9

 

Julius wohnte bei Mr. Atterman und hatte sich um elf Uhr zur Ruhe gelegt.

 

Mr. Atterman eilte die Treppe hinauf, nahm zwei und drei Stufen mit einem Schritt und stürzte atemlos in das Zimmer seines Gastes.

 

»Peeker ist ihr zum Opfer gefallen!« weckte er ihn keuchend. »Sie sind der nächste!«

 

»Was wollen Sie?« fragte Julius schlaftrunken.

 

»Sie sind ihr nächstes Opfer«, wiederholte Mr. Atterman und zeigte mit zitterndem Finger auf ihn.

 

»Um Himmels willen, was reden Sie da?« rief Julius entsetzt. »Meinen Sie Barbara Storr? Was hat Sie mit Peeker gemacht?«

 

»Sie hat ihn umgebracht, sie hat ihn ermordet!«

 

Julius stand auf, wankte ins Badezimmer und goß zwei Gläser eiskaltes Wasser hinunter. Atterman folgte ihm und erzählte ihm die grausige Geschichte mit allen Einzelheiten.

 

»Peeker ist dem Rechtsanwalt den ganzen Tag gefolgt. Von Wapping aus hat mich der arme Kerl das letzte Mal angerufen… Seine Witwe wird untröstlich sein… wir müssen sofort ausfindig machen, wo sie wohnt. Was schreibt eigentlich das Gesetz vor, Julius? Muß ich der Frau eine Entschädigungssumme zahlen, wenn sie zum Beispiel getrennt von ihrem Mann wohnte?«

 

Mr. Colesberg hatte keine Zeit, auf eine derartig profane Frage einzugehen.

 

»Ist die Leiche gefunden?« erkundigte er sich mit heiserer Stimme.

 

»Nein, aber der ganze Fluß wird bereits danach abgesucht, und ein Inspektor von Scotland Yard ist mit der Aufklärung des Verbrechens beauftragt. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätten wir die Polizei gleich benachrichtigt und dann nicht unseren besten Detektiv verloren, einen so vorzüglichen Menschen!«

 

»Ich habe Ihnen ja auch nicht geraten, Mr. Peeker zu holen.«

 

Mr. Atterman sah ihn vorwurfsvoll durch seine dicken Brillengläser an.

 

»Mein Junge, wir sind alle daran beteiligt«, sagte er gebrochen. »Es hat keinen Zweck, daß Sie mir jetzt Vorwürfe machen.«

 

Um ein Uhr nachts klingelte Inspektor Finney von Scotland Yard an Mr. Attermans Haustür. Die Flußpolizei hatte den Vorfall tatsächlich bei Scotland Yard gemeldet, und Mr. Finney war gekommen, um persönlich Nachforschungen anzustellen.

 

Er machte nicht den Eindruck eines Detektivs, denn er hatte weder hagere, asketische Züge, noch tiefliegende Augen und einen faszinierenden Blick. Im Gegenteil, er sah reichlich prosaisch aus mit seinen kurzgeschnittenen Haaren, der gedrungenen, plumpen Gestalt und dem beträchtlichen Leibesumfang.

 

Ruhig hörte er zu, als Mr. Atterman die Persönlichkeit des unglücklichen Mannes schilderte, der ein so trauriges Ende gefunden hatte.

 

Julius versuchte mehrfach, sich ins Gespräch zu mischen, aber Mr. Atterman ließ ihn nicht zu Wort kommen.

 

»Peeker?« sagte Mr. Finney schließlich. »Ach so, jetzt besinne ich mich auf ihn. Das ist ja der Mann, der uns immer Briefe schreibt, wenn er glaubt, daß wir uns geirrt haben.«

 

Das vorzeitige tragische Ende seines Kollegen schien keinen großen Eindruck auf ihn zu machen.

 

»Ich glaube gar nicht, daß er tot ist«, fuhr er fort. »Solche Leute ertrinken nicht so leicht. Und was ist denn nun eigentlich mit diesem Maber? Warum soll dem denn ein Unglück zugestoßen sein?«

 

Mr. Atterman holte den Koffer herbei und zeigte den beschmutzten Frackanzug. Aber nicht einmal diese Beweisstücke brachten den Beamten aus seiner Ruhe. Er betrachtete sie nur kühl und gelassen.

 

»Das ist allerdings Blut. Wann ist denn Mr. Maber verschwunden?«

 

»Er wurde zuletzt am Samstag abend gesehen. Ich hörte das von einem Bekannten, der an seiner Gesellschaft im Trocadero teilnahm, aber schon frühzeitig ging.«

 

»Und wo ist diese Miß Storr tätig?«

 

Julius und Atterman klärten den Inspektor zu gleicher Zeit darüber auf.

 

»Ach, ist das die Firma, die augenblicklich die ›Billige Woche‹ veranstaltet?«

 

Die beiden nickten.

 

»Meine Frau erzählte mir, daß in ganz London seit Menschengedenken kein so großer Andrang in einem Geschäft war. Sie hat unglaublich preiswert eingekauft und meinte, daß man dort viel billiger wegkäme als zum Beispiel bei Atterman oder sonst einem Warenhaus.«

 

»Sie sehen hier den Inhaber der Firma Atterman vor sich«, erklärte Julius mit Würde.

 

»Na, dann kann er mir ja gleich bestätigen, daß meine Frau recht hat.«

 

»Das ist eine vollkommen aus der Luft gegriffene Annahme«, entgegnete Atterman erregt. »Die Firma verkauft nur ihre alten Ladenhüter zu Schleuderpreisen, neue Waren kann sie auch nicht billiger abgeben als ich. Maber ist seit den letzten Tagen eine ganz unfaire Konkurrenz!«

 

»Das ist der Mann, der ermordet worden sein soll?« fragte der Detektiv jetzt interessiert.

 

»Ja, aber ich sprach im Moment von Miß Storr, von der wir Ihnen schon die ganze Zeit erzählen. Die hat auch Peeker in der Themse ertränkt. Am Montagmorgen tauchte sie plötzlich mit einer Generalvollmacht auf. Offenbar hat sie ihr Opfer durch Drohungen zur Unterschrift gezwungen. Maber wurde am Samstagabend umgebracht, nachdem er das Schriftstück unterzeichnet hatte.«

 

»Wurde denn der Notar, der die Vollmacht ausstellte, auch ermordet?« fragte Inspektor Finney. »Derartige Dokumente werden doch von einem Notar unterzeichnet!«

 

Atterman sah ihn betroffen an.

 

»Die Einzelheiten des Verbrechens kenne ich natürlich nicht genau, aber wenn Sie Miß Storr verhören, werden Sie wahrscheinlich alles erfahren.«

 

»Nun, da werden wir ja sehen.« Der Detektiv betrachtete den Koffer noch einmal. »Wer hat ihn denn aufgeschnitten?«

 

»Das habe ich im Interesse der Aufklärung des Mordes getan«, erwiderte Mr. Atterman selbstbewußt.

 

»Woher haben Sie denn den Koffer?«

 

Mr. Atterman unterdrückte nur mit Mühe einen Fluch. Dieser Mann konnte einen verrückt machen mit seinen Fragen! Und dabei sollte er doch den Mord an Peeker aufklären. Was ging ihn dieser Koffer an?

 

»Mr. Colesberg nahm ihn aus dem Safe von Maber. Hier ist der Herr.« Atterman stellte Julius mit einer Geste vor. »Er ist der Juniorpartner der Firma Maber & Maber.«

 

»Das werde ich mir am besten einmal aufnotieren.«

 

»Schreiben Sie ›der frühere Juniorpartner‹«, sagte Julius nervös. »Ich möchte vor der Polizei keine falschen Angaben machen.«

 

»Aber Sie waren doch noch Teilhaber der Firma, als Sie diesen Koffer aus dem Safe nahmen?«

 

Mr. Finney dachte äußerst realistisch und praktisch. Ihm war ein bewiesener Betrug und Vertrauensbruch lieber als hundert angebliche Morde.

 

»Nein, eigentlich nicht mehr — es war nämlich so — also hören Sie zu –« Julius sprach immer verworrener und zusammenhangloser. »Ich nahm ihn, weil ich meinem Freund Maber versprochen hatte, daß — ich ihn nehmen wollte. Das verstehen Sie doch?«

 

»Nein, das verstehe ich nicht«, erwiderte Inspektor Finney offen. »Hat Ihnen Mr. Maber gesagt, daß sich dieses blutbefleckte Hemd in dem Koffer befindet?«

 

»Nein«, gab Julius kleinlaut zu.

 

»Wurde der Koffer immer in dem Safe aufbewahrt?«

 

»Nein, das ist es ja gerade«, mischte sich jetzt Mr. Atterman eifrig ein. »Diese Storr hat doch den Koffer in dem Safe versteckt!«

 

Er trat einen Schritt zurück, um die Wirkung seiner Worte zu beobachten.

 

Sie war nicht sehr groß.

 

»Aha!« sagte der Detektiv nur und fuhr dann in seiner systematischen, gründlichen Art fort, der Sache auf den Grund zu gehen. »Hat Mr. Maber persönlich Sie beauftragt, den Koffer aus dem Safe zu nehmen?«

 

»Ja und nein«, entgegnete Julius und glaubte, eine geniale Antwort gegeben zu haben.

 

»Wußten Sie, daß der Koffer im Safe stand?«

 

»Ja.«

 

»Wußten Sie auch, daß Miß Storr ihn hineingestellt hatte?«

 

»Auch das wußte ich.«

 

»Und haben Sie ihn aus dem Safe genommen, nachdem Sie wußten, daß Miß Storr ihn hineingestellt hatte?«

 

»Ja, so ist es.« Julius atmete erleichtert auf, denn er dachte, der Inspektor wäre endlich vernünftig geworden und würde die Sache vom rein menschlichen Standpunkt aus betrachten.

 

»Schön. Jetzt möchte ich noch wissen, wann Sie den Koffer herausgenommen haben.«

 

Julius sah Atterman an, und Atterman sah auf die Uhr.

 

»Es war gestern morgen, ungefähr um zwei.«

 

»Also in der Nacht?«

 

»Am Morgen«, wiederholte Julius, da das besser klang.

 

»Wie sind Sie denn ins Haus gekommen?«

 

»Durch den hinteren Eingang, den das Personal benützt.«

 

Finney notierte alles eifrig.

 

»Vermutlich haben Sie die Tür mit einem Paßschlüssel geöffnet?«

 

Julius nickte.

 

»Den Sie als Teilhaber der Firma erhalten hatten?«

 

»Ganz richtig.«

 

»Waren Sie in dem Augenblick noch Partner der Firma, als Sie den Paßschlüssel benützten, den Safe öffneten und den Koffer herausnahmen?«

 

»Nein«, gestand Julius. »Aber um Himmelswillen, das hat doch mit dem Mord nichts zu tun. Kommen Sie doch zur Sache zurück!«

 

»Das werde ich sofort tun. Es handelt sich im Moment um Folgendes, meine Herren. Ein Polizist meldete, daß er gestern morgen um zwei einen Mann verfolgte, der aus einem Fenster der Firma Maber sprang. Leider hat er ihn aus den Augen verloren. Ich habe also eben von Ihnen gehört, wie Sie in das Haus gekommen sind. Nun möchte ich noch wissen, wie Sie wieder herausgekommen sind.«

 

»Durch ein Fenster«, rief Julius verzweifelt. Im Hintergrund sah er schon das Gefängnistor, das sich langsam für ihn öffnete. »Sie müssen noch verschiedenes über Mr. Maber erfahren«, sagte er hastig, um das Gespräch endlich auf ein anderes Thema zu bringen. »Er war ein sehr freundlicher, gutherziger Mann, aber er stand vollkommen unter dem Einfluß von Frauen. Dieses Mädchen –«

 

»Das gehört im Augenblick nicht hierher«, entgegnete der Inspektor scharf. »Sind Sie aus dem Fenster gesprungen oder nicht?«

 

»Ich habe ja schon gesagt, daß ich aus dem Fenster gesprungen bin!«

 

»Wurden Sie von der Polizei verfolgt?«

 

»Ja.«

 

»Dann kommen Sie jetzt bitte mit mir zur Polizeistation«, forderte Mr. Finney Julius unerwartet auf.

 

Wie im Traum ging Mr. Colesberg an der Seite des Beamten eine dunkle, enge Straße entlang, bis sie zu einem düsteren Gebäude kamen, vor dessen Eingang eine große, blaue Lampe hing. Dort wurde er verhört und unter dem Verdacht festgenommen, in der Zeit zwischen zwei und vier Uhr morgens am vergangenen Tage in das Geschäftshaus der Firma Maber & Maber eingebrochen zu sein. Ferner wurde ihm zur Last gelegt, daß er den Polizisten Thomas Wellbeloved in Ausübung seiner Pflicht angegriffen habe.

 

Mr. Atterman war Julius atemlos zur Polizeistation gefolgt, und nachdem er dies alles gehört hatte, nahm er den letzten Mut zusammen und sagte seine Meinung.

 

»Sie haben sich ja noch gar nicht um die beiden Morde gekümmert«, erklärte er mit tiefer, vorwurfsvoller Stimme, die ihm selbst ganz fremd klang.

 

»Darauf wollen wir jetzt gleich näher eingehen«, erwiderte der Inspektor. »Vielleicht begleiten Sie uns ein wenig?«

 

»Nein, herzlichen Dank«, entgegnete Mr. Atterman hastig. »Sie wissen ja, wo Sie mich finden können — ich bin Mr. Atterman, Chef der Firma Atterman Brothers.«

 

»Ich weiß ganz genau, wer Sie sind.«

 

Die Stimme des Inspektors klang drohend, und Mr. Atterman fuhr schaudernd zusammen.