stritt. Einmal verhinderte er sogar eine Orgie und jagte alle Dirnen gewaltsam aus dem Haus. Später bekam die unglückliche, seit frühester Kindheit verschüchterte junge Frau eine Art nervöse Frauenkrankheit, die am häufigsten beim einfachen Volk, bei Bäuerinnen, vorkommt, die sogenannte »Schreikrankheit«. Infolge dieser mit hysterischen Anfällen verbundenen Krankheit verlor sie zeitweilig sogar den Verstand. Sie gebar jedoch ihrem Mann zwei Söhne, Iwan und Alexej, Iwan im ersten Jahr ihrer Ehe, Alexej drei Jahre später. Als sie starb, war der kleine Alexej noch keine vier Jahre alt, und wenn das auch seltsam ist, ich weiß zuverlässig, daß er sich später sein ganzes Leben an die Mutter erinnerte, natürlich nur wie im Traum. Nach ihrem Tod erging es den beiden Knaben fast ebenso wie dem ersten, Mitja: Der Vater vergaß sie und kümmerte sich nicht im geringsten um sie; sie kamen zu demselben Grigori ins Gesindehaus. Da fand sie auch die alte querköpfige Generalin, die Wohltäterin und Erzieherin ihrer Mutter. Sie war noch am Leben und hatte all die acht Jahre die ihr angetane Kränkung nicht vergessen. Über Sofjas Schicksal hatte sie ständig unterderhand die genauesten Nachrichten erhalten, und als sie hörte, wie krank sie war und unter welchen schlimmen Umständen sie lebte, hatte sie mehrmals zu ihren Kostgängerinnen gesagt: »Das geschieht, ihr recht; das hat ihr Gott zur Strafe für ihre Undankbarkeit geschickt.«

Genau drei Monate nach Sofja Iwanownas Tod erschien die Generalin plötzlich in unserer Stadt und fuhr geradewegs zu Fjodor Pawlowitsch. Sie hielt sich zwar nur ungefähr eine halbe Stunde auf, richtete aber dennoch viel aus. Es war gegen Abend. Fjodor Pawlowitsch, den sie in den acht Jahren nicht gesehen hatte, empfing sie betrunken. Sie soll ihm sofort ohne alle Erklärungen zwei schallende Ohrfeigen versetzt und ihn dreimal an den Haaren fast bis zur Erde gezerrt haben. Dann ging sie, ohne ein Wort zu sagen, in das Gesindehaus zu den Knaben. Da sie auf den ersten Blick sah, daß sie ungewaschen waren und schmutzige Wäsche trugen, verabreichte sie unverzüglich auch noch dem Diener Grigori eine Ohrfeige und erklärte ihm, sie werde die Kinder zu sich nehmen. Darauf nahm sie die beiden, wie sie waren, wickelte sie in eine Decke, setzte sie in den Wagen und fuhr mit ihnen in die Stadt, wo sie wohnte. Grigori ertrug die Ohrfeige wie ein Sklave, wortlos; als er die alte Dame zum Wagen geleitete, verbeugte er sich tief und sagte eindringlich, Gott werde ihr lohnen, was sie an den Waisen tun wolle. »Ein Tölpel bist du trotzdem!« rief ihm die Generalin im Abfahren zu. Fjodor Pawlowitsch fand bei näherer Überlegung die Sache ganz in Ordnung und erhob später bei seinem formellen Einverständnis mit der Erziehung der Kinder durch die Generalin in keinem Punkt Einspruch. Von den Ohrfeigen jedoch erzählte er selbst in der ganzen Stadt.

Bald darauf starb auch die Generalin. In ihrem Testament hatte sie für jeden der Knaben tausend Rubel ausgesetzt; das Geld sollte unter allen Umständen für sie und nur für sie verausgabt werden, »zu ihrer Erziehung«, und zwar so, daß es bis zu ihrer Volljährigkeit reiche; für derartige Kinder reiche ein solches Geschenk vollauf; wenn jemand Lust habe, so möge er selbst seinen Beutel auftun und so weiter, und so weiter. Ich habe das Testament nicht gelesen, weiß aber, daß es wirklich solch eine sonderbare Bestimmung enthielt. Der Haupterbe der Alten, der Adelsmarschall jenes Gouvernements, Jefim Petrowitsch Poljonow, erwies sich allerdings als Ehrenmann. Nach einer langen Korrespondenz mit Fjodor Pawlowitsch mußte er einsehen, daß von ihm kein Geld zur Erziehung seiner Kinder zu bekommen war; der Vater weigerte sich zwar nie direkt, zog aber die Sache in die Länge und erging sich höchstens in sentimentalen Redensarten. Also nahm er sich selbst der Kinder an und gewann vor allem Alexej, den jüngeren, lieb; dieser wurde sogar lange Zeit in seiner Familie erzogen. Dies bitte ich von vornherein zu beachten. Wenn die jungen Menschen jemandem für ihre Erziehung und Bildung zu Dank verpflichtet waren, so Jefim Petrowitsch, einem edeldenkenden, humanen Menschen, wie man ihn selten findet. Er ließ die von der Generalin hinterlassenen Summen von je tausend Rubeln unangetastet, so daß sie bei Volljährigkeit der Knaben mit den Zinsen auf je zweitausend angewachsen waren, erzog die Knaben auf seine eigenen Kosten und gab dabei natürlich weit über tausend Rubel für jeden aus. Auf eine ausführliche Schilderung ihrer Kinder- und Jugendzeit verzichte ich wiederum, ich führe nur das Wichtigste an. Iwan entwickelte sich zu einem finsteren, verschlossenen Knaben; er war nicht schüchtern, schien aber schon als Zehnjähriger zu spüren, daß sie in einer fremden Familie aufwuchsen und von fremder Barmherzigkeit lebten und daß sie einen Vater hatten, dessen man sich schämen mußte und so weiter, und so weiter. Dieser Knabe zeigte schon in früher Kindheit (wenigstens erzählte man das) ungewöhnliche, glänzende Fähigkeiten. Ich weiß nichts Genaues, jedenfalls verließ er wohl, kaum dreizehnjährig, die Familie Jefim Petrowitschs und kam auf ein Moskauer Gymnasium, wo ein erfahrener, angesehener Pädagoge, ein Jugendfreund Jefim Petrowitschs, ihn in Pension nahm. Iwan selbst erzählte später, all das sei eine Folge von Jefim Petrowitschs »feuriger Begeisterung für gute Taten« gewesen; er habe sich durch die Idee begeistern lassen, ein genial veranlagter Knabe müsse auch einen genialen Erzieher haben. Übrigens waren Jefim Petrowitsch wie auch der geniale Erzieher bereits tot, als der junge Mann nach dem Gymnasium die Universität bezog. Da Jefim Petrowitsch mangelhafte Anordnungen getroffen hatte und die Auszahlung des Geldes der Generalin sich infolge der unvermeidlichen Formalitäten verzögerte, ging es dem jungen Mann in den beiden ersten Universitätsjahren recht schlecht; er mußte selbst für seinen Unterhalt sorgen und gleichzeitig studieren. Es sei vermerkt, daß er nicht einmal versuchte, mit seinem Vater in Briefwechsel zu treten – vielleicht aus Stolz oder aus Verachtung, vielleicht auch in der kühlen, gesunden Erkenntnis, daß von seinem werten Papa doch keine ernsthafte Beihilfe zu erwarten war. Wie auch immer, jedenfalls verlor der junge Mann nicht den Kopf und verschaffte sich Arbeit. Zuerst gab er Privatstunden für zwanzig Kopeken, dann lieferte er bei den Zeitungsredaktionen zehnzeilige Artikel über Straßenvorfälle mit der Unterschrift »Ein Augenzeuge« ab. Die kleinen Notizen sollen immer so interessant und pikant abgefaßt gewesen sein, daß sie schnell Anklang fanden. Schon hierdurch zeigte der junge Mann seine praktische und geistige Überlegenheit gegenüber den vielen, immer notleidenden und unglücklichen studierenden Jugendlichen beiderlei Geschlechts, die in den Hauptstädten von früh bis spät in die Redaktionen der Zeitungen und Journale laufen und nichts Besseres wissen, als ständig zu betteln, man möge ihnen Übersetzungen aus dem Französischen oder die Anfertigung von Reinschriften übertragen. Einmal mit den Redaktionen bekannt geworden, brach Iwan Fjodorowitsch die Verbindungen nicht wieder ab und ließ in seinen letzten Universitätsjahren talentvolle Rezensionen von allerlei fachwissenschaftlichen Büchern drucken, so daß er sogar in literarischen Kreisen bekannt wurde. Jedoch zog er erst in der allerletzten Zeit, und zwar ganz plötzlich, die Aufmerksamkeit eines größeren Leserkreises auf sich. Ein ziemlich eigenartiger Zufall brachte es mit sich, daß ihn auf einmal viele beachteten und in Erinnerung behielten. Als Iwan Fjodorowitsch eigentlich schon von der Universität abgehen und für seine zweitausend Rubel ins Ausland reisen wollte, veröffentlichte er in einer der größten Zeitungen plötzlich einen sonderbaren Aufsatz, der ihm sogar beim nichtfachmännischen Publikum Beachtung verschaffte. Es war ein Aufsatz über ein Thema, das ihm anscheinend ganz fernlag, da er Naturwissenschaften studiert hatte: die kirchliche Gerichtsbarkeit. Nachdem er einige andere Meinungen geprüft hatte, trug er seine persönliche Ansicht vor. Besonderes Interesse erregten der Ton seiner Arbeit und ihre überraschenden Schlußfolgerungen. Viele Kirchliche hielten den Verfasser für einen ihrer Anhänger, bis ihm auf einmal nicht nur die Verfechter ziviler Gerichtsbarkeit, sondern auch die Atheisten Beifall spendeten. Schließlich erklärten einige besonders scharfsinnige Köpfe, der ganze Aufsatz sei nur eine dreiste Farce und eine Verhöhnung. Ich erwähne das alles, weil der Aufsatz seinerzeit auch in das berühmte Kloster nahe unserer Stadt gelangte und bei dessen Insassen, die sich lebhaft für die Frage der kirchlichen Gerichtsbarkeit interessierten, die größte Verwunderung hervorrief. Als sie dann den Namen des Verfassers erfuhren, erregte es ihr besonderes Interesse, daß er aus unserer Stadt stammte und ein Sohn »eben dieses Fjodor Pawlowitsch« war. Gerade zu dieser Zeit erschien übrigens auch der Verfasser selbst in unserer Stadt.

Warum kam Iwan Fjodorowitsch damals zu uns? Ich habe mir diese Frage, gleichsam beunruhigt schon damals gestellt. Diese verhängnisvolle Ankunft, die vielerlei Folgen hatte, blieb mir noch lange nachher, ja fast immer unklar. Es war schon an und für sich seltsam, daß ein derart gelehrter, stolzer und anscheinend vorsichtiger junger Mann in solch einem Haus erschien, bei einem Vater, der ihn zeit seines Lebens ignoriert hatte, der unter keinen Umständen Geld herausrücken würde, auch wenn er vom eigenen Sohn darum gebeten worden wäre, und der dennoch sein Leben lang fürchtete, seine Söhne Iwan und Alexej könnten einmal kommen und Geld von ihm verlangen. Und siehe da, der junge Mann läßt sich im Haus dieses Vaters nieder, bleibt einen und noch einen Monat bei ihm, und beide leben so gut miteinander, wie man es sich besser nicht vorstellen kann. Das letztere erstaunt mich besonders, und so wie mir ging es vielen. Pjotr Alexandrowitsch Miussow, der entfernte Verwandte Fjodor Pawlowitschs, von dem ich schon gesprochen habe, tauchte damals zufällig wieder bei uns, auf seinem nahe bei der Stadt gelegenen Gut, auf, er war aus Paris, wo er ständig wohnte, zu Besuch gekommen. Ich erinnere mich, daß gerade er sich am allermeisten wunderte, nachdem er den jungen Mann kennengelernt hatte; er interessierte ihn sehr, und nicht ohne innerlichen Schmerz maß er sich manchmal mit ihm im Wissen. »Er ist stolz«, sagte er damals zu uns, »er wird sich stets sein Geld verdienen, hat auch jetzt schon genug zu einer Auslandreise – was will er denn hier? Daß er nicht zu seinem Vater gekommen ist, um Geld zu erbitten, ist klar: Der Vater gibt ihm auf keinen Fall welches. Trinken und Ausschweifungen mag er nicht, und doch kann der Alte nicht mehr ohne ihn leben, so haben sie sich aneinander gewöhnt!« Das war die Wahrheit. Der junge Mann hatte sogar sichtlich Einfluß auf den Alten; ja, dieser begann beinahe schon, auf ihn zu hören, obwohl er mitunter ungewöhnlich und geradezu boshaft eigensinnig war. Bisweilen benahm er sich sogar etwas anständiger …

Erst später stellte sich heraus, daß Iwan Fjodorowitsch teils auf Bitten, teils in Angelegenheiten seines älteren Bruders Dmitri Fjodorowitsch gekommen war. Ihn sah er damals gleichfalls zum erstenmal, hatte mit ihm aber schon vor seiner Ankunft aus Moskau in einer wichtigen Sache, die mehr Dmitri Fjodorowitsch anging, in Briefwechsel gestanden. Was das für eine Sache war, wird der Leser später ausführlich erfahren. Trotzdem erschien mir, auch als ich diesen Umstand kannte, Iwan Fjodorowitsch noch immer rätselhaft, und sein Besuch blieb mir unerklärlich.

Ich füge noch hinzu, Iwan Fjodorowitsch schien damals zwischen dem Vater und seinem älteren Bruder Dmitri Fjodorowitsch vermitteln zu wollen, denn der letztere hatte sich mit dem Vater zerstritten und sogar einen formellen Prozeß gegen ihn angestrengt.

Ich wiederhole, diese kleine Familie war damals zum erstenmal im Leben vollzählig beisammen, einige von ihnen sahen sich überhaupt zum erstenmal. Nur der jüngste Sohn, Alexej Fjodorowitsch, lebte bereits ein Jahr bei uns; er war also früher als alle Brüder zu uns gekommen. Über ihn in der einleitenden Erzählung zu sprechen, bevor ich ihn im Roman auf die Bühne bringe, fällt mir besonders schwer. Ich muß aber auch über ihn eine Vorbemerkung machen und vorbereitend einen sonderbaren Punkt erklären; ich bin nämlich genötigt, meinen künftigen Helden gleich in der ersten Szene in der Kutte eines Novizen vorzustellen. Ein Jahr etwa hatte er damals schon in unserm Kloster verbracht, und er bereitete sich, wie es schien, ernstlich darauf vor, sich für das ganze Leben darin einzuschließen.

4. Der dritte Sohn Aljoscha

Er war damals erst zwanzig Jahre alt; sein Bruder Iwan war im vierundzwanzigsten, ihr ältester Bruder Dmitri im achtundzwanzigsten Lebensjahr. Zuallererst erkläre ich, dieser Aljoscha war ganz und gar kein Fanatiker und ebensowenig ein Mystiker, nach meiner Meinung wenigstens. Ich will von vornherein meine Ansicht rückhaltlos aussprechen. Er war einfach ein jugendlicher Menschenfreund, und wenn er ins Kloster ging, so nur, weil allein dieser Weg zu jener Zeit seine Bewunderung erregte und sich seiner aus der dunklen Schlechtigkeit der Welt zum Licht der Liebe strebenden Seele gewissermaßen als idealer Ausweg anbot. Ihm imponierte dieser Weg nur deswegen, weil er auf ihm einer – wie er meinte – ungewöhnlichen Persönlichkeit begegnet war, unserem berühmten Starez Sossima, an den er sich mit der ganzen unersättlichen Leidenschaft der ersten Liebe anschloß. Ich bestreite allerdings nicht, daß er auch damals schon ein sonderbarer Mensch war, eigentlich von der Wiege an. Ich habe bereits erwähnt, daß er sich sein Leben lang an seine Mutter erinnerte, an ihr Gesicht und an ihre Liebkosungen, »ganz als ob sie lebendig vor mir stünde« und das, obwohl sie gestorben war, als er noch nicht vier Jahr alt war. Solche Erinnerungen bleiben bekanntlich aus noch früherer Zeit, aus dem zweiten Lebensjahr sogar, haften, aber sie treten das ganze Leben hindurch nur wie helle Punkte aus dem Dunkel hervor, wie ein abgerißnes Eckchen von einem großen Gemälde, das ganz verblichen und verschwunden ist bis auf dieses Eckchen. Genauso war es bei ihm; er erinnerte sich an einen stillen Sommerabend, an ein geöffnetes Fenster, an die schrägen Strahlen der untergehenden Sonne (die schrägen Strahlen hatte er am deutlichsten im Gedächtnis), an das Heiligenbild, das brennende Lämpchen in der Ecke des Zimmers, davor seine Mutter, sie lag auf Knien und schrie, umschlang ihn mit beiden Armen und drückte ihn an sich, daß es ihm weh tat; dann betete sie für ihn zur Muttergottes, dabei streckte sie ihn mit beiden Händen dem Heiligenbild entgegen, als wollte sie ihn unter den Schutz der Muttergottes stellen, und dann kam plötzlich die Kinderfrau und riß ihn von der Mutter weg. Das war das Bild, das ihm vor Augen stand! Aljoscha wußte auch noch, wie das Gesicht der Mutter in jenem Augenblick ausgesehen hatte: verzückt, aber schön, soweit er sich erinnern könne. Aber nur selten vertraute er jemandem diese Erinnerung an. In seiner Kindheit und seinen Jugendjahren war er wenig mitteilsam, sogar wortkarg, aber nicht aus Schüchternheit und finsterer Menschenscheu, sondern aus einer Art Innerer, rein persönlicher Sorge, die andere Menschen nichts anging, aber für ihn selbst so wichtig war, daß er um ihretwillen die anderen gewissermaßen vergaß. Er liebte die Menschen; er schien ihnen sein ganzes Leben hindurch zu vertrauen, und dabei hielt ihn nie jemand für beschränkt oder naiv. Etwas war in ihm, was nachdrücklich bekundete (auch in seinem ganzen späteren Leben), daß er nicht über die Menschen richten und sie um keinen Preis verdammen wolle. Da er unter keinen Umständen jemand verdammte, schien es sogar, als halte er alles für berechtigt, obgleich er oft tieftraurig war. Mehr noch: in diesem Sinn ging er so weit, daß ihn niemand erstaunen oder erschrecken konnte, und das schon seit seiner frühesten Jugend. Als er mit zwanzig Jahren zu seinem Vater kam und geradezu in eine schmutzige Lasterhöhle geriet, entfernte er sich immer nur schweigend, wenn er in seiner Reinheit etwas nicht mehr mit ansehen konnte, aber ohne das geringste Zeichen von Verachtung oder Verdammung für irgendwen. Sein Vater, der als ehemaliger Kostgänger ein feines Ohr für Beleidigungen besaß, war ihm gegenüber zwar anfangs mißtrauisch und mürrisch (»Der schweigt mir zuviel und denkt zuviel im stillen«), ließ das aber bald, schon nach etwa vierzehn Tagen, und begann Ihn schrecklich oft zu umarmen und abzuküssen. Trotz aller Säufertränen und der Betrunkenenrührseligkeit sah man doch, daß er ihn so tief und aufrichtig liebgewonnen hatte, wie es wohl niemand von seinem Schlag gelingen würde.

Alle Menschen liebten diesen Aljoscha; das war so schon von seinen Kinderjahren an. Als er im Hause seines Wohltäters und Erziehers Jefim Petrowitsch Poljonow lebte, nahm er dessen gesamte Familie derart für sich ein, daß man ihn wie ein eigenes Kind behandelte. Und er war so jung in dieses Haus gekommen, daß man bei ihm weder berechnende Schlauheit und Intrigantentum erwarten konnte noch die Kunst, sich einzuschmeicheln und andere zu gewinnen. Die Gabe, sich besondere Zuneigung zu erwerben, war ungekünstelt, unmittelbar, sie machte gleichsam einen Teil seiner Natur aus. Ebenso erging es ihm in der Schule, eigentlich gehörte er doch gerade zu jenen Kindern, die bei ihren Kameraden Mißtrauen, manchmal Spottlust, wenn nicht gar Haß erwecken. Er war ein Grübler und sonderte sich oft von den anderen ab. Er zog sich von Kindheit an gern in einen Winkel zurück und las, und trotzdem schätzten ihn seine Kameraden derart, daß man ihn als Liebling aller bezeichnen konnte. Selten war er ausgelassen, selten auch nur lustig; aber alle sahen mit einem Blick, das zeugte durchaus nicht von Mißmut, sondern von Ausgeglichenheit und Ruhe. Er wollte sich unter seinen Altersgenossen nicht hervortun und fürchtete sich vielleicht gerade deshalb vor keinem. Die Knaben merkten indes sofort, daß er sich mit seiner Furchtlosigkeit nicht brüstete: Er schien sich seiner Kühnheit und Unerschrockenheit gar nicht bewußt zu sein. Beleidigungen vergaß er rasch. Es kam vor, daß er einem, der ihn gekränkt hatte, nach einer Stunde so vertrauensvoll und ruhig antwortete oder selbst ein Gespräch mit ihm anfing, als wäre überhaupt nichts zwischen ihnen vorgefallen. Nie hatte es in solchen Fällen den Anschein, er hätte die Beleidigung zufällig vergessen oder absichtlich verziehen; er hielt sie einfach nicht für eine Beleidigung, und das besonders entwaffnete die Kameraden und unterwarf sie ihm. Ein Charakterzug aber erregte von der untersten Klasse des Gymnasiums bis zur obersten die Necklust seiner Kameraden, nicht aus Bosheit, sondern weil es sie amüsierte. Das war seine ungekünstelte, fanatische Schamhaftigkeit. Er konnte gewisse Worte und Gespräche über Frauen nicht vertragen, und diese »gewissen« Worte und Gespräche sind in den Schulen leider unausrottbar. Knaben, unverdorben und fast noch Kinder, reden zuweilen in den Klassen ganz laut von Dingen, von denen nicht einmal Soldaten sprechen; ja, die Soldaten wissen und verstehen oft vieles nicht, was auf diesem Gebiet schon den jungen Kindern unserer gebildeten höchsten Gesellschaftskreise bekannt ist. Moralische Verderbtheit braucht das nicht zu sein, auch nicht echter, im Innersten schamloser Zynismus; es ist ein äußerlicher Zynismus, der als interessant oder elegant, als forsch und nachahmenswert gilt. Als die Kameraden sahen, daß sich Aljoschka Karamasow die Ohren zuhielt, sobald sie von »solchen Dingen« zu reden begannen, stellten sie sich manchmal absichtlich dicht um ihn herum, rissen ihm die Hände von den Ohren und schrien die Unanständigkeiten. Aljoscha machte sich frei, ließ sich zu Boden fallen, verbarg sich, ohne ein Wort zu sagen, ohne zu schimpfen: Er ertrug die Beleidigung schweigend. Erst gegen Ende der Schulzeit ließen sie ihn in Ruhe und hänselten »das Mädchen« nicht mehr; sie blickten eher mitleidig auf ihn herab. Übrigens war er, was das Lernen anlangte, einer der Besten, doch niemals ausdrücklich Erster.

Nach Jefim Petrowitschs Tod blieb Aljoscha noch zwei Jahre auf dem Gymnasium der Gouvernementsstadt. Jefim Petrowitschs Witwe begab sich mit der ganzen, nur aus weiblichen Personen bestehenden Familie für längere Zeit nach Italien, und Aljoscha kam in das Haus zweier Damen, entfernter Verwandter Jefim Petrowitschs, die er bis dahin nie gesehen hatte – unter welchen Abmachungen, das wußte er selbst nicht. Ein charakteristischer, sogar sehr charakteristischer Zug an ihm war, daß er sich nie darum kümmerte, auf wessen Kosten er lebte. In diesem Punkt war er das direkte Gegenteil seines älteren Bruders Iwan Fjodorowitsch, der sich die ersten beiden Universitätsjahre kümmerlich durch eigene Arbeit ernährte und es von Kindheit an als bitter empfand, aus der Tasche eines Wohltäters leben zu müssen. Man durfte jedoch diesen seltsamen Zug an Alexejs Charakter nicht allzu streng beurteilen; jeder, der ihn näher kennenlernte, konnte bei einem Gespräch über dieses Thema feststellen, daß Alexej so etwas wie ein »frommer Narr« war. Wäre ihm plötzlich ein Kapital zugefallen, er hätte es sicherlich unbedenklich auf die erste Bitte weggegeben, sei es zu einem guten Zweck, sei es, weil ein geschickter Schwindler ihn darum ersuchte. Überhaupt schien er den Wert des Geldes nicht zu kennen – selbstverständlich meine ich das nicht im buchstäblichen Sinn. Wenn er Taschengeld bekam (worum er niemals bat), so wußte er entweder wochenlang nichts damit anzufangen, oder er ging so erschreckend achtlos damit um, daß es im Nu verschwunden war. Pjotr Alexandrowitsch Miussow, der ein feines Gefühl für Geld und bürgerliche Ehrenhaftigkeit besaß, sagte später einmal über Alexej: »Er ist vielleicht der einzige Mensch auf der Welt, der, plötzlich allein und ohne Geld auf einen Platz in einer fremden Millionenstadt verschlagen, bestimmt nicht umkommen würde. Man würde ihm sofort Nahrung und Unterkunft gewähren; täten es die Leute nicht von allein, würde er sich selbst bei jemand unterbringen, was ihn nicht die geringste Überwindung kosten und keine Erniedrigung für ihn bedeuten würde. Und, die ihn aufnähmen, wurden das nicht als Last, sondern im Gegenteil vielleicht als Vergnügen empfinden.«

Das Gymnasium beendete er nicht; es fehlte ihm noch ein ganzes Jahr, als er den Damen auf einmal erklärte, er wolle zu seinem Vater fahren: in einer Angelegenheit, die ihm eingefallen sei. Den Damen tat das leid, sie wollten ihn gar nicht weglassen. Die Fahrt kostete nur wenig, und die Damen erlaubten ihm nicht, seine Uhr, die ihm die Familie seines Wohltäters vor ihrer Abreise ins Ausland geschenkt hatte, zu versetzen. Sie statteten ihn reichlich mit Geld aus, versorgten ihn sogar mit neuen Kleidern und neuer Wäsche. Die Hälfte des Geldes gab er ihnen jedoch mit der Erklärung zurück, er wollte unbedingt dritter Klasse fahren. Nach der Ankunft in unserem Städtchen gab er seinem Vater auf die Frage, warum er eigentlich vor Abschluß des Gymnasiums gekommen sei, überhaupt keine Antwort; er war nur ungewöhnlich nachdenklich. Bald stellte sich heraus, daß er das Grab seiner Mutter suchte. Er gab damals sogar selber zu, nur deshalb gekommen zu sein. Aber das dürfte schwerlich der einzige Grund gewesen sein. Wahrscheinlich wußte er selbst nicht, was plötzlich in seiner Seele erwacht war und ihn unwiderstehlich auf einen neuen, unbekannten, aber schon unvermeidlichen Weg zog. Fjodor Pawlowitsch konnte ihm nicht zeigen, wo seine zweite Frau begraben lag; er war nicht wieder an ihrem Grab gewesen, seit man den Sarg zugeschüttet hatte, und während der vielen dazwischenliegenden Jahre hatte er völlig vergessen, wo sie beerdigt worden war.

Bei dieser Gelegenheit noch ein paar Worte über Fjodor Pawlowitsch. Er hatte vor Aljoschas Ankunft lange nicht in unserer Stadt gelebt. Drei oder vier Jahre nach dem Tode seiner zweiten Frau war er nach Südrußland gegangen, zuletzt nach Odessa, wo er mehrere Jahre verbrachte. Anfangs hatte er dort, wie er sich ausdrückte, »viele Juden und Jüdchen« kennengelernt, und zuletzt war er nicht nur »bei Juden, sondern auch bei den Hebräern ein und aus gegangen«. Es ist anzunehmen, daß er sich in dieser Periode seines Lebens die besondere Kunst zu eigen machte, Geld zusammenzuscharren, indem er es anderen Leuten abgaunerte. Erst drei Jahre vor Aljoschas Ankunft kehrte er für immer in unser Städtchen zurück. Seine früheren Bekannten fanden ihn sehr gealtert, obgleich er durchaus noch nicht alt war. Er benahm sich aber keineswegs anständiger, sondern noch schamloser als früher. So zeigte sich zum Beispiel bei dem früheren Possenreißer das Bedürfnis, sich andere als Possenreißer zu halten. Bei den Weibern verhielt er sich nicht wie früher nur schamlos, sondern geradezu widerwärtig. Binnen kurzem eröffnete er zahlreiche neue Schenken in unserem Kreis. Er mußte an die hunderttausend Rubel besitzen, jedenfalls nicht viel weniger. Viele Einwohner der Stadt und des Kreises wurden alsbald seine Schuldner, selbstverständlich nur gegen vollkommen sichere Pfänder. In der allerletzten Zeit bekam er ein aufgedunsenes Aussehen, er büßte seine Selbstsicherheit und Gleichförmigkeit ein und wurde irgendwie leichtfertig. So fing er das eine an, um bei etwas anderem zu enden, änderte unversehens seine Absichten und betrank sich immer häufiger. Hätte der Diener Grigori, der zu dieser Zeit ebenfalls schon ziemlich gealtert war, ihn nicht manchmal fast wie ein Erzieher beaufsichtigt, wäre Fjodor Pawlowitsch wohl in arge Unannehmlichkeiten geraten. Aljoschas Ankunft hatte auf ihn sogar eine moralische Wirkung, so als wäre in diesem früh vergreisten Menschen etwas erwacht, was lange betäubt in seiner Seele gelegen hatte. »Weißt du«, sagte er oft zu Aljoscha und starrte ihn dabei an, »daß du mit ihr, mit der Schreierin, große Ähnlichkeit hast?« (So nannte er seine verstorbene Frau, Aljoschas Mutter.) Ihr Grab zeigte Aljoscha schließlich der Diener Grigori. Er führte ihn in einen abgelegenen Winkel des städtischen Friedhofs und zeigte ihm eine Platte aus Gußeisen, nicht kostbar, aber sauber gearbeitet, mit Namen und Stand, Alter und Todesjahr der Verstorbenen; darunter stand ein vierzeiliger Vers: altertümliche Kirchhofspoesie, wie sie auf Gräbern von Leuten des Mittelstandes üblich ist. Zu Aljoschas Verwunderung war diese Platte eine Stiftung Grigoris. Er hatte sie auf eigne Kosten auf dem Grab der armen »Schreierin« anbringen lassen, nachdem Fjodor Pawlowitsch, dem er mehrfach mit Vorhaltungen wegen des Grabes zugesetzt hatte, nach Odessa gereist war und mit anderen Erinnerungen an die Vergangenheit auch den Gedanken an die Gräber getilgt hatte. Aljoscha zeigte sich am Grabe seiner Mutter nicht besonders empfindsam; er hörte sich Grigoris würdigen und gesetzten Bericht über das Anbringen der Platte an, stand ein Weilchen mit gesenktem Kopf und ging dann, ohne ein Wort gesagt zu haben. Seitdem war er vielleicht ein Jahr lang nicht mehr auf dem Friedhof gewesen. Auf Fjodor Pawlowitsch aber übte auch dieser kleine Vorfall seine Wirkung aus, und zwar eine sehr eigentümliche. Er nahm auf einmal tausend Rubel und brachte sie in unser Kloster: für Seelenmessen für seine Gattin – aber nicht für Aljoschas Mutter, die »Schreierin«, sondern für die erste, Adelaida Iwanowna, die ihn geprügelt hatte. Am Abend jenes Tages betrank er sich und schimpfte vor Aljoscha auf die Mönche. Er selbst war alles andere als ein religiöser Mensch; wahrscheinlich hatte er noch nie im Leben auch nur eine Fünfkopekenkerze vor einem Heiligenbild aufgestellt. Solche Typen haben eben mitunter sonderbare Gefühlsausbrüche und unvermittelte Einfälle.

Ich habe bereits gesagt, daß er sehr aufgedunsen war. Sein Gesicht war ein unbestechlicher Zeuge für die Art und den Inhalt seines bisherigen Lebens. Außer den langen, fleischigen Säckchen unter den ewig frechen, mißtrauischen und spöttischen kleinen Augen, außer den vielen und tiefen Runzeln auf seinem kleinen fetten Gesicht war da unter seinem spitzigen Kinn noch ein zweites, dick und lang wie ein Geldbeutel, was ihm ein widerliches, lüsternes Aussehen verlieh. Dazu kam noch der breite, sinnliche Mund mit den dicken Lippen, hinter denen die fast verfaulten Zähne als ganz kleine Stummel sichtbar wurden. Wenn er zu reden anfing, spritzte ihm der Speichel aus dem Mund. Übrigens machte er auch selbst gern Witze über sein Gesicht, obgleich er damit ganz zufrieden war, glaube ich. Besonders gern wies er auf seine Nase hin, die mittelgroß, sehr schmal und stark gekrümmt war. »Eine echte Römernase«, sagte er, »zusammen mit dem Doppelkinn das typische Abbild eines alten römischen Patriziers aus der Zeit des Verfalls.« Darauf war er offenbar stolz.

Kurz nachdem er das Grab seiner Mutter gefunden hatte, erklärte Aljoscha dem Vater, er wolle in das Kloster eintreten, und die Mönche seien bereit, ihn als Novizen aufzunehmen. Dies sei sein innigster Wunsch, und er bitte ihn als Vater um die förmliche Erlaubnis. Der Vater wußte bereits, daß der Starez Sossima, der zurückgezogen in der Einsiedelei des Klosters lebte, seinen »stillen Jungen« besonders beeindruckt hatte.

»Dieser Starez ist unter den hiesigen Mönchen allerdings der ehrenhafteste«, erwiderte er, nachdem er seinen Sohn schweigend und nachdenklich angehört hatte, ohne sich über dessen Bitte weiter zu wundern. »Hm. Da willst du also hingehen, mein stiller Junge!« Er war ziemlich betrunken und verzog auf einmal das Gesicht zu seinem breiten, halbtrunkenen Lächeln, in dem die Schlauheit und List des Säufers war. »Hm. Habe ich es doch geahnt, daß du schließlich dort enden würdest, kannst du dir das vorstellen? Dich zieht es ja geradezu dorthin. Na schön, meinetwegen. Du hast deine zweitausend Rubel, das ist deine Mitgift. Ich werde dich schon nicht im Stich lassen, mein Engel, und ich werde auch jetzt, wie sich’s gehört, was für dich einzahlen, wenn sie es verlangen. Aber wenn sie es nicht verlangen – wozu dann aufdrängen, wie? Du brauchst ja nicht mehr Geld als ein Kanarienvogel, zwei Körnchen die Woche. Hm … Weißt du, zu einem Kloster gehört eigentlich eine kleine Vorstadtkolonie, da wohnen, das ist allgemein bekannt, nur sogenannte ›Klosterweiber‹, so an die dreißig Frauenzimmer, glaube ich. Ich war mal da, weißt du, interessant in seiner Art, natürlich nur so als Abwechslung. Ekelhaft war nur, alles entsetzlich russisch, keine Französinnen, wo sie doch welche haben könnten, an Geld fehlt es nämlich nicht. Sobald die das erfahren, sind sie da. Na, aber hier ist nichts, hier gibt es keine Klosterweiber, hier gibt es nur an die zweihundert Mönche. Hier geht es anständig zu. Und gefastet wird auch, das muß man ihnen lassen … Hm, also du willst zu den Mönchen gehen. Es tut mir leid um dich, Aljoscha, ich habe dich wirklich liebgewonnen, glaubst du es? Übrigens kommt mir die Sache auch gelegen; du kannst gleich für uns Sünder beten. Ich habe, so wahr ich hier sitze, viel zuviel gesündigt. Und dauernd habe ich gegrübelt: Wer wird einmal für mich beten? Gibt es einen solchen Menschen auf dieser Welt? Ich bin in dieser Hinsicht schrecklich dumm, du bist ein lieber Junge, du glaubst es wahrscheinlich gar nicht. Schrecklich dumm. Aber sieh mal, so dumm ich auch bin, ich denke immerzu daran, immerzu. Das heißt natürlich, ab und zu, nicht immerzu. Ausgeschlossen, denke ich dann, daß die Teufel mich vergessen und nicht mich mit ihrem Feuerhaken zu sich hinunterziehen, wenn ich sterbe. Na, und dann denke ich: Feuerhaken? Aber woher haben sie die? Und woraus sind die? Aus Eisen? Wo schmiedet man die denn? Sie haben wohl so eine Fabrik da bei sich? Die Mönche im Kloster glauben doch sicher, die Hölle habe zum Beispiel eine Art Zimmerdecke. Ich glaube aber nur an eine Hölle ohne Decke, das macht sich gleich viel feinsinniger und aufgeklärter, sozusagen lutherisch. Aber ist es im Grunde nicht ganz egal, ob die Hölle eine Decke hat oder nicht? Und doch liegt darin das ganze verdammte Problem. Wenn keine Decke da ist, so sind auch keine Feuerhaken da. Und wenn keine Feuerhaken da sind, dann stimmt das mit der ganzen Hölle nicht. Dann wird wieder alles unwahrscheinlich: Wer soll mich dann mit Feuerhaken hinunterziehen? Und wenn ich nicht hinuntergezogen werde, dann hört ja alles auf; wo bleibt da die Gerechtigkeit! Il faudrait les inventer, diese Feuerhaken speziell für mich, für mich allein! Wenn du eine Ahnung hättest, Aljoscha, was ich für ein Dreckskerl bin!«

»Es gibt dort keine Feuerhaken«, sagte Aljoscha leise und ernst, dabei sah er seinen Vater unverwandt an.

»Richtig, richtig, nur Schatten von Feuerhaken. Ich weiß es, ich weiß. Wie hat doch ein Franzose die Hölle beschrieben: »J’ai vu l’ombre d’un cocher qui avec l’ombre d’une brosse frottait l’ombre d’une carosse. Woher weißt du denn, mein Bester, daß es dort keine Feuerhaken gibt? Wenn du ein Weilchen bei den Mönchen bist, wirst du anders singen. Aber geh nur hin; arbeite dich zur Wahrheit durch, und dann komm her und erzähle – es fällt einem doch leichter, ins Jenseits aufzubrechen, wenn man genau weiß, was da los ist. Und es wird auch besser für dich sein, du wohnst bei den Mönchen und nicht bei mir, bei einem alten Säufer mitsamt seinen Frauenzimmern … obwohl dich Engel ja nichts anficht. Na, vielleicht wird dich auch dort nichts anfechten; deswegen gebe ich dir auch die Erlaubnis, eben weil ich darauf hoffe. Dir hat ja der Teufel den Geist nicht angefressen. Du wirst entflammen und wieder verlöschen, wirst dich auskurieren und wieder zurückkommen. Und ich werde auf dich warten, denn ich fühle, du bist der einzige Mensch auf der Erde, der mich nicht verdammt hat. Du bist mein lieber Junge, das fühle ich, wie sollte ich das nicht fühlen?«

Er fing sogar an zu schluchzen. Er war sentimental. Schlecht und sentimental.

5. Die Starzen

Mancher Leser mag vielleicht denken, mein Held war eine kränkliche, ekstatische, unterentwickelte Natur, ein blasser Träumer, ein blutarmes, sieches Menschlein. Im Gegenteil: Aljoscha war zu jener Zeit ein stattlicher junger Mann, rotbackig, neunzehnjährig, mit wachem Blick und strotzend von Gesundheit. Er war damals sogar sehr hübsch, gut gebaut, mittelgroß, dunkelblond, mit regelmäßigem, obzwar etwas länglichem, Gesicht, mit leuchtenden, dunkelgrauen, weit offenen Augen, sehr nachdenklich und scheinbar ganz ruhig. Man wird vielleicht sagen, rote Backen seien noch kein Beweis gegen Fanatismus oder Mystizismus; mir scheint jedoch, Aljoscha war mehr als jeder andere Realist. Gewiß, im Kloster glaubte er wirklich an Wunder; aber nach meiner Ansicht können Wunder einen Realisten nicht beirren. Nicht Wunder machen einen Realisten gläubig. Der echte Realist, sofern er nicht gläubig ist, wird immer die Kraft und die Fähigkeit finden, nicht an Wunder zu glauben. Und wenn ein Wunder unbestreitbar vor ihm steht, wird er eher seinen Sinnen mißtrauen als die Tatsache zugeben. Gibt er sie aber doch einmal zu, so höchstens als eine natürliche Tatsache, die ihm bisher nur unbekannt war. Bei einem Realisten erwächst nicht der Glaube aus dem Wunder, sondern das Wunder aus dem Glauben. Fängt der Realist einmal an zu glauben, muß er unbedingt auch das Wunder zugeben: gerade wegen seines Realismus. Der Apostel Thomas erklärte, er werde nicht glauben, bevor er sehe; und als er gesehen hatte, sagte er: »Mein Herr und Gott!« Hatte ihn etwa das Wunder zum Glauben gebracht? Doch wohl nicht. Er begann vielmehr nur deshalb zu glauben, weil er glauben wollte; und er glaubte wahrscheinlich bereits im Innersten seines Wesens ganz fest, als er sagte: »Ich werde nicht glauben, bevor ich sehe.«

Man wird vielleicht sagen, Aljoscha war stumpfsinnig und unentwickelt, er hat das Gymnasium nicht beendet – und so weiter, und so weiter. Daß er das Gymnasium nicht beendet hatte, war die Wahrheit; doch ihn stumpfsinnig oder dumm zu nennen, wäre höchst ungerecht. Ich wiederhole: er wählte diesen Weg allein deswegen, weil nur er ihn zu jener Zeit beeindruckte und seiner Seele auf einen Schlag das ideale Hilfsmittel bot, aus dem Dunkel zum Licht vorzudringen. Hinzu kommt, daß er ein wenig schon ein junger Mann unserer neueren Zeit war, das heißt: von Natur aus ehrlich, begierig nach Wahrheit, sie suchend und an sie glaubend und deshalb mit aller Kraft der Seele danach trachtend, ihrer sofort teilhaftig zu werden und baldigst etwas Großes zu tun, bereit, dafür alles zu opfern, notfalls sogar das Leben. Leider begreifen diese jungen Leute nicht, daß es in den meisten Fällen leichter sein mag, das Leben zu opfern, als von der schäumenden Jugend fünf, sechs Jahre auf ein schweres, mühsames wissenschaftliches Studium zu verwenden, sei es auch nur, um die eigenen Kräfte für den Dienst an jener Wahrheit, für jene große Tat zu mehren, der man sich einmal verschrieben hat. Doch ein solches Opfer übersteigt fast stets die Kräfte vieler junger Leute. Aljoscha hatte ganz einfach den entgegengesetzten Weg gewählt, allerdings mit der gleichen Ungeduld nach einer großen Tat. Kaum war er bei ernstem Nachdenken zur Überzeugung gelangt, daß es eine Unsterblichkeit und einen Gott gibt, sagte er sich wie selbstverständlich: »Ich will für die Unsterblichkeit leben; einen Kompromiß nehme ich nicht an.« Hätte er sich entschieden, es existiere keine Unsterblichkeit und kein Gott, wäre er ebenso schnell unter die Atheisten und Sozialisten gegangen. (Der Sozialismus ist nämlich nicht nur ein Problem, das den Arbeiter, den sogenannten vierten Stand berührt; er ist vor allem ein atheistisches Problem: Es geht um die moderne Verkörperung des Atheismus, um einen babylonischen Turm, der ausdrücklich ohne Gott gebaut wird, nicht um den Himmel von der Erde aus zu erreichen, sondern um den Himmel zur Erde herabzuholen.) Aljoscha schien es sogar seltsam und unmöglich, so weiterzuleben wie bisher. Es steht geschrieben: »Verteile alles, was du hast, und folge mir nach, wenn du vollkommen sein willst.« Und da sagte sich Aljoscha: »Ich kann nicht statt meines Besitzes nur zwei Rubel geben, statt ihm nachzufolgen nur zur Messe gehen.« Unter seinen Kindheitserinnerungen hatte sich vielleicht auch die eine oder andere an das vor der Stadt gelegene Kloster gehalten, in das ihn seine Mutter zur Messe mitgenommen haben mochte. Vielleicht wirkten auch die schrägen Strahlen der untergehenden Sonne vor dem Heiligenbild, zu dem ihn seine Mutter, die Schreierin, emporhielt, nach. Nachdenklich kam er damals zu uns, vielleicht nur um zu sehen: Gibt man hier alles oder nur zwei Rubel? Und begegnete im Kloster diesem Starez.

Es war, wie ich schon sagte, der Starez Sossima. Aber ich muß an dieser Stelle ein paar Worte darüber einfügen, was die Starzen in unseren Klöstern überhaupt darstellen. Leider bin ich auf diesem Gebiet nicht recht kompetent; trotzdem will ich es wenigstens knapp und oberflächlich zu erklären versuchen. Zunächst dies: Zuverlässige Fachleute versichern, in unseren russischen Klöstern sei die Institution der Starzen erst vor kurzem, vor nicht einmal hundert Jahren, aufgekommen, während sie im ganzen gläubigen Osten, besonders auf dem Sinai und dem Athos, schon über tausend Jahre bestehe. Zwar habe diese Institution in ältester Zeit auch in Rußland existiert – zumindest müsse man das als sicher annehmen –, doch sei sie über dem Unglück, das Rußland heimsuchte, über der Tatarenherrschaft und den Aufständen und infolge des Abbruchs der Beziehungen zum Orient nach der Eroberung Konstantinopels in Vergessenheit geraten und abgeschafft worden. Wieder eingeführt worden sei sie gegen Ende des vorigen Jahrhunderts durch Paissi Welitschkowski, einen der sogenannten großen Glaubenshelden, und seine Schüler; aber noch heute, fast hundert Jahre später, existiere sie nur in wenigen Klöstern und sei als eine für Rußland unerhörte Neuerung, mitunter sogar Verfolgungen ausgesetzt gewesen. In Blüte habe sie in der berühmten Einsiedelei von Koselks-Optina gestanden. Wann und von wem sie in unserem Kloster eingeführt worden ist, kann ich nicht sagen; jedenfalls waren in ihm bereits drei Starzen einander gefolgt: Sossima war der letzte von ihnen, doch auch er war bereits schwach und krank, und wer ihm, nachfolgen sollte, wußte man nicht. Diese Frage war wichtig für unser Kloster, denn es war bisher durch nichts berühmt: weder durch Gebeine Heiliger noch durch plötzlich entdeckte wundertätige Ikonen, nicht einmal durch ruhmvolle geschichtliche Überlieferungen; ihm wurden keine historischen Großtaten, keine Verdienste um das Vaterland zugeschrieben. Seine Blüte und seine Berühmtheit in ganz Rußland verdankte es eben gerade seinen Starzen; sie zu sehen und zu hören, kamen die Pilger scharenweise tausend Werst weither. Was also ist ein »Starez«? Einer, der Seele und Willen eines anderen in seine Seele und in seinen Willen aufnimmt. Wer sich einen Starez erwählt, verzichtet auf seinen eigenen Willen und ordnet sich ihm in voller Selbstverleugnung und vollem Gehorsam unter. Wer dieses Gelübde ablegt, nimmt eine schwere, lange Prüfung, eine furchtbare Lebensschule freiwillig auf sich: in der Hoffnung, schließlich sich selbst zu überwinden und sich so weit beherrschen zu lernen, daß er zuletzt durch lebenslänglichen Gehorsam die vollkommene Freiheit, das heißt, die Befreiung von sich selbst erlangt und dem Schicksal derer entgeht, die ihr ganzes Leben lang nicht zu sich selber finden. Die Institution des Starez war keine theoretische Erfindung, sondern hat sich im Osten aus einer nunmehr tausendjährigen Praxis entwickelt. Die Pflichten gegenüber dem Starez beschränken sich nicht auf gewöhnlichen Gehorsam, wie es ihn auch in unseren russischen Klöstern von jeher gegeben hat. Wer sich einem Starez unterordnet, verpflichtet sich, ihm lebenslänglich zu beichten, und die Bindung zwischen beiden ist unzerreißbar. Es wird zum Beispiel erzählt, in den ältesten Zeiten des Christentums habe einmal ein so Ergebener eine vom Starez auferlegte Buße nicht geleistet, habe das Kloster verlassen und sich in ein anderes Land begeben, aus Syrien nach Ägypten. Dort sei er nach langen Jahren voller großer Taten endlich gewürdigt worden, Martern zu erdulden und den Märtyrertod für den Glauben zu sterben. Als aber die Kirche, die ihn bereits für einen Heiligen hielt, seinen Leib bestatten wollte, habe sich bei dem Ausruf des Diakonus: »Die noch nicht in die Gemeinschaft der Christen Aufgenommenen mögen hinausgehen!« der Sarg mit dem Leib des Märtyrers plötzlich von der Stelle bewegt und die Kirche verlassen, und das dreimal. Schließlich habe man erfahren, daß dieser heilige Dulder das Gelübde des Gehorsams gebrochen hatte, daß er von seinem Starez weggegangen war und daher ohne dessen Zustimmung keine Verzeihung finden könne, trotz seiner großen Taten. Erst nachdem der herbeigerufene Starez ihn von der Pflicht des Gehorsams entbunden hätte, habe seine Bestattung erfolgen können. Das ist freilich nur eine uralte Legende; doch es gibt da auch einen weniger weit zurückliegenden Vorfall. Ein Mönch, der übrigens heute noch lebt, hatte in einem Kloster auf dem Berg Athos Zuflucht gefunden. Eines Tages befahl ihm plötzlich sein Starez, er solle den Athos, den er als Heiligtum und stillen Zufluchtsort aus tiefster Seele liebte, verlassen, nach Jerusalem gehen, um an den heiligen Stätten zu beten, und dann nach Rußland zurückkehren, und zwar in den Norden, nach Sibirien. »Dort ist dein Platz, nicht hier«, sagte der Starez. Zutiefst erschrocken und bekümmert begab sich der Mönch nach Konstantinopel zum Obersten Patriarchen und bat um die Freisprechung von dem Gebot; doch der Kirchenfürst antwortete, nicht nur er, der Oberste Patriarch, auch jegliche andere Macht auf Erden sei außerstande, ihn von einem Gebot zu entbinden, das ihm der Starez auferlegt habe – mit Ausnahme des Starez selbst. So ist die Institution des Starez mit einer Macht ausgestattet, die in gewissen Fällen unbegreiflich und schrankenlos ist. Das ist der Grund, weshalb in vielen Klöstern bei uns das Starzentum anfangs heftig befehdet wurde. Das Volk dagegen erwies den Starzen gleich von Anfang an große Hochachtung. Beispielsweise strömten einfache Leute und vornehme Persönlichkeiten scharenweise zu den Starzen unseres Klosters, um vor ihnen niederzuknien, ihre Zweifel, ihre Sünden und Leiden zu beichten und sich Rat und Belehrung zu holen. Als die Gegner der Institution das sahen, schrien sie neben anderen Beschuldigungen, hier würde das Sakrament der Beichte eigenmächtig und leichtsinnig verletzt – obgleich das ständige Beichten eines Untergebenen oder eines Laien vor dem Starez durchaus nicht in den Formen des Sakramentes vor sich geht. Die Sache endete damit, daß sich die Institution des Starez behauptete und nun allmählich in den russischen Klöstern durchsetzte. Allerdings kann dieses erprobte tausendjährige Werkzeug, geschaffen, den Menschen aus moralischer Knechtschaft zu Freiheit und sittlicher Vollkommenheit zu führen, wohl auch ein zweischneidiges Schwert werden, insofern es manchen statt zu Demut und Selbstüberwindung zum teuflichsten Stolz führt, das heißt in Ketten und nicht in die Freiheit.

Der fünfundsechzigjährige Starez Sossima entstammte einer Gutsbesitzerfamilie, er war in frühester Jugend beim Militär gewesen und hatte im Kaukasus als Oberleutnant gedient. Ohne Zweifel hatte er durch irgendeine besondere seelische Eigenschaft die Bewunderung Aljoschas erregt. Dieser wohnte mit in der Zelle des Starez, der ihn sehr liebgewonnen und zu sich genommen hatte. Er war aber zu der Zeit, da er im Kloster lebte, noch nicht gebunden, konnte ausgehen, wann er wollte, sogar ganze Tage, und wenn er eine Kutte trug, so tat er es freiwillig, um nicht vor den anderen Klosterinsassen aufzufallen.

Er fand aber auch selbst Gefallen daran. Vielleicht machten die geistige Kraft des Starez und der Ruhm, der ihn ständig umgab, auf Aljoschas jugendliche Phantasie einen starken Eindruck. Von dem Starez Sossima erzählten viele, er habe schon jahrelang alle zu sich gelassen, die in der Beichte ihr Herz ausschütten, seinen Rat einholen und seine Trostworte vernehmen wollten; so habe er viele Bekenntnisse, Geständnisse und Äußerungen der Reue zu hören bekommen und schließlich ein so feines Gefühl erlangt, daß er beim ersten Blick ins Gesicht eines Unbekannten errate, in welcher Absicht er gekommen war, was er brauchte und welche Qualen sein Gewissen peinigten; manchmal versetze er einen Ankömmling dadurch, daß er sein Geheimnis kenne, bevor noch ein Wort gesprochen war, in Staunen, Bestürzung, ja in Furcht. Dabei bemerkte Aljoscha fast immer, daß viele, ja beinahe alle, die sich zum erstenmal voll Angst und Unruhe bei dem Starez zu einem Gespräch unter vier Augen einfanden, später, wenn sie herauskamen, helle, freudige Mienen hatten; das finsterste Gesicht war dann in ein glückliches verwandelt. Auch erregte es Aljoschas Erstaunen, daß der Starez durchaus nicht ernst und streng war, sondern im Gegenteil stets geradezu heiter im Umgang. Die Mönche sagten, sein Herz gehöre in erster Linie den schlimmen Sündern; wer am meisten sündige, der sei ihm der liebste. Unter den Mönchen gab es sogar noch in seinen letzten Lebensjahren einige, die ihn beneideten und haßten; aber es waren nur wenige, und diese wenigen schwiegen, obgleich sich unter ihnen sehr angesehene und bedeutende Persönlichkeiten des Klosters befanden, zum Beispiel einer der ältesten Einsiedler, einer, der wenig redete und ungewöhnlich viel fastete. Die überwiegende Mehrzahl stand unzweifelhaft auf seiten des Starez Sossima, und viele von ihnen liebten ihn heiß und aufrichtig, von ganzem Herzen. Einige hingen ihm beinahe fanatisch an und sagten ohne Umschweife, wenn auch leise, er sei ein Heiliger, und da sie sein nahes Ende voraussahen, erwarteten sie unverzüglich Wunder von ihm und in der allernächsten Zukunft großen Ruhm für das Kloster. Auch Aljoscha glaubte widerspruchslos an die wundertätige Kraft des Starez wie an die Geschichte von dem Sarg, der aus der Kirche geflogen war. Er sah, daß viele, die mit kranken Kindern oder erwachsenen Verwandten kamen und den Starez baten, er möge seine Hände auf sie legen und ein Gebet über sie sprechen, sehr bald zurückkehrten, manche gleich am nächsten Tag, weinend vor ihm niedersanken und ihm für die Heilung der Kranken dankten. Ob es tatsächlich eine Heilung war oder nur eine natürliche Besserung im Krankheitsverlauf, das war für Aljoscha keine Frage; er glaubte fest an die geistige Kraft seines Lehrers, dessen Ruhm gewissermaßen sein eigener Triumph war. Besonders erbebte sein Herz und strahlte sein Gesicht, wenn der Starez zu der am Tor der Einsiedelei wartenden Menge von Pilgern aus dem einfachen Volk trat, die eigens zu dem Zweck aus ganz Rußland zusammengeströmt waren, den Starez zu sehen und sich von ihm segnen zu lassen. Sie knieten, in Tränen ausbrechend, vor ihm nieder, küßten seine Füße und die Erde, auf der er stand, und stießen Rufe der Bewunderung aus; Frauen hielten ihm ihre Kinder hin und führten ihm Schreikranke zu. Der Starez redete mit ihnen, sprach über sie ein kurzes Gebet, segnete sie und entließ sie. In der letzten Zeit war er infolge seiner Krankheitsanfälle manchmal so schwach, daß er die Zelle nicht verlassen kannte; dann warteten die Pilger mitunter tagelang auf sein Erscheinen.

Aljoscha hatte keinen Zweifel, warum sie ihn liebten, sich vor ihm niederwarfen und vor Rührung weinten, sobald sie sein Antlitz erblickten. Oh, er begriff sehr wohl, daß es für die gedemütigte, durch Arbeit und Kummer, durch stete Ungerechtigkeit und Sünde – eigene wie fremde – zermürbte und zermarterte Seele des einfachen Russen kein stärkeres Bedürfnis und keinen besseren Trost gibt, als ein Heiligtum oder einen Heiligen zu finden, vor ihm niederzufallen und sich vor ihm zu beugen: »Wenn bei uns auch Sünde, Unwahrheit und Versuchung herrschen so lebt doch hier und da auf Erden ein Heiliger, ein Höherer, der die Wahrheit besitzt und die Wahrheit kennt. Also stirbt sie nicht auf dieser Erde, sondern wird einmal auch zu uns kommen und auf der ganzen Erde herrschen, wie es verheißen ist.« Aljoscha wußte, so fühlt und urteilt das Volk; dafür hatte er Verständnis. Und daß gerade in den Augen dieses Volkes sein Starez ein solcher Heiliger und Bewahrer der göttlichen Wahrheit war, bezweifelte er selbst ebensowenig wie die weinenden Bauern und ihre kranken Frauen, die dem Starez ihre Kinder entgegenstreckten. Die Überzeugung, der Starez werde nach seinem Tode dem Kloster außerordentlichen Ruhm bringen, beherrschte Aljoscha wohl stärker als sonst irgendwen im Kloster. Überhaupt entbrannte in dieser letzten Zeit immer mehr eine tiefe, innere Begeisterung in seinem Herzen. Und es beirrte ihn dabei keineswegs, daß dieser Starez nur als ein einzelner vor ihm stand. Das ändert nichts, er ist ein Heiliger, in seinem Herzen ruht das Geheimnis der Erneuerung für alle, die Macht, die endlich die Wahrheit auf Erden errichten wird; und alle werden heilig sein und einander lieben, und weder Reiche noch Arme wird es mehr geben, weder Hohe noch Niedere, alle werden sie sein wie Kinder Gottes, und das wahre Reich Christi bricht an. Das war es, wovon Aljoscha im tiefsten Innern träumte.

Die Ankunft seiner beiden Brüder, die er bisher nicht gekannt hatte, schien starken Eindruck auf Aljoscha zu machen. Seinem Bruder Dmitri Fjodorowitsch schloß er sich schneller und enger an als dem anderen, seinem leiblichen Bruder Iwan, obgleich der erstere später eingetroffen war. Es reizte ihn sehr, seinen Bruder Iwan kennenzulernen; aber sie waren sich immer noch nicht nähergekommen, obschon Iwan bereits zwei Monate hier lebte und sie sich häufig sahen. Aljoscha selbst war schweigsam, er schien auf etwas zu warten und sich für etwas zu schämen, sein Bruder Iwan aber dachte bald offenbar gar nicht mehr an ihn, obwohl Aljoscha anfangs oft seine langen, prüfenden Blicke auf sich gespürt hatte. Das war für Aljoscha doch etwas befremdend. Er schrieb die Gleichgültigkeit des Bruders dem Alters- und Bildungsunterschied zu, doch er machte sich auch andere Gedanken. Daß Iwan für ihn so wenig Interesse zeigte, hatte vielleicht eine bestimmte Ursache, die ihm, Aljoscha, vollkommen unbekannt war. Es kam ihm irgendwie vor, als sei Iwan mit etwas Wichtigem, äußerlich nicht Sichtbarem, beschäftigt, als strebe er nach einem schwer erreichbaren Ziel, daß er für ihn keinen Gedanken übrig hatte, und als sei das der einzige Grund, warum er ihn so zerstreut ansah. Oder sollte eine gewisse Verachtung des gelehrten Atheisten für den dummen Novizen dahinterstecken? Er wußte, daß sein Bruder Atheist war. Wenn wirklich solche Verachtung vorlag, konnte er sich dadurch nicht gekränkt fühlen; dennoch wartete er in einer ihm selbst unverständlichen Aufregung auf den Zeitpunkt, wo sein Bruder ihm nähertreten würde. Dmitri Fjodorowitsch verehrte Iwan zutiefst und sprach immer mit großer Wärme von ihm. Er war es denn auch, der Aljoscha alle Einzelheiten jener wichtigen Angelegenheit erzählte, welche die beiden älteren Brüder in der letzten Zeit merkwürdig eng verband. Dmitris begeisterte Äußerungen über den Bruder erschienen Aljoscha um so bezeichnender, als Dmitri im Vergleich zu Iwan ungebildet war; ihre Persönlichkeiten und Charaktere waren so gegensätzlich, daß zwei verschiedenere Menschen kaum denkbar waren.

Zu dieser Zeit nun fand in der Zelle des Starez ein Wiedersehen oder richtiger ein Treffen aller Mitglieder dieser disharmonischen Familie statt, das Aljoscha außerordentlich beeindruckte. Der für die Zusammenkunft angegebene Grund war in Wirklichkeit unrichtig. Gerade damals waren die Streitigkeiten zwischen Dmitri Fjodorowitsch und seinem Vater um die Erbschaft und die Vermögensabrechnungen offensichtlich bis zum Äußersten gediehen. Die Beziehungen hatten sich bis zur Unerträglichkeit zugespitzt. Fjodor Pawlowitsch schien als erster, und zwar eher scherzhaft, angeregt zu haben, sie alle sollten in der Zelle des Starez zusammenkommen, selbst wenn sie dessen Vermittlung nicht direkt in Anspruch nähmen, würde ihr Gespräch doch anständiger verlaufen, weil die Würde und die Persönlichkeit des Starez etwas Ehrfurchtgebietendes, Versöhnendes haben könnten. Dmitri Fjodorowitsch, der Sossima noch nie gesehen hatte, glaubte allerdings, man wollte ihn durch den Starez gewissermaßen einschüchtern; aber da er sich im stillen selbst Vorwürfe machte wegen der vielen scharfen Angriffe gegen seinen Vater, besonders in letzter Zeit, nahm er die Aufforderung an. (Beiläufig sei bemerkt, daß er nicht wie Iwan Fjodorowitsch im Hause seines Vaters wohnte, sondern für sich, am anderen Ende der Stadt.) Es traf sich nun, daß Pjotr Alexandrowitsch Miussow, der damals bei uns wohnte, den Einfall Fjodor Pawlowitschs sehr glücklich fand. Liberaler der vierziger und fünfziger Jahre, Freidenker und Atheist, der er war, nahm er aus Langeweile, zum leichtfertigen Amüsement, an dieser Sache lebhaften Anteil. Er bekam auf einmal Lust, sich das Kloster und den »Heiligen« anzusehen. Und da sein alter Streit mit dem Kloster noch andauerte und der Prozeß über die Grenze ihrer Ländereien, über bestimmte Rechte des Holzschlagens im Wald und des Fischfangs im Fluß und so weiter sich immer noch hinzog, gab er vor, mit dem Vater Abt darüber sprechen zu wollen, ob sich die Streitigkeiten nicht gütlich beilegen ließen. Ein Besucher mit so edlen Absichten konnte im Kloster natürlich mit mehr Aufmerksamkeit und einem zuvorkommenderen Empfang rechnen als einfach ein Neugieriger. Auf Grund dieser Erwägungen war wohl im Kloster ein gewisser innerer Einfluß auf den kranken Starez, der in der letzten Zeit seine Zelle fast nicht mehr verlassen und wegen der Krankheit sogar die gewöhnlichen Besucher abgewiesen hatte, ausgeübt worden. Die Sache endete damit, daß der Starez einwilligte und ein Tag bestimmt wurde. »Wer hat mich zum Schiedsrichter berufen?« sagte er nur lächelnd zu Aljoscha.

Als Aljoscha von der beabsichtigten Zusammenkunft erfuhr, war er sehr bestürzt. Wenn einer der Streitenden und Prozessierenden das Treffen ernst nehmen konnte, so ohne Zweifel nur der Bruder Dmitri; alle anderen, so begriff Aljoscha, würden nur aus leichtfertigen und für den Starez vielleicht beleidigenden Beweggründen kommen: der Bruder Iwan und Miussow aus Neugier, möglicherweise aus recht plumper, sein Vater, um eine Possenreißerszene auszuführen. Zwar schwieg Aljoscha, doch er kannte seinen Vater längst zur Genüge. Dieser Jüngling war, wie ich schon sagte, durchaus nicht so einfältig wie man allgemein glaubte. Mit peinlichen Gefühlen erwartete er den festgesetzten Tag. Gewiß trug er in tiefstem Herzen die Sorge, ob sich alle Familienstreitigkeiten nicht auf irgendeine Weise beenden ließen. Dennoch galt dem Starez seine Hauptsorge; er zitterte um ihn und seinen Ruhm, fürchtete Beleidigungen für ihn, vor allem Miussows feine, höfliche Spötteleien und das hochmütige Schweigen des gelehrten Iwan: Zu deutlich stand ihm das alles vor Augen. Er wollte sogar wagen, den Starez zu warnen und auf die erwarteten Besucher vorzubereiten; aber er überlegte es sich und schwieg. Er ließ nur am Tage vor dem festgesetzten Termin seinem Bruder Dmitri durch einen Bekannten sagen, er liebe ihn sehr und erwarte von ihm die Erfüllung seines Versprechens. Dmitri überlegte lange, da er sich nicht erinnern konnte, was er versprochen haben sollte, und antwortete nur brieflich, er werde sich »gegenüber der Gemeinheit« mit aller Kraft zu beherrschen suchen; zwar achte er den Starez und seinen Bruder Iwan hoch, jedoch sei er überzeugt, ihm solle entweder eine Falle gestellt oder es solle eine unwürdige Komödie aufgeführt werden. »Trotzdem werde ich eher meine Zunge verschlucken als es an Respekt vor dem heiligen Mann fehlen lassen, den Du so verehrst«, schloß Dmitri seinen kurzen Brief. Aljoscha wurde durch ihn allerdings nicht sonderlich ermutigt.

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