Kapitel 11

 

McGill und Ann Perryman fuhren schweigend nach Hause. Ann sah bleich aus und sprach während der Fahrt kein Wort, obgleich Mark verschiedene Versuche machte, ein Gespräch mit ihr zu beginnen. Aber er war klug genug, sie in Ruhe zu lassen, als er sah, daß sie nicht über die Ereignisse des Morgens mit ihm sprechen wollte.

 

»Kommen Sie zu mir herein und frühstücken Sie etwas«, schlug er vor. »Sie sind doch sicher sehr hungrig.«

 

Er erwartete eine Absage, denn Ann hatte schon vorher die Absicht geäußert, in ihre Wohnung zu gehen. Aber zu seinem größten Erstaunen nahm sie die Einladung an. Sie war jetzt ganz teilnahmslos und apathisch; all die feurige Erregung, die sie vor Gericht gezeigt hatte, das Selbstbewußtsein, das er ebenso bewunderte wie fürchtete, schienen einer anderen Frau zu gehören.

 

Er wollte klingeln, aber sie hielt ihn davon ab.

 

»Bestellen Sie kein Frühstück für mich, Mark. Ich will nur eine Tasse Tee trinken, das genügt vollkommen. Dann werde ich mich ausschlafen.«

 

»Arme, tapfere Ann! Dieser Bradley ist aber auch ein niederträchtiger Kerl!«

 

Sie zuckte die Schultern und seufzte.

 

»Ein niederträchtiger Kerl!« wiederholte sie gleichgültig.

 

»Aber Sie haben ihn so gut getroffen, wie niemand ihn treffen konnte«, sagte Mark mit Genugtuung. »Ganz London wird sich über ihn lustig machen und ihn auslachen – es ist nur schade, daß keine Zeitungsreporter zugegen waren, die Sie gesehen haben …«

 

»Sagen Sie das bitte nicht.« Ihre Stimme klang rauh und heiser. »Ich bin nicht sehr stolz auf mich selbst.«

 

»Sie sollten es aber sein«, erwiderte er mit erheuchelter Herzlichkeit. »Wenn jemals ein Mann es verdiente …«

 

»Er hat es nicht verdient. Er hat seine Pflicht getan. Es macht mich ganz krank, wenn ich daran denke.«

 

»Das ist nur die Reaktion«, entgegnete Mark freundlich. »Sie mußte ja kommen. Aber Bradley hat seinen Teil.«

 

Sie hatte sich in eine Ecke des Sofas gesetzt und schaute ihn nachdenklich an.

 

»Und das war der Henker – dieser schreckliche Mann in Schwarz?«

 

Er zuckte bei dieser Frage zusammen.

 

»Ja, das war Steen. Er sieht ganz so aus, wie man ihn sich vorstellt. Ich hatte ihn natürlich noch nie gesehen. Man geht doch solchen Unglücksraben gern aus dem Weg.«

 

»Er hat großen Eindruck auf mich gemacht. Es lag etwas Trauriges in seinem Gesicht und etwas merkwürdig Ehrenhaftes.«

 

Mark sah sie groß an.

 

»Ach, ich möchte nichts mehr sagen – ich wünschte nur, ich hätte es nicht getan – wirklich, ich wünschte es!«

 

Er klopfte ihr begütigend auf die Schulter.

 

»Meine liebe Ann, Sie sind sehr tapfer gewesen. Die Abendzeitungen werden eingehend darüber berichten. ›Aufsehenerregende Szene vor Gericht‹ – ich bin schon gespannt, alle die Artikel zu lesen. Ich werde Ihnen die Zeitungen in Ihre Wohnung schicken, wenn sie kommen.«

 

Sie stand plötzlich auf.

 

»Nein, ich will sie nicht sehen – ich will überhaupt nicht an diese Geschichte erinnert werden! Er wollte mir doch helfen.«

 

Sie sah Mark lang und ernst an.

 

»Warum bestand er nur dauernd darauf, daß es Kokain und nicht Sacharin war?«

 

»Weil er ein geborener Lügner ist«, erwiderte Mark schnell. »Er möchte vorgeben, daß er Ihnen einen noch größeren Dienst geleistet hat, als es in Wirklichkeit der Fall war. Sehen Sie denn das nicht ein?«

 

Ann antwortete nicht.

 

»Es war prachtvoll, wie Sie ihm vor Gericht seine Schwäche vorhielten. Sie haben mir früher nie etwas davon erzählt, daß Sie ihn ganz in der Hand hatten. Ich wußte nur, daß Sie öfters mit ihm zusammentrafen, daß er Sie ab und zu zum Essen einlud und daß Sie ein- oder zweimal mit ihm getanzt haben. Aber ich hatte nicht die geringste Ahnung, daß er wirklich in Sie verliebt war. Wenn ich das gewußt hätte …«

 

»Wenn Sie es gewußt hätten?«

 

Mark lächelte.

 

»Nun, dann hätte ich ihm meine Meinung gesagt.«

 

»Warum denn?«

 

Die Frage kam ihm überraschend.

 

»Warum?« fragte er etwas verlegen. »Ich würde natürlich nicht erlauben …«

 

»Haben Sie plötzlich elterliche Gewalt über mich? Fühlen Sie sich für mein Tun und Lassen oder gar für meine Moral verantwortlich?«

 

McGill sah ein, daß es gefährlich war, dieses Gespräch weiterzuführen.

 

»Wir versteigen uns zu sehr in unfruchtbare Erörterungen – auf jeden Fall ist Bradley vollkommen erledigt.«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Ich weiß zwar nicht viel über die Verhältnisse bei der Polizei, aber ich bin sicher, daß sich seine Vorgesetzten nicht um meine Reden kümmern werden. Es gibt doch kaum eine Verhandlung vor Gericht, bei der ein Angeklagter nicht wenigstens den Versuch macht, den Detektiv irgendwie anzugreifen, der ihn überführt hat. Im allgemeinen hört man nicht darauf, und auch meine Angriffe gegen Bradley werden so beurteilt werden – wenigstens hoffe ich das.«

 

»Wie – Sie hoffen das sogar noch?« fragte er atemlos.

 

»Ja, ich hoffe es. Ich war ja so gemein und niederträchtig gegen ihn – ich wünschte, ich könnte es ungeschehen machen.«

 

Mark lachte vor sich hin.

 

»Ann, Sie haben sich doch nicht etwa selbst in ihn verliebt?«

 

In diesem Augenblick wurde der Tee hereingebracht, und Ann war einer Antwort enthoben. Als sie eine Tasse getrunken hatte, nahm sie ihre Tasche und ihren Mantel.

 

»Ich werde jetzt hinübergehen.« In der Tür drehte sie sich noch einmal um und blieb nachdenklich stehen. »Warum hat er nur so hartnäckig behauptet, daß es Kokain war – sowohl bei mir als auch bei Ronnie? Es wäre entsetzlich, wenn das wahr wäre.«

 

Mark hielt es für gut, den Entrüsteten zu spielen.

 

»Glauben Sie wirklich, daß ich etwas so Schreckliches tun würde? Es war bestimmt kein Kokain! Sie haben den Stoff doch selbst gesehen – Sie haben ihn geschmeckt! Guter Gott, was ist denn nur in Sie gefahren? Wenn das so weitergeht, werden Sie mir nächstens nicht mehr trauen.«

 

Das war eine ungeschickte Herausforderung, denn als sich ihre Blicke jetzt trafen, wurde es ihm zur Gewißheit, daß sie bereits an ihm zweifelte.