4. Kapitel

Dieser Tag, der festliche Geburtstag Klara Olsufjewnas, der einzigen Tochter des Staatsrates Berendejew, des ehemaligen Wohltäters des Herrn Goljadkin, dieser Tag, der durch ein glänzendes, prächtiges Diner verherrlicht wurde, ein Diner, wie man es in den Beamtenwohnungen an der Ismailowski-Brücke und in weitem Umkreise seit langer Zeit nicht erlebt hatte, ein Diner, das mehr einem sardanapalischen Schmause als einem Diner glich und, was Glanz, Luxus und Anstand anlangte, so etwas Babylonisches an sich hatte, ein Diner mit Champagner Cliquot, mit Austern und mit Früchten aus den Geschäften von Jelisejew und den Gebrüdern Miljutin und mit allerlei Mastkälbern und mit Gästen von allen Stufen der Rangliste, – dieser festliche Tag, der durch ein so festliches Diner verherrlicht wurde, schloß mit einem glänzenden Balle, glänzend in bezug auf guten Geschmack, seine Sitte und Anstand, obwohl es nur ein kleiner Familien- und Verwandtenball war. Gewiß, ich gebe zu, daß es solche Bälle auch sonst gibt, aber doch nur selten. Solche Bälle, die mehr mit Familienvergnügungen (um im höheren Stil zu reden) homöopathischen Füßchen? Wie soll ich Ihnen endlich diese eleganten Kavaliere aus dem Beamtenstande schildern, sowohl die heiteren, soliden Jünglinge, als auch die gesetzten, frohsinnigen und in wohlanständiger Art finsteren Männer, diese Kavaliere, die in den Pausen zwischen den Tänzen teils in einem kleinen, abgelegenen, grünen Zimmer eine Pfeife rauchten, teils keine Pfeife rauchten, diese Kavaliere, die vom ersten bis zum letzten einen anständigen Rang besaßen und anständigen Familien angehörten, diese Kavaliere, die von dem Gefühl der Eleganz und von dem Gefühle ihrer eigenen Würde tief durchdrungen waren, diese Kavaliere, die mit den Damen meist französisch sprachen und, wenn sie von der russischen Sprache Gebrauch machten, sich nur gewählter Ausdrücke des höchsten Stiles, feiner Komplimente und geistreicher Redewendungen bedienten, diese Kavaliere, die höchstens im Rauchzimmer sich ein paar liebenswürdige Abweichungen von der Sprache des feinsten Tones, ein paar Redewendungen voll freundschaftlicher, liebenswürdiger Intimität gestatteten, etwa von folgender Art: »Na, Petja, du Schwerenöter, du hast ja die Polka famos heruntergehopst!« oder: »Wasja, du Schlingel, du hast ja deine Dame gehörig vorgenommen!« Zu alledem ist, wie ich Ihnen, meine verehrten Leser, schon oben die Ehre hatte mitzuteilen, meine Feder unfähig, und darum schweige ich. Wenden wir uns lieber zu Herrn Goljadkin, dem einzigen, wirklichen Helden unserer durchaus wahrhaften Erzählung!

Die Sache war die, daß er sich augenblicklich in einer sehr sonderbaren (um keinen stärkeren Ausdruck zu gebrauchen befand er sich im Büfettzimmer, zog den Mantel aus, nahm den Hut ab, schob dies alles in eine Ecke, machte seinen Anzug zurecht und strich sich das Haar glatt; dann … dann ging er ins Teezimmer, aus dem Teezimmer glitt er noch in ein anderes Zimmer und schlüpfte fast unbemerkt zwischen den in Eifer geratenen Kartenspielern hindurch; dann… dann … hier vergaß Herr Goljadkin alles, was um ihn herum geschah, und erschien plötzlich ganz unerwartet im Tanzsaale.

Es traf sich, daß gerade in diesem Augenblicke nicht getanzt wurde. Die Damen promenierten in malerischen Gruppen im Saale. Die Herren drängten sich zu einzelnen Kreisen zusammen oder schwärmten durch den Saal, um Damen zu engagieren. Herr Goljadkin bemerkte nichts davon. Er sah nur Klara Olsufjewna, neben ihr Andrei Filippowitsch, ferner Wladimir Semjonowitsch und noch zwei oder drei Offiziere sowie noch zwei oder drei gleichfalls sehr interessante junge Leute, die, wie man auf den ersten Blick sehen konnte, zu schönen Hoffnungen berechtigten oder solche bereits erfüllten … Er sah auch sonst noch diesen oder jenen. Oder nein; er sah niemand mehr und blickte nach niemand hin … Durch jene selbe Feder getrieben, mittels deren er uneingeladen sich in einen fremden Ball eingedrängt hatte, schritt er vorwärts, dann noch weiter vorwärts und noch weiter vorwärts, stieß im Vorbeigehen an irgendeinen Rat und trat ihm auf den Fuß, benutzte die Gelegenheit, einer hochachtbaren alten Dame auf das Kleid zu treten und etwas daran zu zerreißen, stieß einen Diener, der ein Präsentierbrett trug, an, stieß noch jemand an, schritt, dies alles nicht bemerkend oder, richtiger gesagt, es nur so obenhin bemerkend, ohne jemand anzusehen, immer weiter und weiter vorwärts und stand plötzlich vor Klara Olsufjewna selbst. Ohne allen Zweifel wäre er, ohne mit den Wimpern zu zucken, in diesem Augenblicke mit dem größten Vergnügen in die Erde versunken; aber was geschehen ist, kann man nicht rückgängig machen; das ist schlechterdings unmöglich. Was war zu tun? »Mißlingt’s, dann nicht verzagen; gelingt’s, dann weiter wagen,« dachte er bei sich. Herr Goljadkin war eben kein Intrigant und verstand sich nicht darauf, »das Parkett mit den Stiefeln zu polieren«. Es war nun einmal geschehen. Zudem hatten sich auch die Jesuiten da irgendwie hineingemischt … Aber was gingen Herrn Goljadkin die Jesuiten an! Alles, was da umherging und lärmte und redete und lachte, das verstummte plötzlich wie auf ein gegebenes Zeichen und drängte sich allmählich um Herrn Goljadkin zusammen. Aber Herr Goljadkin schien nichts zu hören und zu sehen; er vermochte nicht um sich zu schauen, nichts anzublicken; er schlug die Augen zu Boden und stand so da; nebenbei gab er sich übrigens das Ehrenwort darauf, sich noch in dieser Nacht zu erschießen. Nachdem er sich darauf das Ehrenwort gegeben hatte, sagte Herr Goljadkin in Gedanken zu sich selbst: »Nun komme, was kommen will!« und fing zu seinem eigenen größten Erstaunen auf einmal ganz unerwartet zu reden an.

Herr Goljadkin begann mit einer Gratulation und mit dem Ausdruck seiner guten Wünsche. Die Gratulation ging gut vonstatten; aber bei dem Ausdruck seiner guten Wünsche stieß unser Held an. Er hatte schon vorher gefühlt, daß, wenn er anstieße, alles mit einem Mal zum Teufel gehen werde. Und so kam es auch: er stieß an und blieb stecken; er blieb stecken und errötete; er errötete und geriet aus der Fassung; er geriet aus der Fassung und blickte auf; er blickte auf und schaute rings um sich; er schaute rings um sich und wurde starr … Alle standen da, alle schwiegen, alle warteten; etwas weiter weg wurde geflüstert, in etwas größerer Nähe gelacht. Herr Goljadkin warf einen demütigen, verlegenen Blick nach Andrei Filippowitsch hin. Andrei Filippowitsch antwortete Herrn Goljadkin mit einem solchen Blicke, daß, wäre unser Held nicht schon gänzlich und vollständig niedergeschmettert gewesen, dieser Blick ihn unfehlbar niedergeschmettert hätte. Das Schweigen dauerte an.

»Das gehört mehr zu meinen persönlichen Verhältnissen und zu meinem Privatleben, Andrei Filippowitsch,« sagte Herr Goljadkin, der mehr tot wie lebendig war, mit kaum vernehmbarer Stimme; »das ist keine amtliche Handlung, Andrei Filippowitsch …«

»Schämen Sie sich, mein Herr, schämen Sie sich!« sagte Andrei Filippowitsch fast flüsternd mit einer Miene unbeschreiblicher Entrüstung, bot Klara Olsufjewna seinen Arm und wandte sich von Herrn Goljadkin ab.

»Ich habe keinen Anlaß mich zu schämen, Andrei Filippowitsch,« antwortete Herr Goljadkin ebenfalls fast flüsternd, ließ seine kläglichen Blicke verlegen umherschweifen und versuchte dabei, sich in der erstaunten Menge zu orientieren und sich über seine eigene gesellschaftliche Stellung in ihr klar zu werden.

»Nun, das tut nichts, das tut nichts, meine Herren! Was ist denn dabei? Das kann ja jedem passieren,« flüsterte Herr Goljadkin, indem er sich ein wenig von seinem Flecke fortbewegte und aus der ihn umgebenden Menge herauszukommen suchte. Man machte ihm Platz. Unser Held schritt, so gut es ging, zwischen zwei Reihen von neugierigen, verwunderten Zuschauern hindurch. Sein Verhängnis riß ihn fort. Herr Goljadkin fühlte das selbst, daß ihn sein Verhängnis fortriß. Er hätte natürlich viel für die Möglichkeit gegeben, sich jetzt ohne Verletzung des Anstandes auf seinem früheren Standplatze auf dem Flur bei der Hintertreppe zu befinden; aber da dies entschieden unmöglich war, so versuchte er, sich in irgendein Winkelchen zu verkriechen, wo er für sich, bescheiden, anständig, abgesondert, ohne mit jemand in Berührung zu kommen und ohne die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich zuziehen, stehen könnte; so hoffte er, sich zugleich das Wohlwollen der Gäste und des Hausherrn zu erwerben. Übrigens hatte Herr Goljadkin die Empfindung, als ob ihm der Boden unter den Füßen weggespült werde und er schwanke und falle. Endlich erreichte er mit Mühe ein Winkelchen und stellte sich dort wie ein unbeteiligter, ziemlich gleichmütiger Zuschauer hin; die Arme stützte er auf die Lehnen zweier Stühle, die er auf diese Art völlig in seinen Besitz nahm, und versuchte, mit möglichst mutigem Blicke die sich in seiner Nähe gruppierenden Gäste Olsufi Iwanowitschs anzusehen. Am nächsten von allen stand ihm ein Offizier, ein hochgewachsener, schöner junger Mann, dem gegenüber sich Herr Goljadkin wie ein richtiges kleines Käferchen vorkam.

»Diese beiden Stühle sind reserviert, Leutnant, der eine einer eigentümlichen Ideenverknüpfung, die in seinem Kopfe hinsichtlich der Türken vorging, in Gedanken auch auf die türkischen Pantoffeln und erinnerte sich bei dieser Gelegenheit daran, daß Andrei Filippowitsch Stiefel zu tragen pflegte, die mehr wie Pantoffeln als wie Stiefel aussahen. Man konnte bemerken, daß Herr Goljadkin sich zum Teil in seine Lage hineinfand. Nun ging ihm der Gedanke durch den Kopf: »Wenn dieser Kronleuchter da jetzt abrisse und auf die Gesellschaft herunterfiele, dann würde ich sofort hineilen und Klara Olsufjewna retten. Und wenn ich sie gerettet hätte, würde ich zu ihr sagen: ›Beunruhigen Sie sich nicht, mein Fräulein; es hat nichts auf sich; ich aber bin Ihr Retter.‹ Dann …« Hier wandte Herr Goljadkin die Augen zur Seite, um nach Klara Olsufjewna zu suchen, und erblickte Gerasimowitsch, Olsufi Iwanowitschs alten Kammerdiener. Gerasimowitsch steuerte mit sehr ernster, feierlicher Amtsmiene gerade auf ihn los. Herr Goljadkin fuhr zusammen und runzelte infolge einer unklaren und zugleich sehr unangenehmen Empfindung die Stirn. Mechanisch blickte er um sich: er dachte schon daran, sich so ganz sachte seitwärts unvermerkt aus dem Staube zu machen und zu verschwinden, d. h. so zu tun, als ob es sich um ihn ganz und gar nicht handle. Ehe jedoch unser Held irgendwelchen Entschluß fassen konnte, stand Gerasimowitsch schon vor ihm.

»Sehen Sie mal, Gerasimowitsch,« sagte unser Held, indem er sich lächelnd an den Kammerdiener wandte, »veranlassen Sie doch … sehen Sie doch die Kerze da auf dem Kronleuchter, Gerasimowitsch … die wird gleich herunterfallen … veranlassen Sie also doch, daß sie in Ordnung gebracht wird; sie wird wahrhaftig gleich herunterfallen, Gerasimowitsch …«

»Die Kerze da? Nicht doch, die Kerze steht gerade; aber es fragt da jemand nach Ihnen.«

»Wer fragt denn da nach mir, Gerasimowitsch?«

»Wer es eigentlich ist, weiß ich wirklich nicht. Es ist ein Bote von jemandem. Er sagt: ›Befindet sich Jakow Petrowitsch Goljadkin hier? Dann rufen Sie ihn doch einmal heraus; es handelt sich um eine sehr notwendige, eilige Angelegenheit …‹ So verhält sich das.«

»Nein, Gerasimowitsch, Sie irren sich; darin irren Sie sich, Gerasimowitsch.«

»Wohl kaum …«

»Nein, Gerasimowitsch, nicht ›wohl kaum‹; hier gibt es kein ›wohl kaum‹, Gerasimowitsch. Niemand fragt nach mir, Gerasimowitsch; niemand hat Anlaß nach mir zu fragen; ich bin hier zu Hause, ich will sagen: an meinem richtigen Platze, Gerasimowitsch.«

Herr Goljadkin holte tief Atem und blickte um sich. Wahrhaftig! Alle im Saale Anwesenden schauten und horchten in einer Art von feierlicher Erwartung nach ihm hin. Die Männer drängten sich näher heran, um das Gespräch mit anzuhören; weiter davon flüsterten die Damen unruhig miteinander. Der Hausherr selbst erschien in sehr geringer Entfernung von Herrn Goljadkin, und obgleich an seiner Miene nicht zu erkennen war, daß auch er an Herrn Goljadkins Affäre direkt und unmittelbar Anteil nahm (denn alles vollzog sich mit größter Diskretion), so konnte der Held unserer Erzählung doch aus alledem mit Sicherheit entnehmen, daß für ihn der entscheidende Augenblick nahe herbeigekommen war. Herr Goljadkin erkannte klar, daß der rechte Zeitpunkt da sei, um einen kühnen Schlag auszuführen und seine Feinde zu beschämen. Er war in großer Aufregung. Er fühlte eine Art von Begeisterung und begann von neuem mit zitternder, feierlicher Stimme, indem er sich an den wartenden Gerasimowitsch wandte:

»Nein, mein Freund, niemand läßt mich rufen. Du irrst dich. Ich will noch mehr sagen: du hast dich auch heute nachmittag geirrt, als du mir gegenüber behauptetest … ich sage, als du mir gegenüber zu behaupten wagtest« (Herr Goljadkin erhob die Stimme), »daß Olsufi Iwanowitsch, der seit undenklichen Jahren mein Wohltäter gewesen ist und in gewissem Sinne an mir Vaterstelle vertreten hat, mir am Tage eines für sein Vaterherz so hocherfreulichen Familienfestes den Eintritt in sein Haus verboten habe.« (Herr Goljadkin blickte selbstzufrieden, aber mit tiefer Empfindung um sich; an seinen Wimpern zeigten sich Tränen.) »Ich wiederhole, mein Freund,« schloß unser Held, »du hast dich geirrt, hast dich arg und unverzeihlich geirrt …«

Es war ein feierlicher Augenblick. Herr Goljadkin hatte das Gefühl, daß er einen tiefen Eindruck gemacht habe. Er stand, die Augen bescheiden niederschlagend, da und wartete darauf, daß Olsufi Iwanowitsch ihn umarme. Unter den Gästen war eine starke Erregung und Verwunderung wahrnehmbar; selbst der unerschütterliche, schreckliche Gerasimowitsch stotterte bei den Worten »Wohl kaum« … als plötzlich das erbarmungslose Orchester, wie wenn nichts vorgefallen wäre, eine Polka intonierte. er sich auf dem Hofe. Die frische Luft schlug ihm entgegen, und er blieb einen Augenblick stehen; gerade in diesem Augenblick schlugen die Klänge des von neuem einsetzenden Orchesters an sein Ohr. Auf einmal erinnerte Herr Goljadkin sich an alles; es schien, als ob alle seine gesunkenen Kräfte ihm wieder zurückkehrten. Er riss sich von der Stelle los, an der er bis dahin wie angenagelt gestanden hatte, und stürzte Hals über Kopf hinaus, irgendwohin, in die Luft, ins Freie, wohin ihn die Beine trugen.

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