7. Kapitel

Erst auf der Treppe und vor der Eingangstür zu seiner Wohnung gewann er einigermaßen seine Fassung wieder. »Ach, ich Schafskopf!« schimpfte er sich selbst in Gedanken; »wohin führe ich ihn nun? Ich stecke selbst den Kopf in die Schlinge. Was wird Petruschka denken, wenn er uns zusammen sieht? Was wird dieser Halunke sich jetzt zu denken erdreisten? Und er ist so argwöhnisch …« Aber zur Reue war es bereits zu spät; Herr Goljadkin klopfte, die Tür öffnete sich, und Petruschka nahm dem Gaste und dem Hausherrn die Mäntel ab. Herr Goljadkin warf aus dem Augenwinkel flüchtige Blicke nach Petruschka und bemühte sich, seine Miene zu ergründen und seine Gedanken daraus zu erraten. Aber zu seinem größten Erstaunen sah er, daß sein Diener gar nicht daran dachte, sich zu wundern, sondern im Gegenteil so etwas erwartet zu haben schien. Allerdings machte er auch jetzt ein Gesicht wie ein Wolf, schielte zur Seite hin und tat, als ob er jemand fressen wollte. »Hat sie neben den Stuhl, auf dessen äußerstem Rande er demütig Platz genommen hatte. Dieser geringfügige Vorgang öffnete Herrn Goljadkin einigermaßen die Augen; er sah nun ein, daß der andere ihn sehr nötig hatte, und zerbrach sich daher nicht mehr den Kopf darüber, wie er mit seinem Gaste ein Gespräch anfangen solle, sondern überließ, wie es sich gebührte, alles diesem selbst. Aber der Gast seinerseits fing nicht an zu reden; ob er zu schüchtern war oder sich ein wenig schämte oder aus Höflichkeit darauf wartete, daß der Wirt den Anfang mache, blieb dahingestellt und war schwer zu entscheiden. In diesem Augenblicke kam Petruschka herein, blieb in der Tür stehen und blickte nach derjenigen Seite hin, die der, wo sich sein Herr und der Gast befanden, ganz entgegengesetzt war.

»Befehlen Sie, daß ich zwei Portionen Mittagessen hole?« fragte er mit seiner heiseren Stimme in nachlässigem Tone.

»Ich … ich weiß nicht … Sie … ja, hole zwei Portionen, mein Lieber!«

Petruschka ging weg. Herr Goljadkin sah seinen Gast an. Der Gast errötete bis über die Ohren. Herr Goljadkin war ein gutmütiger Mensch und legte sich daher in der Güte seines Herzens sogleich eine Anschauung zurecht:

»Er ist ein armer Mensch«, dachte er, »und erst einen Tag in seiner Stelle; wahrscheinlich hat er vorher viel leiden müssen; nur gut, daß er einen anständigen Anzug besitzt; aber Geld zum Mittagessen wird er nicht haben. Ach mein Gott, wie niedergeschlagen er aussieht! Na, das schadet nichts: das hat sogar sein Gutes …« – »Verzeihen Sie, daß ich …« begann Herr Goljadkin, »gestatten Sie übrigens die Frage, wie ich Sie nennen darf!«

»Ich … ich … heiße Jakow Petrowitsch,« erwiderte der Gast fast flüsternd, als wenn er sich schämte und um Verzeihung dafür bäte, daß er ebenfalls Jakow Petrowitsch heiße.

»Jakow Petrowitsch,« wiederholte unser Held, der nicht imstande war, seine Aufregung zu verbergen.

»Ja, ganz richtig … Ich bin Ihr Namensvetter,« antwortete Herrn Goljadkins demütiger Gast, indem er sich dazu aufraffte, zu lächeln und in scherzendem Tone zu reden. Aber er fiel sogleich in seine unterwürfige Haltung wieder zurück, als er die sehr ernste und etwas bestürzte Miene seines Wirtes wahrnahm und merkte, daß dieser jetzt zu Scherzen nicht aufgelegt sei.

»Gestatten … gestatten Sie mir die Frage, welchem Umstande ich die Ehre zu verdanken habe …«

»Da ich Ihre Großmut und Wohltätigkeit kenne,« unterbrach ihn der Gast schnell, aber in schüchternem Tone, indem er sich ein wenig von seinem Stuhle erhob, »so habe ich es gewagt, mich an Sie zu wenden und Sie um Ihre … um Ihre Bekanntschaft und Gönnerschaft zu bitten …« schloß der Gast, der es schwierig fand sich auszudrücken und nach Worten suchte, die einerseits nicht zu schmeichlerisch und unterwürfig klängen, um nicht sein eigenes Ehrgefühl zu verletzen, andrerseits aber auch nicht zu kühn wären und ungehörigerweise den Anspruch auf Gleichstellung erhöben. Im allgemeinen konnte man sagen, daß Herrn Goljadkins Gast sich wie ein Bettler aus gutem Stande in einem geflickten Frack und mit einem ordnungsmäßigen Paß in der Tasche benahm, der noch keine Übung darin gewonnen hat, wie es sich gehört, die Hand auszustrecken.

»Sie setzen mich in Verlegenheit,« erwiderte Herr Goljadkin, indem er sich selbst, seine Wände und den Gast betrachtete; »womit könnte ich denn … das heißt, ich will sagen, in welcher Beziehung kann ich Ihnen eigentlich mit irgend etwas dienen?«

»Ich habe mich gleich beim ersten Blick zu Ihnen hingezogen gefühlt, Jakow Petrowitsch, und habe (verzeihen Sie mir großmütig!) meine Hoffnung auf Sie gesetzt … habe gewagt, meine Hoffnung auf Sie zu setzen, Jakow Petrowitsch. Ich … ich fühle mich hier ganz wie verloren, Jakow Petrowitsch; ich bin arm, habe sehr viel gelitten, Jakow Petrowitsch, und bin hier noch neu. Da ich erfahren hatte, daß Sie zu den Ihnen angeborenen vortrefflichen Eigenschaften Ihrer schönen Seele auch noch mit mir denselben Namen führen …«

Herr Goljadkin runzelte die Stirn.

»… auch noch mit mir denselben Namen führen und mit mir aus demselben Orte stammen, so entschloß ich mich, mich an Sie zu wenden und Ihnen meine schwierige Lage vorzutragen.«

»Gut, gut, ich weiß wirklich nicht, was ich Ihnen darauf erwidern soll,« antwortete Herr Goljadkin verlegen. Wissen Sie, wir wollen nach Tische darüber reden …«

Der Gast verbeugte sich; das Mittagessen wurde gebracht. Petruschka stellte alles in Ordnung auf den Tisch, und Gast und Wirt schickten sich an, sich zu sättigen. Das Essen dauerte nicht lange, denn sie beeilten sich: der Wirt, weil er sich unbehaglich fühlte und sich außerdem über das schlechte Mittagessen schämte (er schämte sich zum Teil deswegen, weil er den Gast gern gut bewirtet hätte, teils deswegen, weil er zu zeigen wünschte, daß er nicht wie ein Bettler lebe), und der Gast seinerseits, weil er sich in schrecklicher Verwirrung und äußerster Verlegenheit befand. Nachdem er einmal Brot genommen und seine Schnitte aufgegessen hatte, scheute er sich, die Hand nach einer zweiten Schnitte auszustrecken; er genierte sich, von den Speisen ein besseres Stückchen zu nehmen, und versicherte alle Augenblicke, er sei gar nicht hungrig, das Mittagessen sei vorzüglich, er für seine Person sei völlig zufrieden und werde bis zum Grabe daran denken. Als das Essen zu Ende war, zündete Herr Goljadkin sich seine Pfeife an und offerierte die andere, die er sich für Freundesbesuch hielt, dem Gaste; beide setzten sich einander gegenüber, und der Gast begann seine Erlebnisse zu erzählen.

Die Erzählung des jüngeren Herrn Goljadkin dauerte drei oder vier Stunden. Die Geschichte seiner Erlebnisse setzte sich übrigens aus den unbedeutendsten und, wenn man sich so ausdrücken kann, miserabelsten Einzelheiten zusammen. Es handelte sich dabei um amtliche Tätigkeit irgendwo bei einem Gerichte, bei einer Gouvernementsregierung; um Staatsanwälte und Präsidenten; um irgendwelche Bureau-Intrigen; um die Schändlichkeit eines Tischvorstehers; um einen Revisor; um einen plötzlichen Wechsel der Person des Chefs; darum, daß Herr Goljadkin der zweite ganz unschuldig hatte leiden müssen; um seine alte Tante Pelageja Semjonowna; darum, daß er infolge verschiedener Intrigen seiner Feinde seine Stelle verloren hatte und zu Fuß nach Petersburg gewandert war; darum, daß er hier in Petersburg viel Not und Elend durchgemacht, lange erfolglos eine Stelle gesucht, sich auf das kümmerlichste beholfen, beinah auf der Straße gewohnt, altes, vertrocknetes Brot gegessen und dazu seine Tränen geschluckt, auf dem nackten Fußboden geschlafen hatte, und daß endlich irgendein guter Mensch es übernommen hatte, für ihn zu sorgen, ihn empfohlen und ihm großmütig seine jetzige Stellung verschafft hatte. Herrn Goljadkins Gast weinte bei dieser Erzählung und trocknete sich die Tränen mit einem blaukarierten Taschentuche ab, das große Ähnlichkeit mit Wachstuch hatte. Er schloß damit, daß er Herrn Goljadkin seine derzeitige Lage mit völliger Offenheit darlegte und ihm gestand, daß er kein Geld habe, um davon in nächster Zeit zu leben und sich anständig einzurichten, ja nicht einmal um sich ordentlich zu equipieren. Er fügte noch hinzu, er könne nicht einmal das Geld für Stiefel auftreiben, und die Uniform habe er sich von jemand auf kurze Zeit geliehen.

Herr Goljadkin war gerührt und fühlte aufrichtiges Mitleid. Obgleich die Geschichte seines Gastes eine so öde Geschichte war, fielen alle Worte derselben auf sein Herz wie himmlisches Manna. Die Sache war die, daß Herr Goljadkin nun seine letzten Zweifel vergaß, sein Herz wieder dem Gefühl der Freiheit und der Freude Inhalt, in schönem Stil und mit guter Handschrift geschrieben und augenscheinlich von dem liebenswürdigen Gaste selbst verfaßt. Die Verse lauteten:

»Solltest je du mein vergessen,
Niemals doch vergeß ich dein;
Viel begibt sich wohl im Leben,
Doch vergiß auch du nicht mein!«

Mit Tränen in den Augen umarmte Herr Goljadkin seinen Gast, und nachdem er seinen Gefühlen völlig freien Lauf gelassen hatte, weihte er selbst seinen Gast in mehrere seiner Geheimnisse ein, wobei Andrei Filippowitsch und Klara Olsufjewna die Hauptthemata waren. »Na, du und ich, wir passen zusammen, Jakow Petrowitsch,« sagte unser Held zu seinem Gaste; »wir beide, Jakow Petrowitsch, wollen leben wie die Fische im Wasser, wie zwei leibliche Brüder; wir wollen List anwenden, Freundchen, wollen zusammen List anwenden; wir wollen unsererseits eine Intrige gegen sie einfädeln … gegen sie eine Intrige einfädeln. Aber von denen vertraue du dich niemandem an! Ich kenne dich ja, Jakow Petrowitsch, und verstehe deinen Charakter; du erzählst einem gleich alles; du bist eine redliche Seele! Halte dich von denen allen fern, Bruder!« Der Gast war damit völlig einverstanden, dankte Herrn Goljadkin und vergoß zuletzt ebenfalls Tränen. »Weißt du was, lieber Jakow,« sagte Herr Goljadkin mit leiser, zitternder Stimme, »zieh für einige Zeit zu mir, oder auch für immer! Wir passen zusammen. Wie denkst du darüber, Bruder? Rege dich nicht darüber auf und murre nicht darüber, daß zwischen uns jetzt ein so sonderbares Verhältnis besteht; zu murren ist den türkischen Propheten Mohammed allerlei Verleumdungen vorbrächten, erkannte ihn als einen großen Politiker in seiner Art an und ging dann zu einer sehr interessanten Beschreibung einer Barbierstube in Algier über, von der er in einem Büchelchen unter »Allerlei« gelesen hatte. Der Gast und der Wirt lachten herzlich über die Einfalt der Türken, konnten aber nicht umhin, ihren durch das Opium hervorgerufenen Fanatismus zu bewundern … Der Gast begann endlich sich zu entkleiden, und Herr Goljadkin ging hinaus hinter die Scheidewand, zum Teil aus Gutherzigkeit, um den Gast, der vielleicht kein anständiges Hemd anhabe, nicht in Verlegenheit zu setzen, da er ohnehin schon genug gelitten habe, und zum andern Teil um sich nach Möglichkeit Petruschkas zu vergewissern, ihn zu sondieren und ihn wenn möglich durch freundliche Worte aufzuheitern, damit alle glücklich waren und keine Spur von Verstimmung zurückbliebe. Es muß bemerkt werden, daß Herr Goljadkin sich immer noch ein wenig über Petruschka beunruhigte.

»Lege dich jetzt schlafen, Petruschka!« sagte Herr Goljadkin sanft, indem er in die Abteilung seines Dieners hereintrat. »Lege dich jetzt schlafen, und morgen um acht Uhr wecke mich! Hörst du, Petruschka?«

Herr Goljadkin sprach in außerordentlich mildem, freundlichem Tone. Aber Petruschka schwieg. Er war in diesem Augenblick damit beschäftigt, sein Bett zu machen, und wendete sich nicht einmal zu seinem Herrn um, was er doch schon aus Respekt gegen ihn hätte tun müssen.

»Hast du gehört, was ich sage, Petruschka?« fuhr Herr Goljadkin fort. »Lege dich jetzt schlafen, und morgen, Petruschka, wecke mich um acht Uhr; verstehst du?«

»Ich werde schon daran denken; große Sache!« brummte Petruschka vor sich hin.

»Nun, nun, Petruschka; ich sage das ja nur so, damit auch du ruhig und glücklich sein kannst. Siehst du, wir sind jetzt alle glücklich; da möchte ich, daß auch du ruhig und glücklich wärest. Jetzt aber wünsche ich dir Gute Nacht. Schlaf dich aus, Petruschka, schlaf dich aus: es hat ein jeder von uns seine Mühe und Arbeit … Und weißt du, lieber Freund, mach dir keine Gedanken darüber, daß …«

Herr Goljadkin hatte den Satz angefangen, hielt dann aber inne. »Sage ich auch nicht zu viel?« dachte er. »Fordere ich auch nicht die Gefahr heraus? So mache ich das immer; ich gehe immer zu weit.« Unser Held ging, sehr unzufrieden mit sich selbst, aus Petruschkas Raume hinaus. Außerdem fühlte er sich durch Petruschkas Respektlosigkeit und Grobheit etwas beleidigt. »Man redet freundlich mit einem solchen Halunken, der Herr erweist ihm eine Ehre, und er hat kein Gefühl dafür,« dachte Herr Goljadkin. »Übrigens findet man diese gemeine Gesinnung bei dieser ganzen Menschenklasse!« Etwas schwankend kehrte er in das Zimmer zurück, und da er sah, daß sein Gast sich schon vollständig hingelegt hatte, setzte er sich für einen Augenblick zu ihm auf das Bett. »Aber das mußt du doch bekennen, lieber Jakow« begann er flüsternd und mit dem Kopfe wackelnd, »du hast dich doch mir gegenüber vergangen, du schändlicher Mensch! Weißt du, Namensvetter, du hast doch … hm …« fuhr er in familiärem, scherzendem Tone fort. Nachdem er endlich freundschaftlich seinem Gaste Gute Nacht gesagt hatte, schickte sich Herr Goljadkin an, schlafen zu gehen. Der Gast schnarchte unterdessen schon. Herr Goljadkin seinerseits begann sich ins Bett zu legen und flüsterte dabei lächelnd vor sich hin: »Du bist heute betrunken, mein Täubchen, Jakow Petrowitsch, du Lump, du armer Schlucker; daß du ein armer Schlucker bist, besagt ja schon dein Familienname!! Na, worüber freust du dich denn? Morgen wirst du ja weinen, du Plärrliese! Was soll ich mit dir anfangen?« Nun aber machte sich eine recht sonderbare Empfindung in Herrn Goljadkins ganzem Wesen geltend, etwas, was mit Zweifel oder Reue Ähnlichkeit hatte. »Ich habe des Guten zuviel getan,« dachte er; »nun brummt mir der Kopf, und ich bin betrunken; und du hast dich nicht beherrschen können, du Dummkopf! Was hast du für einen Haufen dummes Zeug zusammengeschwatzt, und dabei möchtest du noch intrigieren, du Halunke! Allerdings ist Beleidigungen zu verzeihen und zu vergessen die erste Tugend; aber die Sache steht doch schlecht! Ja, so ist das!« Hier stand Herr Goljadkin auf, nahm das Licht und ging auf den Zehen noch einmal hin, um seinen schlafenden Gast zu betrachten. Lange stand er in tiefem Nachdenken über ihn gebeugt da. »Ein unangenehmes Bild! Der reine Spott, der reine Spott; das steht fest!«

Endlich legte sich Herr Goljadkin definitiv schlafen. In seinem Kopfe brummte, sauste und summte es. Das Bewußtsein schwand ihm … Er machte Anstrengungen, an etwas zu denken, sich an etwas sehr Interessantes zu erinnern, eine sehr wichtige, heikle Frage zu lösen; aber er konnte es nicht. Der Schlummer senkte sich auf sein armes Haupt herab, und er schlief ein, wie gewöhnlich Leute einschlafen, die nicht gewohnt sind, bei einem freundschaftlichen abendlichen Zusammensein fünf Gläser Punsch zu trinken.

EPUB

Download als ePub

 

Downloaden sie das eBook als EPUB. Geeignet für alle SmartPhones, Tablets und sonst. Lesegeräte, die mit EPUB zurechtkommen.

PDF

Download als PDF

 

Downloaden sie das eBook als PDF.
Geeignet für alle PC, Tablets und sonst. Lesegeräte, die mit PDF zurechtkommen.

Gratis + Sicher

  • Viren- und Trojanergeprüft
  • ohne eMailadresse
  • ohne Anmeldung
  • ohne Wartezeit
  • Werbefreie Downloads