VI

Lebedews Landhaus war nicht groß, aber bequem und sogar hübsch. Der zum Vermieten bestimmte Teil war besonders schön ausgestattet. Auf der ziemlich geräumigen Veranda beim Eingang von der Straße in die Wohnung waren mehrere Orangen- und Zitronenbäume und Jasminsträucher in großen grünen Holzkübeln aufgestellt, was nach Lebedews Ansicht einen überaus reizvollen Anblick bot. Einige dieser Gewächse hatte er zugleich mit dem Landhaus erworben und war von dem Effekt, den sie in der Veranda hervorbrachten, so entzückt gewesen, daß er unter Benutzung einer sich bietenden Gelegenheit beschloß, zur Vervollständigung noch eine Anzahl ebensolcher Gewächse in Kübeln auf einer Auktion zu erstehen. Als endlich alle diese Gewächse nach dem Landhaus geschafft und aufgestellt waren, lief Lebedew mehrmals am Tage die Stufen der Veranda hinab auf die Straße und bewunderte von dort aus sein Besitztum, wobei er jedesmal im stillen die Summe erhöhte, die er dem künftigen Mieter seines Landhauses abzuverlangen gedachte. Dem Fürsten, der infolge der seelischen Leiden und der physischen Abgespanntheit sehr schwach war, gefiel das Landhaus ausnehmend. Übrigens sah der Fürst am Tage des Umzuges nach Pawlowsk, das heißt am dritten Tage nach dem Anfall, äußerlich bereits fast wieder wie ein gesunder Mensch aus, obwohl er sich innerlich immer noch nicht genesen fühlte. Er freute sich über jeden, den er in diesen drei Tagen um sich sah: über Kolja, der fast nicht von seiner Seite wich, über die ganze Familie Lebedew (ohne den Neffen, der verschwunden war, man wußte nicht wohin), über Lebedew selbst; sogar den General Iwolgin, der ihn noch in der Stadt besuchte, empfing er mit Vergnügen. Am Tag des Umzuges selbst, der erst gegen Abend sein Ende erreicht hatte, war um ihn in der Veranda ziemlich viel Besuch versammelt: zuerst war Ganja gekommen, den der Fürst kaum wiedererkannte, so hatte er sich in dieser ganzen Zeit verändert und war abgemagert. Darauf waren Warja und Ptizyn erschienen, die ebenfalls in Pawlowsk zur Sommerfrische wohnten. Der General Iwolgin, der sich bei Lebedew fast für immer einquartiert hatte, schien sogar mit ihm zusammen umgezogen zu sein. Lebedew bemühte sich, ihm den Zutritt zu dem Fürsten zu verwehren und ihn bei sich festzuhalten; er verkehrte mit ihm freundschaftlich: sie waren anscheinend schon lange miteinander bekannt. Der Fürst bemerkte, daß sie an diesen ganzen drei Tagen manchmal miteinander lange Gespräche führten, nicht selten schrien und stritten, sogar, wie es schien, über wissenschaftliche Gegenstände, was offenbar Lebedew großes Vergnügen machte. Man konnte meinen, daß ihm der General für diese Disputationen unentbehrlich war. Aber Lebedew dehnte die Vorsichtsmaßregeln, die er auf den General anwandte, seit der Übersiedlung nach dem Landhaus auch auf seine Familie aus; mit der Begründung, der Fürst dürfe nicht gestört werden, ließ er niemand zu ihm; sobald er nur im entferntesten Verdacht schöpfte, daß seine Töchter, Wera mit dem Kind nicht ausgenommen, nach der Veranda gehen wollten, wo sich der Fürst befand, stürzte er sofort auf sie los, trampelte mit den Füßen und jagte sie fort, trotz aller Bitten des Fürsten, jedermann zu ihm zu lassen.

»Erstens hört sonst aller Respekt auf, wenn man ihnen dergleichen gestattet, und zweitens schickt es sich auch nicht für sie…«, erklärte er schließlich auf eine direkte Frage des Fürsten.

»Aber warum denn?« erwiderte der Fürst. »Wirklich, Sie quälen mich mit all dieser Beaufsichtigung und Bewachung. Ich habe Ihnen schon mehrmals gesagt, daß es mir langweilig ist, allein zu sein, und Sie selbst machen mich durch Ihr beständiges Gestikulieren und Umhergehen auf den Zehen noch schwermütiger.«

Der Fürst spielte darauf an, daß Lebedew, obwohl er alle seine Angehörigen wegen der angeblichen Ruhebedürftigkeit des Kranken wegtrieb, doch selbst während dieser ganzen drei Tage alle Augenblicke zum Fürsten hereinkam und jedesmal zunächst die Tür öffnete, den Kopf hereinsteckte, sich im Zimmer umsah, als ob er feststellen wollte, ob der Fürst auch noch da sei und nicht davongelaufen wäre, und dann auf den Zehen, langsam, mit schleichenden Schritten, sich dessen Lehnstuhl näherte, so daß er seinen Mieter manchmal unversehens erschreckte. Fortwährend erkundigte er sich, ob der Fürst etwas brauche, und wenn der Fürst ihm endlich bemerkte, er möge ihn in Ruhe lassen, so machte er gehorsam, und ohne ein Wort zu erwidern, kehrt, ging wieder auf den Zehen zur Tür zurück und gestikulierte, während er ging, die ganze Zeit, als wollte er zu verstehen geben, er sei nur so ohne besondere Absicht hereingekommen, werde kein Wort weiter reden, gehe ja schon wieder hinaus und werde nicht mehr wiederkommen; aber nichtsdestoweniger erschien er nach zehn Minuten oder höchstens einer Viertelstunde von neuem. Kolja, der freien Zutritt zum Fürsten hatte, erregte dadurch Lebedews höchstes Mißfallen, ja dieser fühlte sich sogar schwer gekränkt. Kolja merkte, daß Lebedew manchmal eine halbe Stunde lang an der Tür stand und horchte, was er mit dem Fürsten sprach, und teilte diese seine Beobachtung natürlich dem Fürsten mit.

»Aber Sie halten mich ja hinter Schloß und Riegel, wie wenn Sie mich als Ihr Eigentum erworben hätten«, protestierte der Fürst. »Wenigstens auf dem Lande möchte ich es anders haben; lassen Sie es sich gesagt sein, daß ich empfangen werde, wen ich will, und gehen werde, wohin es mir beliebt.«

»Ohne den allergeringsten Zweifel«, versetzte Lebedew, lebhaft gestikulierend.

Der Fürst betrachtete ihn aufmerksam vom Kopf bis zu den Füßen.

»Wie ist das, Lukjan Timofejewitsch? Haben Sie Ihr Schränkchen, das in Ihrer Wohnung über dem Kopfende Ihres Bettes an der Wand befestigt war, hierher mitgebracht?«

»Nein, das habe ich nicht getan.«

»Haben Sie es wirklich dort gelassen?«

»Es war nicht möglich, es mitzunehmen; ich hätte es aus der Wand herausbrechen müssen… Es sitzt ganz fest.«

»Aber vielleicht haben Sie hier ein ebensolches?«

»Sogar ein besseres, sogar ein besseres; ich habe es mit dem Landhaus gekauft.«

»Ach so! Wem haben Sie denn vorhin den Zutritt zu mir verwehrt? So etwa vor einer Stunde?«

»Das… das war der General. Ich habe ihn allerdings nicht hereingelassen, und er paßt auch wirklich nicht zu Ihnen. Ich schätze diesen Mann sehr hoch, Fürst; er… er ist ein bedeutender Mensch, glauben Sie es etwa nicht? Na, sehen Sie, aber trotzdem… trotzdem wäre es das beste, durchlauchtigster Fürst, wenn Sie ihn nicht empfangen wollten.«

»Aber warum denn nicht, möchte ich doch fragen. Und warum stehen Sie denn jetzt auf den Zehen, Lebedew, und kommen immer zu mir, als wollten Sie mir ein Geheimnis ins Ohr sagen?«

»Ich bin ein gemeiner Mensch, ein gemeiner Mensch, das fühle ich«, antwortete Lebedew ziemlich unmotiviert und schlug sich affektvoll auf die Brust. »Aber wird der General für Sie nicht gar zu gastfreundlich sein?«

»Wieso gar zu gastfreundlich?«

»Er ist sehr für Gastfreundschaft. Erstens richtet er sich bei mir schon ganz häuslich ein; nun, das mag noch angehen; aber er ist unternehmend und dringt gleich in die Verwandtschaft ein. Er und ich, wir haben schon mehrmals unsere Familienverhältnisse untersucht, und es hat sich herausgestellt, daß wir miteinander verwandt sind. Und noch gestern hat er mir auseinandergesetzt, es lasse sich auch beweisen, daß Sie mütterlicherseits ein entfernter Neffe von ihm seien. Wenn also Sie sein Neffe sind, dann sind auch wir beide, Sie und ich, miteinander verwandt, durchlauchtigster Fürst. Das ist ja nun noch nichts Schlimmes, eine kleine Schwäche; aber soeben hat er mir versichert, daß er sein ganzes Leben lang, von der Zeit an, wo er noch Fähnrich war, bis zum elften Juni vorigen Jahres, täglich nicht weniger als zweihundert Personen an seinem Tisch sitzen gehabt habe. Es sei schließlich so weit gekommen, daß sie gar nicht mehr aufgestanden seien, sondern täglich fünfzehn Stunden lang zu Mittag und zu Abend gespeist und Tee getrunken hätten, und das alles dreißig Jahre lang ohne die geringste Unterbrechung, es sei kaum Zeit gewesen, das Tischtuch zu wechseln. Der eine sei aufgestanden und weggegangen und ein anderer gekommen, und an den patriotischen Festtagen sei die Zahl seiner Gäste auf dreihundert gestiegen. Und bei der tausendjährigen Jubiläumsfeier Rußlands habe er siebenhundert gezählt. Das ist ja schrecklich, solche Erzählungen sind ein sehr übles Symptom; so gastfreundliche Herren auch nur zu empfangen, ist bedenklich, und da habe ich mir gedacht, ob er nicht für Sie und für mich doch gar zu gastfreundlich ist.«

»Aber Sie stehen, wie es scheint, mit ihm auf sehr gutem Fuß?«

»Wir verkehren miteinander wie Brüder, und ich fasse alles als Scherz auf. Mögen wir miteinander verwandt sein, was schadet es mir? Das kann mir nur zur Ehre gereichen. Ich halte ihn für einen höchst interessanten Menschen, trotz der zweihundert Tischgäste und der noch größeren Zahl bei der Tausendjahrfeier Rußlands. Ich rede zu Ihnen ganz aufrichtig. Sie sprachen soeben von Geheimnissen, Fürst, und sagten, ich träte immer zu Ihnen heran, als wollte ich Ihnen ein Geheimnis mitteilen; nun, es trifft sich, daß wirklich ein Geheimnis vorliegt: eine gewisse Person hat mir soeben mitgeteilt, daß sie sehr wünsche, mit Ihnen eine geheime Zusammenkunft zu haben.«

»Warum denn eine geheime? Der Heimlichkeit bedarf es nicht. Ich werde selbst zu ihr hingehen, womöglich gleich heute.«

»Gewiß, der Heimlichkeit bedarf es gar nicht«, versetzte Lebedew gestikulierend. »Auch fürchtet sie gar nicht das, was Sie vermuten. Übrigens, der Unmensch kommt jeden Tag her, um sich nach Ihrem Befinden zu erkundigen; ist Ihnen das bekannt?«

»Sie nennen ihn so oft einen Unmenschen; das ist mir sehr verdächtig.«

»Sie brauchen gar keinen Verdacht zu haben, nicht den geringsten Verdacht«, wehrte Lebedew eilig ab. »Ich wollte Ihnen nur bemerken, daß die betreffende Person sich nicht vor ihm, sondern vor einem ganz andern fürchtet.«

»Aber vor wem denn? Sagen Sie es doch schnell!« rief der Fürst ungeduldig angesichts der geheimnisvollen Grimassen Lebedews.

»Das ist eben das Geheimnis.«

Dabei lächelte Lebedew.

»Wessen Geheimnis?«

»Das ist Ihr Geheimnis. Sie selbst haben mir verboten, durchlauchtigster Fürst, in Ihrer Gegenwart davon zu sprechen…«, murmelte Lebedew, und nachdem er sich genug daran geweidet hatte, daß es ihm gelungen war, die Neugier seines Zuhörers bis zu peinlicher Ungeduld zu steigern, schloß er plötzlich: »Sie fürchtet sich vor Aglaja Iwanowna.«

Der Fürst machte ein finsteres Gesicht und schwieg einen Augenblick.

»Bei Gott, Lebedew, ich werde Ihr Landhaus verlassen«, sagte er plötzlich. »Wo sind Gawrila Ardalionowitsch und Ptizyns? Bei Ihnen? Auch die haben Sie in Ihre eigenen Zimmer herübergelockt.«

»Sie werden kommen, sie werden kommen! Sogar der General wird mitkommen. Alle Türen werde ich aufmachen, auch meine Töchter werde ich herrufen, alle, alle, sofort, sofort«, flüsterte Lebedew erschrocken unter lebhaften Handbewegungen und rannte dabei von einer Tür zur andern.

In diesem Augenblick erschien Kolja, von der Straße kommend, in der Veranda und meldete, daß hinter ihm Besuch folge: Lisaweta Prokofjewna mit ihren drei Töchtern.

»Soll ich Ptizyns und Gawrila Ardalionowitsch hereinlassen oder nicht? Soll ich den General hereinlassen oder nicht?« fragte Lebedew hastig, durch diese Nachricht aufs höchste überrascht.

»Warum denn nicht? Lassen Sie jeden ein, der zu mir will! Ich kann Ihnen sagen, Lebedew, daß Sie mein Verhältnis zu den Menschen gleich von Anfang an falsch beurteilt haben; Sie sind da fortwährend in einem Irrtum befangen. Ich habe nicht den geringsten Grund, mich vor irgend jemand zu verstecken und zu verbergen«, bemerkte der Fürst lachend.

Als Lebedew ihn lachen sah, hielt er es für seine Pflicht, dies ebenfalls zu tun. Trotz seiner großen Aufregung war er offenbar sehr zufrieden.

Die von Kolja gebrachte Nachricht erwies sich als zutreffend; er war den Jepantschins nur ein paar Schritte vorausgelaufen, um sie anzumelden, und die Besucher erschienen nun plötzlich von beiden Seiten: von der Straße her Jepantschins und aus den Zimmern das Ptizynsche Ehepaar, Ganja und General Iwolgin.

Jepantschins hatten von der Krankheit des Fürsten und seiner Anwesenheit in Pawlowsk erst soeben durch Kolja erfahren; bis dahin hatte die Generalin schwere Zweifel gehegt. Schon vor drei Tagen hatte der General seiner Familie die Visitenkarte des Fürsten gezeigt; diese Karte rief bei Lisaweta Prokofjewna die bestimmte Überzeugung hervor, daß der Fürst selbst unmittelbar nach dieser Karte nach Pawlowsk kommen werde, um ihnen einen Besuch zu machen. Vergebens hielten ihr die Töchter entgegen, daß jemand, der ein halbes Jahr lang nicht geschrieben habe, es auch jetzt vielleicht gar nicht so eilig haben werde und daß er vielleicht, auch abgesehen von den Beziehungen zu ihrer Familie, in Petersburg viel zu tun haben möge; woher könnten sie denn von seinen Geschäften Kenntnis haben? Die Generalin wurde über diese Bemerkungen geradezu böse und bot eine Wette darauf an, daß der Fürst spätestens am folgenden Tag erscheinen werde, wiewohl auch das schon sehr spät sei. Am folgenden Tag wartete sie den ganzen Vormittag; dann erwartete sie ihn zum Mittagessen, zum Abend, und als es schon ganz dunkel geworden war, ärgerte sich Lisaweta Prokofjewna über alles und jedes und zankte sich mit allen, selbstverständlich ohne unter den Gründen des Streites den Fürsten auch nur mit einem Worte zu erwähnen. Auch am dritten Tag wurde seiner keinerlei Erwähnung getan. Als Aglaja sich beim Mittagessen unversehens die Bemerkung entschlüpfen ließ, maman sei ärgerlich, weil der Fürst nicht komme, worauf der General sofort einschaltete, er für seine Person könne nichts dafür, stand Lisaweta Prokofjewna auf und ging zornig hinaus. Endlich, am Abend, erschien Kolja mit einer Menge von Nachrichten und erzählte ihnen alle Erlebnisse des Fürsten, soweit sie ihm bekannt waren. Das Resultat war, daß Lisaweta Prokofjewna triumphierte; Kolja wurde aber gehörig ausgescholten: »Sonst hockt er hier tagelang bei uns und ist nicht loszuwerden, und jetzt hat er uns nicht einmal eine Mitteilung zugehen lassen, wenn er schon selbst nicht herkommen mochte.« Kolja wollte eigentlich sofort wegen des Ausdrucks »nicht loszuwerden« aufbegehren, verschob dies aber doch auf ein anderes Mal, und wenn der Ausdruck nicht gar zu beleidigend gewesen wäre, hätte er ihn vielleicht ganz entschuldigt, soviel Vergnügen machte ihm Lisaweta Prokofjewnas Aufregung und Unruhe bei der Nachricht von der Krankheit des Fürsten. Sie bestand eine ganze Weile darauf, man müsse unverzüglich einen expressen Boten nach Petersburg schicken, um eine ärztliche Kapazität ersten Ranges aufzusuchen und mit dem ersten Zug herbeizuschaffen. Aber die Töchter redeten ihr das aus; indes wollten sie hinter ihrer Mama nicht zurückstehen, als diese sich sofort anschickte, den Kranken zu besuchen.

»Er liegt auf dem Sterbebett«, sagte sie, sich eilig zurechtmachend, »wie werden wir uns da um Vorschriften der Etikette kümmern! Ist er ein Freund unseres Hauses oder nicht?«

»Andererseits ist es auch nicht passend, sich jemandem so ohne weiteres aufzudrängen«, wollte Aglaja einwenden.

»Na, dann komm nicht mit! Das wird sogar ganz gut sein; sonst ist niemand hier, um Jewgenij Pawlytsch zu empfangen, wenn er kommen sollte.«

Nach diesen Worten schloß sich Aglaja natürlich sofort den andern an, was sie übrigens ohnehin beabsichtigt hatte. Fürst Schtsch., der sich mit Adelaida unterhielt, erklärte sich auf deren Bitte unverzüglich bereit, die Damen zu begleiten. Er hatte schon früher, zu Anfang seiner Bekanntschaft mit Jepantschins, großes Interesse bekundet, als er von ihnen etwas über den Fürsten gehört hatte. Es hatte sich herausgestellt, daß er mit diesem bereits bekannt war, und zwar hatten sie einander vor nicht allzu langer Zeit irgendwo kennengelernt und dann ungefähr vierzehn Tage lang zusammen in irgendeinem kleinen Städtchen gelebt. Das war vor drei Monaten gewesen. Fürst Schtsch. hatte ihnen sogar viel von dem Fürsten erzählt und sich überhaupt sehr sympathisch über ihn ausgesprochen, so daß er jetzt mit aufrichtigem Vergnügen hinging, um einen alten Bekannten zu besuchen. Der General Iwan Fjodorowitsch war diesmal nicht zu Hause. Jewgenij Pawlowitsch war ebenfalls noch nicht gekommen.

Von dem Jepantschinschen Landhause bis zu dem Lebedewschen waren es nur dreihundert Schritte. Der erste unangenehme Eindruck, den Lisaweta Prokofjewna beim Fürsten empfing, wurde dadurch hervorgerufen, daß sie eine ganze Gesellschaft um ihn versammelt fand, ganz zu schweigen von dem Umstand, daß ihr in dieser Gesellschaft zwei oder drei Personen entschieden zuwider waren; und zweitens war sie unangenehm berührt, als ihnen statt eines Verscheidenden auf dem Sterbebett, den sie zu finden erwartet hatte, ein anscheinend völlig gesunder, elegant gekleideter junger Mann mit lächelnder Miene entgegentrat. Sie blieb ganz verwundert stehen, zum größten Vergnügen Koljas, der ihr natürlich, noch ehe sie von ihrem Landhaus aufbrach, sehr wohl hätte mitteilen können, daß niemand im Sterben liege und von einem Totenbett nicht die Rede sei, dies aber absichtlich unterlassen hatte in schlauer Voraussicht des komischen Zornes der Generalin, die nach seiner Spekulation sich jedenfalls darüber ärgern würde, wenn sie den Fürsten, dem sie herzlich zugetan war, gesund anträfe. Kolja war sogar so taktlos, seine Vermutung laut auszusprechen, um Lisaweta Prokofjewna noch mehr zu reizen, mit der er trotz der zwischen ihnen angeknüpften Freundschaft ständig und manchmal in recht scharfer Form stichelte.

»Wart nur, mein Lieber, kräh nicht zu früh!« antwortete Lisaweta Prokofjewna und setzte sich auf den Lehnstuhl, den ihr der Fürst zurechtrückte.

Lebedew, Ptizyn und General Iwolgin beeilten sich, den jungen Damen Stühle zu bringen. Aglaja wurde vom General ein Stuhl angeboten. Lebedew stellte auch dem Fürsten Schtsch. einen Stuhl hin, wobei er es fertigbrachte, durch die Krümmung seines Rückens eine außerordentliche Ehrerbietung auszudrücken. Warja begrüßte die jungen Damen mit dem gewöhnlichen Entzücken im Flüsterton.

»Ich hatte allerdings geglaubt, dich im Bett zu finden, Fürst, so schwarzseherisch hatte mich die Angst gemacht, und ich leugne keineswegs, daß ich mich soeben furchtbar über dein glückliches Gesicht ärgerte; aber ich schwöre dir, das dauerte nur einen Augenblick, nur so lange, als ich noch nicht nachgedacht hatte. Sobald ich nachgedacht habe, handle und rede ich immer verständiger; ich denke, es wird dir ebenso gehen. In Wirklichkeit aber könnte ich mich über die Genesung meines eigenen Sohnes, wenn ich einen hätte, kaum mehr freuen als über die deinige; und wenn du es mir nicht glaubst, so ist das eine Schande für dich, nicht für mich. Dieser unartige Junge aber erlaubt sich mit mir ganz ungehörige Spaße. Du bist ja wohl sein Gönner; darum möchte ich dir ankündigen, daß ich eines schönen Tages auf die Ehre und das Vergnügen seiner weiteren Bekanntschaft verzichten werde, das kannst du mir glauben.«

»Was kann ich denn dafür?« rief Kolja. »Wenn ich Ihnen auch hoch und heilig beteuert hätte, daß der Fürst schon beinah gesund sei, so hätten Sie mir doch nicht geglaubt, weil es viel interessanter war, ihn sich auf dem Sterbebette vorzustellen.«

»Bleibst du lange hier bei uns in Pawlowsk?« wandte sich Lisaweta Prokofjewna an den Fürsten.

»Den ganzen Sommer und vielleicht noch länger.«

»Du bist ja allein hier. Bist du denn nicht verheiratet?«

»Nein, ich bin nicht verheiratet«, erwiderte der Fürst, der über die Naivität dieser gegen ihn gerichteten Stichelei lächeln mußte.

»Zum Lächeln ist kein Anlaß, so etwas kommt doch vor. Ich sagte es wegen des Landhauses; warum bist du nicht zu uns gezogen? Wir haben ein ganzes Nebengebäude leer stehen. Übrigens, ganz wie du willst. Wohnst du denn hier als Untermieter? Bei dem da?« fügte sie halblaut hinzu, indem sie mit einer Kopfbewegung auf Lebedew hindeutete. »Warum schneidet er eigentlich fortwährend Gesichter?«

In diesem Augenblick kam Wera, wie gewöhnlich mit dem Kind auf dem Arm, aus dem Innern des Hauses auf die Veranda. Lebedew, der sich bei den Stühlen umherwand und nicht wußte, wo er bleiben sollte, aber durchaus nicht weggehen wollte, stürzte plötzlich auf Wera los und wollte sie mit heftigen Armbewegungen aus der Veranda hinausjagen; er vergaß sich sogar so weit, daß er mit den Füßen trampelte.

»Ist er verrückt?« fügte die Generalin hinzu.

»Nein, er…«

»Vielleicht ist er betrunken? Deine Gesellschaft hier ist nicht schön«, sagte sie in entschiedenem Ton, indem sie auch die übrigen Gäste mit ihrem Blick maß. »Ah, was für ein nettes Mädchen! Wer ist das?«

»Das ist Wera Lukjanowna, die Tochter dieses Herrn Lebedew.«

»Ah!… Ein sehr nettes Mädchen. Ich möchte ihre Bekanntschaft machen.«

Lebedew aber, der Lisaweta Prokofjewnas lobendes Urteil gehört hatte, zog bereits selbst seine Tochter herbei, um sie vorzustellen.

»Meine Kinder sind mutterlos, mutterlos!« jammerte er, während er näher trat. »Auch dieses Kind, das sie auf dem Arm hat, ist mutterlos; es ist ihre Schwester, meine Tochter Ljubow, in rechtmäßiger Ehe von meiner Frau Jelena geboren, die vor sechs Wochen nach Gottes Willen im Wochenbett gestorben ist…ja… Sie vertritt an ihr Mutterstelle, obgleich sie nur ihre Schwester ist, nichts weiter als ihre Schwester… nichts weiter, nichts weiter…«

»Und du, Väterchen, bist nichts weiter als ein Dummkopf, nimm mir’s nicht übel. Na, nun genug, jetzt wirst du es wohl selbst wissen, denke ich«, bemerkte Lisaweta Prokofjewna sehr ungehalten.

»Vollkommen richtig!« erwiderte Lebedew sehr respektvoll mit einer tiefen Verbeugung.

»Hören Sie mal, Herr Lebedew, ist das wahr, was man von Ihnen sagt: Sie legen die Apokalypse aus?« fragte Aglaja.

»Vollkommen wahr… Seit fünfzehn Jahren.«

»Ich habe von Ihnen gehört. Es hat ja wohl auch in den Zeitungen etwas über Sie gestanden?«

»Nein, das bezog sich auf einen andern Erklärer, einen andern; der ist gestorben, und ich bin jetzt sein Nachfolger«, versetzte Lebedew, ganz außer sich vor Freude.

»Tun Sie mir den Gefallen und erklären Sie sie mir einmal in diesen Tagen als guter Nachbar. Ich verstehe in der Apokalypse kein Wort.«

»Ich muß Sie darauf aufmerksam machen, Aglaja Iwanowna, daß das von ihm nur Scharlatanerie ist; glauben Sie mir!« mischte sich eilig General Iwolgin in das Gespräch ein, der schon wie auf Kohlen gesessen und auf das lebhafteste gewünscht hatte, irgendwie eine Unterhaltung anzuknüpfen; er setzte sich bei diesen Worten neben Aglaja Iwanowna. »Gewiß«, fuhr er fort, »der Aufenthalt auf dem Lande hat ja seine besonderen Reize und seine besonderen Vergnügungen, und der Verkehr mit jemandem, der es so keck unternimmt, die Apokalypse zu erklären, ist ein Zeitvertreib wie jeder andere und sogar ein solcher, der in interessanter Weise den Verstand in Anspruch nimmt, aber ich… Sie scheinen mich erstaunt anzusehen? Ich habe die Ehre, mich vorzustellen: General Iwolgin. Ich habe Sie auf den Armen getragen, Aglaja Iwanowna.«

»Sehr erfreut. Ich bin mit Warwara Ardalionowna und Nina Alexandrowna bekannt«, murmelte Aglaja, die sich die größte Mühe gab, nicht loszulachen.

Lisaweta Prokofjewna wurde dunkelrot. Der Ärger, der sich schon lange in ihrer Seele angesammelt hatte, verlangte auf einmal nach einem Ausweg. Sie konnte den General Iwolgin, mit dem sie früher einmal, vor sehr langer Zeit, bekannt gewesen war, nicht ausstehen.

»Du lügst, Väterchen, wie das deine Gewohnheit ist; du hast sie nie auf den Armen getragen«, sagte sie scharf und unwillig zu ihm.

»Sie haben es vergessen, maman, er hat mich wirklich auf den Armen getragen«, bestätigte Aglaja plötzlich die Angabe des Generals. »Wir wohnten damals in Twer. Ich war sechs Jahre alt; ich erinnere mich an alles. Er machte mir einen Bogen und einen Pfeil und lehrte mich damit schießen, und ich schoß eine Taube tot. Erinnern Sie sich, daß wir beide zusammen eine Taube totgeschossen haben?«

»Und mir brachte er damals einen Helm aus Pappe und einen hölzernen Degen, ich entsinne mich auch!« rief Adelaida.

»Auch ich erinnere mich daran«, fügte Alexandra bekräftigend hinzu. »Ihr zanktet euch damals noch wegen der verwundeten Taube und wurdet in die Ecken gestellt; Adelaida stand so da: mit dem Helm und dem Degen.«

Der General, der zu Aglaja gesagt hatte, er habe sie auf den Armen getragen, hatte das nur so hingeredet, um ein Gespräch in Gang zu bringen, und einzig und allein, weil er fast immer eine Unterhaltung mit jungen Leuten in dieser Weise begann, wenn er mit ihnen bekannt zu werden wünschte. Diesmal aber hatte es sich ganz zufällig getroffen, daß er die Wahrheit gesagt hatte, und ebenso war es ein Zufall gewesen, daß er selbst dieses wahre Faktum vergessen hatte. Als nun Aglaja unerwarteterweise zur Bestätigung erzählte, daß sie mit ihm zusammen eine Taube totgeschossen habe, erhellte sich sein Gedächtnis auf einmal, und er erinnerte sich selbst an diesen Vorfall bis in die kleinsten Einzelheiten, wie man sich in höheren Jahren nicht selten an etwas aus der fernen Vergangenheit erinnert. Es ist schwer zu sagen, was eigentlich an dieser Erinnerung so stark auf den armen und wie gewöhnlich etwas angetrunkenen General wirken konnte, aber er wurde auf einmal ganz gerührt.

»Ich erinnere mich, ich erinnere mich an alles!« rief er. »Ich war damals Hauptmann. Sie waren so ein kleines, allerliebstes Ding. Nina Alexandrowna … Ganja … Ich verkehrte in Ihrem Hause. Iwan Fjodorowitsch …«

»Und nun sieh mal, wie weit du jetzt heruntergekommen bist!« fiel die Generalin ein. »Na, wenigstens hast du noch nicht alle anständigen Gefühle in dir durch den Trunk erstickt, wenn das so auf dich hat wirken können! Aber deine Frau hast du halb zu Tode gequält. Statt deinen Kindern den Weg durchs Leben zu zeigen, sitzt du im Schuldgefängnis. Mach, daß du von hier wegkommst, Väterchen; geh woandershin, stell dich hinter einer Tür in die Ecke und weine; denk an deine früheren unschuldigen Tage; vielleicht verzeiht dir dann Gott. Geh nur, geh; ich rede ganz im Ernst. Nichts ist zur Besserung nützlicher, als reuig der Vergangenheit zu gedenken.«

Aber es bedurfte keiner wiederholten Versicherung, daß sie ganz im Ernst rede: der General war wie alle Trinker sehr gefühlvoll und konnte wie alle heruntergekommenen Trinker die Erinnerung an die glückliche Vergangenheit nicht ertragen. Er stand auf und begab sich gehorsam nach der Tür, so daß Lisaweta Prokofjewna sogleich wieder Mitleid mit ihm empfand.

»Ardalion Alexandrytsch! Väterchen!« rief sie ihm nach. »Bleib noch einen Augenblick hier! Wir sind allzumal Sünder. Wenn du fühlen wirst, daß dein Gewissen dir nicht mehr soviel Vorwürfe macht, dann komm zu mir; dann wollen wir uns zusammensetzen und von alten Zeiten plaudern. Ich bin ja vielleicht noch fünfzigmal sündhafter als du. Aber jetzt leb wohl, geh, du hast hier nichts zu suchen!« fügte sie hinzu, in Angst, daß er wieder umkehren könnte.

»Sie täten gut, wenn Sie ihm vorläufig nicht nachgingen«, sagte der Fürst, um Kolja aufzuhalten, der seinem Vater schnell folgen wollte. »Sonst wird er nach einer Minute ärgerlich werden, und der ganze segensreiche Augenblick ist dann verdorben.«

»Das ist richtig, laß ihn jetzt in Ruhe, geh erst in einer halben Stunde hin!« sagte Lisaweta Prokofjewna befehlend.

»Da sieht man, was es zu bedeuten hat, wenn man wenigstens einmal im Leben die Wahrheit sagt. Zum Weinen hat es ihn gebracht!« wagte Lebedew hinterdrein zu bemerken.

»Na, und du mußt auch ein netter Patron sein, Väterchen, wenn das wahr ist, was ich über dich gehört habe«, kanzelte ihn Lisaweta Prokofjewna sogleich ab.

Das gegenseitige Verhältnis aller bei dem Fürsten versammelten Besucher klärte sich allmählich. Der Fürst wußte die ihm von der Generalin und ihren Töchtern bewiesene Teilnahme selbstverständlich in ihrem ganzen Wert zu würdigen und sagte ihnen aufrichtig, er habe gerade heute, noch vor ihrem Besuche, die bestimmte Absicht gehabt, zu ihnen zu kommen, trotz seiner Krankheit und trotz der späten Stunde. Lisaweta Prokofjewna erwiderte ihm mit einem Blick auf seine Gäste, das könne er auch jetzt noch sogleich zur Ausführung bringen. Ptizyn, ein höflicher und sehr friedfertiger Mensch, stand sehr bald auf und zog sich nach dem Nebengebäude in Lebedews Wohnung zurück; sehr gern hätte er dabei auch Lebedew selbst mitgenommen. Dieser versprach ihm, bald nachzukommen; unterdessen war Warja mit den jungen Mädchen in ein lebhaftes Gespräch hineingekommen und blieb infolgedessen. Sie und Ganja waren sehr froh über die Abwesenheit des Generals; Ganja selbst folgte bald Ptizyn nach. Während der kurzen Zeit, die er in der Veranda in Gegenwart der Jepantschinschen Damen zugebracht hatte, hatte er sich bescheiden und würdig benommen und unter Lisaweta Prokofjewnas strengem Blicke, die ihn zweimal vom Kopf bis zu den Füßen musterte, nicht die Fassung verloren. Wer ihn früher gekannt hatte, mußte in der Tat finden, daß er sich sehr verändert habe. Auf Aglaja machte dies einen guten Eindruck.

»War das nicht Gawrila Ardalionowitsch, der eben wegging?« fragte sie auf einmal in ihrer beliebten Art: laut, in scharfem Ton, ohne Rücksicht auf das Gespräch der andern, das sie mit ihrer Frage unterbrach, und ohne sich an irgendeinen einzelnen zu wenden.

»Jawohl«, antwortete der Fürst.

»Ich hatte ihn kaum erkannt. Er hat sich sehr verändert, und… sehr zu seinem Vorteil.«

»Das ist mir sehr lieb zu hören«, erwiderte der Fürst.

»Er war sehr krank«, fügte Warja, zugleich erfreut und bedauernd, hinzu.

»Inwiefern soll er sich denn zu seinem Vorteil verändert haben?« fragte Lisaweta Prokofjewna ärgerlich und erstaunt und beinah erschrocken. »Wie kommst du darauf? Ich bemerke an ihm nichts, was besser geworden wäre. Was scheint dir denn eigentlich besser?«

»Etwas Besseres als den ›armen Ritter‹ kann es überhaupt nicht geben!« rief plötzlich Kolja, der die ganze Zeit über neben Lisaweta Prokofjewnas Stuhl gestanden hatte.

»Das ist auch meine Meinung«, sagte Fürst Schtsch. lachend.

»Ich bin ganz derselben Ansicht«, erklärte Adelaida ernst.

»Was ist denn das für ein ›armer Ritter‹?« fragte die Generalin, indem sie alle Redenden verständnislos und ärgerlich anblickte. Aber als sie sah, daß Aglaja rot geworden war, fügte sie zornig hinzu: »Gewiß wieder irgendein Unsinn! Was für ein ›armer Ritter‹?«

»Als ob es das erstemal wäre, daß dieser freche Junge, Ihr Liebling, anderer Leute Worte verdreht!« antwortete Aglaja hochmütig und unwillig.

Fast jedesmal, wenn Aglaja zornig wurde (und das geschah ziemlich oft), blickte aus ihrer anscheinend ernsten, unerbittlichen Miene doch so viel von dem schlecht verhehlten, ungeduldigen Wesen eines Schulkindes hervor, daß es manchmal unmöglich war, bei ihrem Anblick das Lachen zu unterdrücken, worüber sich Aglaja übrigens gewaltig ärgerte, da sie nicht begriff, worüber die Leute lachten, und »wie jemand da überhaupt lachen könne und zu lachen wage«. Auch jetzt lachten die Schwestern und Fürst Schtsch.; sogar Fürst Lew Nikolajewitsch, der aus irgendeinem Grund ebenfalls errötet war, lächelte. Kolja jubelte und triumphierte. Aglaja wurde nun ernstlich böse und dadurch noch einmal so schön. Ihre Verlegenheit stand ihr außerordentlich gut, und nicht minder gleichzeitig ihr Ärger über sich selbst wegen dieser Verlegenheit.

»Auch Ihre eigenen Worte hat er oft genug verdreht!« fügte sie hinzu.

»Ich wiederhole nur Ihren eigenen Ausspruch!« rief Kolja. »Vor einem Monat blätterten Sie im Don Quijote und riefen dabei aus, es gebe doch nichts Besseres als den ›armen Ritter‹. Ich weiß nicht, auf wen sich das damals beziehen sollte: ob auf Don Quijote oder auf Jewgenij Pawlowitsch oder auf noch jemand anders, aber jedenfalls meinten Sie damit irgend jemand, und es entspann sich darüber ein langes Gespräch…«

»Ich sehe, daß du dir mit deinen Vermutungen doch gar zu viel herausnimmst, mein Lieber!« unterbrach ihn Lisaweta Prokofjewna ärgerlich.

»Aber bin ich denn der einzige, der davon spricht?« versetzte Kolja, der sich nicht den Mund verbieten ließ. »Alle haben damals davon gesprochen und sprechen auch jetzt noch davon. Hier Fürst Schtsch. und Adelaida Iwanowna und überhaupt alle haben erklärt, daß sie auf seiten des ›armen Ritters‹ stehen; also muß doch der ›arme Ritter‹ existieren und existiert jedenfalls, und wenn nur Adelaida Iwanowna wollte, so würden wir meiner Ansicht nach alle schon längst wissen, wer der ›arme Ritter‹ ist.«

»Inwiefern soll ich denn daran schuld sein?« fragte Adelaida lachend.

»Sie wollten sein Porträt nicht zeichnen, insofern sind Sie daran schuld! Aglaja Iwanowna bat Sie damals, das Porträt des ›armen Ritters‹ zu zeichnen, und setzte Ihnen den ganzen Vorwurf zu dem Bild auseinander, den sie sich selbst ausgedacht hatte; erinnern Sie sich noch an diesen Vorwurf? Aber Sie wollten es nicht…«

»Wie hätte ich den Betreffenden denn zeichnen sollen? In der Beschreibung wird doch von diesem ›armen Ritter‹ gesagt:

›Niemals in die Höhe schlug er
Vorm Gesichte das Visier.‹

Was konnte dabei also für ein Gesicht herauskommen? Was sollte ich zeichnen? Ein Visier? Einen Anonymus?«

»Ich verstehe von alledem nichts; was ist das nun wieder für ein Visier?« ereiferte sich die Generalin, die im stillen sehr wohl zu begreifen anfing, wer mit der wahrscheinlich schon lange geläufigen Benennung »der arme Ritter« gemeint war.

Aber ganz besonders ärgerte sie sich darüber, daß Fürst Lew Nikolajewitsch ebenfalls verlegen geworden war und schließlich eine Befangenheit bekundete wie ein zehnjähriger Junge.

»Nun also, wird diese Dummheit endlich ein Ende nehmen? Wird mir nun erläutert werden, was dieser ›arme Ritter‹ bedeutet? Ist das etwa ein so furchtbares Geheimnis, daß man gar nicht daran rühren darf?«

Aber alle lachten nur weiter.

»Es ist ganz einfach ein merkwürdiges russisches Gedicht«, ergriff endlich Fürst Schtsch. das Wort, offenbar in dem Wunsch, die Sache möglichst schnell zu erledigen und dem Gespräch eine andere Wendung zu geben, »ein Gedicht über einen ›armen Ritter‹, ein Fragment ohne Anfang und Schluß. Vor einem Monat scherzten wir einmal alle nach Tisch und suchten wie gewöhnlich nach einem Vorwurf für ein künftiges Bild Adelaida Iwanownas. Sie wissen, daß es bereits zu einer Art von Familiensport geworden ist, Vorwürfe für Adelaida Iwanownas Bilder ausfindig zu machen. Da verfielen wir auch auf den ›armen Ritter‹; wer zuerst auf diesen Einfall kam, weiß ich nicht mehr …«

»Aglaja Iwanowna war es!« rief Kolja.

»Mag sein; ich will es nicht bestreiten, obwohl ich mich nicht erinnere«, fuhr Fürst Schtsch. fort. »Die einen spotteten über dieses Sujet, die anderen dagegen meinten, man könne sich gar nichts Höheres ausdenken. Aber um den ›armen Ritter‹ darzustellen, dazu war unter allen Umständen ein Gesicht als Modell erforderlich; so musterten wir denn die Gesichter aller unserer Bekannten, aber kein einziges taugte dazu; daran scheiterte die Sache. Das ist alles. Es ist mir unverständlich, warum Nikolai Ardalionowitsch es hier hat erwähnen und erörtern können. Was früher und bei bestimmtem Anlaß komisch war, hat jetzt alles Interesse verloren.«

»Er hat es eben getan, weil da wieder irgendeine neue Dummheit dahintersteckt, eine boshafte, verletzende Dummheit«, bemerkte Lisaweta Prokofjewna scharf.

»Es steckt gar keine Dummheit dahinter, sondern vielmehr die größte Hochachtung«, sagte Aglaja mit ganz unerwartetem Ernst und Nachdruck. Es war ihr inzwischen gelungen, sich wieder vollständig in die Gewalt zu bekommen und ihre frühere Verlegenheit zu unterdrücken.

Ja, auf Grund gewisser Anzeichen konnte man, wenn man sie ansah, meinen, daß sie sich jetzt selbst darüber freute, daß der Spaß sich immer länger und länger ausdehnte, und diese ganze Umwandlung ging bei ihr gerade in dem Augenblick vor, als die immer zunehmende und schon sehr hoch gestiegene Verlegenheit des Fürsten ganz deutlich wurde.

»Erst lachen sie wie die Unsinnigen, und dann wird auf einmal von der größten Hochachtung gesprochen! Verrücktes Volk! Was soll hier die Hochachtung? Sag mal sofort, warum du so mir nichts dir nichts auf einmal von der größten Hochachtung redest!«

»Von der größten Hochachtung«, erwiderte Aglaja ebenso ernst und nachdrücklich auf die ärgerliche Frage der Mutter, »von der größten Hochachtung rede ich deshalb, weil in diesen Versen ein Mensch geschildert wird, der fähig ist, erstens ein Ideal zu haben und zweitens, nachdem er sich einmal ein solches Ideal geschaffen hat, an dasselbe zu glauben und ihm blind sein ganzes Leben zu weihen. So etwas kommt in unserer Zeit nicht alle Tage vor. Dort, in diesen Versen, ist nicht gesagt, worin eigentlich das Ideal des ›armen Ritters‹ bestand; aber man sieht, daß es eben ein leuchtendes Ideal war, ›das Ideal der reinen Schönheit‹, und daß der verliebte Ritter sich sogar statt der Schärpe einen Rosenkranz um den Hals band. Allerdings ist da noch von einer dunklen, nur andeutenden Devise die Rede, den Buchstaben A. N. B., die er auf seinen Schild geschrieben hatte…«

»A. M. D.«, verbesserte Kolja.

»Ich sage aber A. N. B. und will dabei bleiben«, unterbrach ihn Aglaja ärgerlich. »Wie es sich damit auch verhalten mag, so viel ist klar, daß es diesem ›armen Ritter‹ nun ganz gleichgültig war, wer seine Dame war und was sie tat. Ihm genügte es, sie sich ausgewählt zu haben und an ihre ›reine Schönheit‹ zu glauben, und nun verehrt er sie sein ganzes Leben lang; gerade darin besteht sein Verdienst, daß er, selbst wenn sie später zur Diebin würde, doch an sie glauben und für ihre reine Schönheit eine Lanze brechen müßte. Der Dichter scheint beabsichtigt zu haben, in der auffallenden Gestalt eines reinen, hochgesinnten Ritters den ganzen gewaltigen Begriff der mittelalterlichen, ritterlichen, platonischen Liebe zur zusammenfassenden Darstellung zu bringen; selbstverständlich ist das alles ein Ideal. In dem ›armen Ritter‹ hat dieses Gefühl schon die höchste Stufe erreicht, die Askese; man muß gestehen, daß die Fähigkeit zu einem solchen Gefühl einen hohen Wert hat und daß solche Gefühle einen bedeutsamen und unter Umständen sehr löblichen Charakterzug bilden, wobei ich nicht gerade Don Quijote meine. Der ›arme Ritter‹ ist eine Art Don Quijote, aber ein ernster, nicht ein komischer. Ich habe ihn am Anfang nicht verstanden und über ihn gelacht, aber jetzt liebe ich den ›armen Ritter‹, und vor allen Dingen schätze ich seine Taten hoch.«

Damit schloß Aglaja, und wenn man sie ansah, konnte man schwer daraus klug werden, ob sie im Ernst sprach oder scherzte.

»Na, ein Dummkopf ist er, er und seine Taten!« urteilte die Generalin kurz. »Aber du, liebes Kind, bist ganz ins Schwatzen hineingekommen, das war ja eine ordentliche Vorlesung; aber meiner Ansicht nach steht dir das gar nicht gut, jedenfalls ist es unpassend. Was sind das für Verse? Sag sie mal auf, du kannst sie doch sicher auswendig! Ich will diese Verse unbedingt kennenlernen. Mein ganzes Leben habe ich Verse nicht leiden können, als hätte ich eine Ahnung gehabt, daß ich mich bloß darüber ärgern würde. Um Gottes willen, Fürst, werd nicht böse! Wir beide, du und ich, müssen, wie es scheint, es zusammen ertragen«, sagte sie, zu dem Fürsten Lew Nikolajewitsch gewendet.

Sie war sehr aufgebracht.

Fürst Lew Nikolajewitsch wollte schon etwas sagen, konnte aber wegen seiner immer noch andauernden Verlegenheit nichts herausbringen. Aglaja hingegen, die sich in ihrer »Vorlesung« soviel herausgenommen hatte, zeigte keine Spur von Verlegenheit mehr, sondern schien sich im Gegenteil zu freuen. Sie stand sofort auf, mit derselben ernsten, bedeutsamen Miene wie vorhin; es machte den Eindruck, als hätte sie sich vorher darauf vorbereitet und nur auf eine Aufforderung gewartet. In die Mitte der Veranda tretend, stellte sie sich gerade vor den Fürsten hin, der auf seinem Lehnstuhl sitzen blieb. Alle blickten sie einigermaßen erstaunt an, und fast alle, Fürst Schtsch., die Schwestern und die Mutter, sahen mit einem unangenehmen Gefühl dem neuen, in Vorbereitung befindlichen Schelmenstreich entgegen, der jedenfalls etwas weit zu gehen drohte. Aber Aglaja fand offenbar ihr Vergnügen an dem affektierten Benehmen, mit dem sie sich zu der Deklamation der Verse anschickte. Lisaweta Prokofjewna war schon nahe daran, sie mit energischen Worten von dort wegzurufen und auf ihren Platz zurückzuschicken; aber gerade in dem Augenblick, als Aglaja die bekannte Ballade Zu deklamieren begann, traten zwei neue Gäste, die in lautem Gespräch begriffen waren, von der Straße in die Veranda. Dies waren der General Iwan Fjodorowitsch Jepantschin und hinter ihm ein junger Mann. Ihr Erscheinen rief bei den bereits Anwesenden eine kleine Aufregung hervor.

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