Kapitel 7

 

Sie ging zur Garage hinunter, drehte das Licht an und prüfte, ob noch genügend Benzin im Tank war, bevor sie das äußere Tor öffnete und losfuhr. Kurz entschlossen wählte sie den Weg nach rechts, fuhr über das holperige Pflaster der Straße, dann zurück nach Portland Place und kam ohne weiteren Aufenthalt nach Regent ’s Park.

 

Sie nahm die äußere Ringstraße und machte den größten Umweg, bis sie zur Avenue Road kam. Einige Minuten später sauste der Wagen Fitzjohn’s Avenue hinunter nach Heath zu. Ann vermied den geraden Weg nach Oxford über Maidenhead und Henley und wählte eine wenig benützte Straße nach Beaconsfield und Marlow.

 

Schwerer war es schon, Henley zu umgehen. Sie fuhr gemächlich durch die breite Hauptstraße und glaubte sich unbeobachtet. Als sie aber die lange, mit Bäumen bestandene Oxford Road erreichte, wurde sie plötzlich angerufen. Schnell wandte sie sich um. In einer Seitenstraße hielt ein großer Wagen, dessen Scheinwerfer abgeblendet waren. Undeutlich sah sie, wie drei Leute dort standen, als plötzlich ein Mann auf ihr Trittbrett springen wollte.

 

Er sprang fehl, im selben Augenblick setzte sich das große Auto in Bewegung, und die drei sprangen auf. Anns Wagen flog wie ein Pfeil davon. Von dem Wagen hinter ihr wurde mit einer roten Lampe das Haltesignal gegeben. Es mußte eine Polizeistreife sein.

 

Sie hatte jetzt freie Straße vor sich, nur einmal war eine Kreuzung zu passieren. Ihre Geschwindigkeit war hundert Kilometer, als sie sich dieser Stelle näherte. Der Rückspiegel zeigte ihr, daß die Lichter des Polizeiwagens sich unruhig hin und her bewegten. Wahrscheinlich mußten sie stark bremsen. Dann hörte sie einen Knall – es mußte ein Reifen geplatzt sein. Diesen Laut kannte sie sehr genau.

 

Jetzt hatte sie eine scharfe Kurve der Straße hinter sich. Einen Kilometer von ihr entfernt lag ein kleines Dorf, dessen Häuser die beiden Straßenseiten flankierten. Ann erinnerte sich, daß jenseits des Ortes eine weitere Wegkreuzung lag, an der tagsüber ein Polizist stationiert war. Kurz hinter dem Dorf bog eine Seitenstraße nach Norden ab, und diese konnte sie nur sicher erreichen, wenn es ihr gelang, durch das Dorf zu fahren. Die Straße, die hindurchführte, war sehr eng. Der Geschwindigkeitsmesser zeigte jetzt sechzig Kilometer. Als sich Ann kurz umschaute, konnte sie von dem verfolgenden Polizeiwagen nichts mehr sehen oder hören, aber das wollte nicht viel besagen, denn die Straße verlief hier in vielen Biegungen und Kurven. Nun war sie dicht vor dem Dorf – sie verminderte die Geschwindigkeit auf fünfunddreißig Kilometer.

 

Plötzlich tauchte aus der Dunkelheit ein berittener Polizist auf. Sein Pferd wurde durch die Scheinwerfer unruhig. Offensichtlich wußte der Mann nichts davon, daß sie verfolgt wurde, denn er winkte ihr, vorwärts zu fahren. Aber plötzlich hörte sie seine schrille Alarmpfeife und steigerte die Geschwindigkeit wieder. Vom Ausgang des Dorfes ab konnte sie auf einer geraden Straße fahren, die erst kürzlich asphaltiert worden war – der Wagen raste durch die dunkle Nacht. Ihre Scheinwerfer ließen die Hecken am Weg grüngolden aufleuchten.

 

Sie näherte sich jetzt einer Brücke, die über einen reißenden, tiefen Strom führte. Als sie zu der Auffahrt kam, verminderte sie ihre Geschwindigkeit erheblich. Und dann sah sie plötzlich gerade vor sich zwei Scheinwerfer und über diesen eine grüne Lampe. Es war ein Streifenwagen.

 

Sie mußte sich schnell entschließen. Auf der Straße war kein Platz, um zu wenden. Wenn das Alarmsignal des berittenen Polizisten irgendeine Bedeutung hatte, so konnte es nur besagen, daß sie verfolgt wurde.

 

Ann drehte ihre Scheinwerfer ganz aus und brachte ihren Wagen mitten auf der Brücke zum Stehen. Dann nahm sie das kleine Paket, warf es ins Wasser, ging zu dem Auto zurück und fuhr langsam weiter.

 

Der Wagen, der ihr entgegenkam, fuhr ebenso langsam wie sie mitten auf der Straße. Sie drehte ihre Scheinwerfer voll an und gab das Signal zum Ausweichen. Aber das andere Auto machte keine Anstalten, zur Seite zu fahren. Sie konnte also nichts anderes tun als anhalten. Beide Wagen kamen dicht voreinander im selben Augenblick zum Stillstand. Ann sah, daß zwei Leute absprangen und auf sie zukamen. Dann hörte sie eine verhaßte Stimme.

 

»Ich möchte wetten, daß es Miss Perryman ist!«

 

Es war Sergeant Simmonds, der zu ihr sprach.

 

»Nun erklären Sie mir bitte, warum Sie in einem so halsbrecherisch gefährlichen Tempo gefahren sind!«

 

»Ich wüßte nicht, daß ich übermäßig rasch gefahren bin.«

 

Er brummte etwas vor sich hin.

 

»Sie sind verhaftet«, sagte er dann böse und rief einen seiner Leute, der ihren Wagen übernehmen sollte. »Steigen Sie bitte aus.«

 

Er packte sie fest am Arm.

 

»Lassen Sie mich los«, rief Ann entrüstet. »Sie brauchen mich nicht zu halten.«

 

Sie versuchte, sich frei zu machen, aber er ließ sie nicht los. Sie stand jetzt in dem grellen Licht der Scheinwerfer.

 

»Steigen Sie in diesen Wagen!« Er schob sie vor sich her, und als sie eingestiegen war, setzte er sich neben sie. Auf der anderen Seite nahm ebenfalls ein Detektiv Platz.

 

Der Beamte, der am Steuer ihres Wagens saß, fuhr rückwärts in die Hecke, um den Weg für das Polizeiauto frei zu machen.

 

»Bringen Sie das Auto nach Scotland Yard. Ich will es genau durchsuchen lassen«, rief Simmonds, als sie vorbeifuhren.

 

Auf dem Weg nach London wurde Simmonds etwas freundlicher.

 

»Eine verständige junge Dame wie Sie sollte doch der Polizei nicht soviel Schwierigkeiten machen, Miss Perryman«, sagte er vorwurfsvoll. »Sie hätten doch bei dieser wahnsinnigen Geschwindigkeit leicht einen Menschen totfahren können. Wahrscheinlich wissen Sie gar nicht, was Sie tun, oder es hat Sie jemand anders dazu veranlaßt.«

 

Sergeant Simmonds war kurz angebunden, aber er war kein guter Schauspieler. Im Grunde seines Herzens war er ein großer Spaßvogel.

 

»Sagen Sie mir doch, wohin Sie fahren wollten und was Sie vorhatten, Miss Perryman. Ich werde dann den Fall sehr leicht für Sie machen. Ich will keine Namen erwähnen, aber ich weiß, daß Sie in eine Angelegenheit verwickelt sind, deren Tragweite Sie selbst gar nicht kennen, sonst würden Sie niemals Ihre Unterstützung dazu hergeben.«

 

»Das klingt ja sehr verwickelt«, erwiderte sie kühl.

 

Er lachte gutmütig.

 

»Welches Gesetz habe ich denn übertreten?«

 

Simmonds wurde nachdenklich.

 

»Nun, erstens sind Sie mit einer lebensgefährlichen Geschwindigkeit gefahren –«

 

Sie lachte nur verächtlich.

 

»Dürfte das nicht sehr schwer zu beweisen sein?«

 

»Es wird nicht viel Mühe machen, den Beweis für meine Behauptung zu erbringen«, sagte Simmonds selbstbewußt. »Aber ich möchte Sie überhaupt nicht anzeigen. Ich wollte nur einmal fünf Minuten mit Ihnen sprechen. Sagen Sie mir nur, wohin Sie fahren, wen Sie treffen und was Sie abliefern wollten. Wenn Sie eine vernünftige junge Dame sind, werden Sie das tun, und Sie werden dann niemals vor ein Polizeigericht kommen.« Aber er fügte doch noch leise hinzu: »Höchstens als Zeugin.«

 

»Ich weiß überhaupt nicht, wovon Sie sprechen. Sie haben gar kein Recht, mich zu verhören. Oder wollen Sie mich auch mit Ihrem Polizeiknüppel niederschlagen?« fragte sie ironisch.

 

Sergeant Simmonds protestierte heftig. Aber sie gab auf seine weiteren Fragen keine Antwort mehr. Nach einiger Zeit lehnte er sich resigniert in die Ecke des Wagens zurück und schwieg, bis sie an ihrem Ziel ankamen.

 

Sie brachten Ann zu der kleinen Polizeiwache, die in Scotland Yard selbst liegt, und zehn Minuten später schloß sich die Tür einer Zelle hinter ihr.