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Auf der Rückreise nach London fand Edna genug Gelegenheit, Luke zu studieren, der plötzlich eine Rolle in ihrem Leben zu spielen begann. Er sah ganz und gar nicht so aus, wie sie sich einen Polizeibeamten vorgestellt hatte. Er sprach ein tadelloses Englisch, und seine Stimme klang vornehm und kultiviert. Als sie noch Stenotypistin war, hatte sie die verschiedensten Leute kennengelernt und sich eine gewisse Menschenkenntnis angeeignet, aber über diesen Mann war sie sich tatsächlich im unklaren. Hübsch war er gerade nicht, aber er hatte ein anziehendes, interessantes Gesicht, das trotz der angegrauten Schläfen frisch und jugendlich wirkte.

 

Während der Reise erwähnte er nebenbei, daß auch er spanisch spreche, und da sie glaubte, er wollte sie zum besten halten, stellte sie sofort eine Frage in dieser Sprache. Er beantwortete sie in bestem Spanisch und fügte hinzu, daß er ein ziemlich großes Sprachtalent besitze.

 

Eine Weile später kam die Unterhaltung wieder auf Rustem.

 

»Diesem Menschen dürfen Sie auf keinen Fall trauen …«

 

Er zögerte.

 

»Nun, was wollten Sie sagen?«

 

»Ich möchte Sie besonders vor ihm warnen, weil er den Frauen nachstellt. Ich will nicht gerade sagen, daß er …«

 

»Sie meinen, daß er sich in mich verliebt oder hinter mir her sei? Aber warum sollte er das nicht tun, Mr. Luke? Ich glaube, Sie sind ein wenig zu ängstlich.«

 

Er lächelte verlegen und wurde rot, worüber sie lachen mußte. Auf dem King’s-Cross-Bahnhof trennte er sich von ihr. Aber vorher hatte er ihr das Versprechen abgenommen, daß sie ihn benachrichtigen würde, wenn sie einen Besuch in Longhall machen sollte.

 

Als sie das Hotel erreicht hatte, fand sie ein langes Telegramm vor, das inzwischen für sie angekommen war. Es war in Berlin aufgegeben worden.

 

Bitte zahlen Sie meine Hotelrechnung und senden Sie meine Koffer an die Speditionsfirma Friedmann & Co., Friedrich-Wilhelm-Straße 19, Berlin. Ich fahre auf kurze Zeit zur Erholung nach Bayern. Mein wunderbares Pferd ›Vendina‹ ist in bester Form. Saludos. Alberto

 

Mr. Garcia hatte die Angewohnheit, Telegramme nur mit seinem Vornamen zu unterzeichnen.

 

Dann war ihr Freund also nach Berlin gefahren! Sie fühlte sich erleichtert, daß sie nun wenigstens wußte, wo er sich befand.

 

Am Abend ging sie ohne große Freude ins Theater. Sie fühlte sich wieder sehr einsam und vermißte ihren Begleiter von Doncaster sehr.

 

Aber als am nächsten Morgen die Sonne schien, kam sie wieder in bessere Stimmung. Sie frühstückte in ihrem Wohnzimmer und überlegte sich, in welchem großen Möbelgeschäft sie mit ihren Einkäufen beginnen sollte. Als sie gerade ausgehen wollte, brachte ein Page ihr eine Karte.

 

»Mr. Arthur Rustem? Ich lasse bitten.«

 

Mit einem strahlenden Lächeln erschien der elegante Anwalt und verbeugte sich, als er ins Zimmer trat.

 

»Sie waren in Doncaster – leugnen Sie es nicht, Miss Gray, denn ich habe Sie gesehen«, begann er in einschmeichelndem Ton.

 

»Dann müssen Sie aber ungewöhnlich gute Augen haben, Mr. Rustem«, entgegnete sie kühl. »Ich habe Sie auch gesehen, allerdings nur durch mein Glas, und ich möchte bezweifeln, daß Sie mich unter den vielen Tausenden von Zuschauern herausfinden konnten, die sich von der Tribüne aus das Rennen ansahen.«

 

Er ging nicht weiter darauf ein.

 

»Jedenfalls weiß ich, daß Sie in Doncaster waren. Ich habe Ihren guten Freund, Mr. Goodie, getroffen. Ich muß sagen, das ist ein Mann, der hart arbeitet und im Begriff ist, in die Höhe zu kommen. In letzter Zeit hatte er ohnehin Glück und konnte etwas auf die Seite legen. Es freut mich immer, wenn ein tüchtiger Mann im Leben vorwärtskommt.«

 

»Haben Sie die Schlüssel mitgebracht, Mr. Rüstern?« Sie hatte keine Lust, mit ihm über die Vorzüge Mr. Goodies zu sprechen.

 

»Selbstverständlich.«

 

Er rückte einen Stuhl näher, ohne aufgefordert zu sein, und nahm Platz. Dann zog er einen flachen Kasten aus der Tasche.

 

»Hier sind die Schlüssel Ihres väterlichen Besitztums«, sagte er vergnügt. »Es ist nur die Frage, ob Sie tatsächlich vorhaben, in diesem feuchten, einsamen Gebäude zu wohnen. Ich wüßte kein Haus, das abgelegener wäre, und ich würde Ihnen doch raten, das schöne Angebot anzunehmen, das ich durch eine Fügung des Schicksals heute morgen von einem meiner Klienten erhalten habe. Er ist bereit, Ihren ganzen Landbesitz für die Summe von« – er machte eine Pause, um seinen Worten mehr Nachdruck zu geben – »von zwanzigtausend Pfund zu kaufen! Ich halte ihn übrigens für nicht ganz normal, weil er ein so außergewöhnlich hohes Angebot macht –«

 

»Wer ist denn Ihr Klient?« unterbrach sie ihn. »Mr. Goodie oder Mr. Trigger? Öder sollte es etwa Doktor Blanter sein?«

 

Mr. Rustem blinzelte, denn auf diesen plötzlichen Angriff war er nicht vorbereitet. Dann schüttelte er traurig den Kopf.

 

»Ich fürchte, Miss Gray, Sie haben auf Leute gehört, die mich verleumden wollen. Ich will keine Namen nennen, aber es gibt Menschen, die rachsüchtig sind …«

 

»Meinen Sie damit vielleicht Inspektor Luke?«

 

»Nein, durchaus nicht«, entgegnete er hastig. »Ich wollte nichts gegen den Inspektor sagen, er ist ein sehr intelligenter, gebildeter Mann mit vielen Vorzügen. Aber es gibt –«

 

»Ich verkaufe meinen Landbesitz nicht, Mr. Rustem«, erklärte sie ruhig, »und ich glaube, wir sparen uns viele Worte, wenn ich Ihnen das von Anfang an sage.«

 

»Aber das Angebot übersteigt den Wert der Besitzung um das Doppelte!«

 

»Und wenn ich viermal soviel erhalten würde, machte das doch keinen Unterschied für mich aus. Ich werde in Longhall House wohnen und nach Ablauf des Vertrages wahrscheinlich auch Gillywood Cottage übernehmen mit allen Ländereien, die dazu gehören.«

 

Er starrte sie betroffen an und trommelte mit den Fingern auf der Tischplatte. Schließlich zwang er sich zu einem Lächeln.

 

»Wenn Sie so fest entschlossen sind, wäre es töricht von mir, Ihnen einen weiteren Rat geben zu wollen. Vielleicht haben Sie recht. Ich muß sagen, ich habe großes Zutrauen zu dem, was ich den Instinkt der Frauen nennen möchte. Soweit ich dazu imstande bin, werde ich Ihnen natürlich behilflich sein. Vor allem werde ich Sie begleiten, wenn Sie das Haus besichtigen wollen.«

 

»Das ist nicht notwendig, ich habe in der Beziehung bereits meine Dispositionen getroffen.« Nun sah sie ihn etwas schadenfroh an. »Mr. Luke kennt die Gegend sehr genau und hat mir versprochen, mir alles zu zeigen. – Das sind also die Schlüssel?«

 

Sie nahm den kleinen Kasten und öffnete ihn. Er beobachtete sie gespannt. Sie war sehr schön und ungewöhnlich schlagfertig. Er hatte übrigens noch eine andere dringende Sache mit ihr zu besprechen.

 

»Ich freue mich, daß Sie die Frage der Weiterverpachtung angeschnitten haben, Miss Gray. Ich habe Ihrem Rechtsanwalt alle Akten übergeben, und er hat mich darauf aufmerksam gemacht, daß der Pachtvertrag von Mr. Goodie mit diesem Jahr abläuft und nicht, wie ich glaubte, erst in einigen Jahren. Das heißt mit anderen Worten: Sie können den Pachtvertrag mit diesem Jahre enden lassen, sonst läuft er fünfzehn Jahre weiter. Ich habe leider persönlich Mr. Goodie die Zusicherung gegeben, daß man ihn nicht auf die Straße setzen würde. Ich sagte ihm auch, Sie seien die letzte, die einen Mann auf der Höhe seines Lebens ruinieren und ihm den Lebensabend verbittern würde. In Anbetracht dieser Lage habe ich zunächst einmal ein neues Schriftstück aufgesetzt, wodurch Sie den Vertrag verlängern, sagen wir zunächst um ein Jahr, so daß er die Möglichkeit hat, sich nach einem anderen Platz umzusehen. Es ist nur eine Formsache.«

 

Während er sprach, zog er das Dokument aus der Tasche und legte es vor sie auf den Tisch. Dann schraubte er seinen Füllfederhalter auf und schob ihr das Papier zur Unterschrift hin.

 

»Sie sehen, ich habe schon die Stelle markiert, wo Sie Ihren Namen hinsetzen können.«

 

Als sie lachte, schaute er auf.

 

»Aber Mr. Rustem!« sagte sie vorwurfsvoll. »Sie erwarten doch nicht etwa von mir, daß ich ohne weiteres alle möglichen Schriftstücke unterzeichne, die mir vorgelegt werden? Ich muß schließlich Bedenkzeit haben. Oder glauben Sie, daß ich ein Waisenkind bin, das in der Unschuld seines Herzens auf jeden Rat hört? Schicken Sie das Schriftstück bitte meinem Rechtsanwalt.«

 

Ihre Worte berührten ihn peinlich. Er faltete das Schriftstück zusammen und steckte es wieder ein, ebenso den Füllfederhalter. Dann erhob er sich und nahm Hut und Handschuhe.

 

»Sie verhalten sich wirklich verletzend mir gegenüber«, sagte er, und seine Stimme zitterte leicht. »Während meiner ganzen Praxis hat noch niemand eine Andeutung gemacht, daß ich die Unwissenheit meiner Klienten ausgenutzt hätte …«

 

»Aber Mr. Rustem, so etwas habe ich doch gar nicht gesagt! Von anderer Seite ist allerdings behauptet worden, daß Sie das Geld Ihrer Klienten für Ihre eigenen Unternehmungen benützt hätten. Allerdings habe ich mich jeder Stellungnahme dazu enthalten.«

 

Das war eine Kriegserklärung. Er richtete sich auf und sah sie an. Im Grunde hatte er ja schließlich nichts anderes erwartet, aber sie hatte ihm doch sehr schnell ihre wahre Ansicht über ihn gesagt, und das versetzte ihm einen Schock. Er wußte nicht, daß sie drei Jahre lang als Stenotypistin im harten Kampf ums Dasein gestanden hatte, bevor das große Wunder sich ereignete und der alte Donald Gray sie zu sich holte. Mr. Rustem sah in Edna Gray nur eine sehr schöne und reiche junge Dame, die erstaunlich selbstsicher und geschäftstüchtig war.

 

»Sehr wohl. Wie Sie wünschen«, sagte er, und seine Stimme klang hart. »Ich sehe, daß Sie gegen mich und meine – Klienten hoffnungslos voreingenommen sind. Das ist unendlich schade. Nun, jedenfalls habe ich Ihnen den Rat gegeben, nicht nach Longhall zu ziehen –«

 

»Den Rat habe ich ihr auch gegeben, aber aus einem ganz anderen Grund.«

 

Es sah Luke ähnlich, daß er eintrat, ohne anzuklopfen. Er war so leise gekommen, daß weder Rustem noch Miss Gray ihn gehört hatten.

 

Sie sah sich ein wenig erschrocken um.

 

»Aber sie scheint nun einmal fest entschlossen zu sein, doch hinzugehen«, fuhr Luke fort. »Und ich hoffe, sie wird dort in Frieden mit ihren Nachbarn leben können – mit ihrem früheren Rechtsanwalt, Mr. Trigger und den anderen. Es wird mir eine Freude sein, Miss Gray zu helfen, und ich werde dafür sorgen, daß sie es so bequem und schön in Longhall hat wie nur irgend möglich. Vielleicht muß ich dabei gegen verschiedene Leute vorgehen und sie an einen Ort bringen, wo die Hunde sie nicht beißen. Es sind manche angesehene Männer darunter, Mr. Rustem, die glauben, daß sie sicher seien und ihnen niemand etwas anhaben könne.«

 

Rustem wurde bleich. Diese Drohung hatte ihre Wirkung nicht verfehlt. Auch Edna wußte, daß sich hinter seinem Lächeln Haß und Wut verbargen.

 

Ohne noch ein Wort zu verlieren, ging Rustem zur Tür, und es war charakteristisch für ihn, daß er sie leise hinter sich schloß.

 

»Sagen Sie einmal, Mr. Luke, klopfen Sie überhaupt jemals an, bevor Sie in das Zimmer einer Dame eintreten?«

 

Er überhörte die Frage vollkommen.

 

»Was wollte er von Ihnen, abgesehen davon, daß er Ihnen die Schlüssel gebracht hat? Heute morgen hat er sie von Goodie erhalten; der hat sie selbst in die Stadt gebracht.«

 

»Er wollte mich überreden, meinen Landbesitz zu verkaufen.«

 

Er nickte, als er dies hörte.

 

»Hat er Ihnen ein hohes Angebot gemacht?«

 

Als sie ihm den Betrag nannte, pfiff er leise vor sich hin.

 

»Die sind ja mächtig scharf darauf – ich möchte nur wissen, warum. Die Ländereien sind nicht gerade die besten, aber sie liegen ziemlich abseits, so daß man dort nicht ohne weiteres beobachtet Werden kann. Für einen Trainer hat das immer seine Vorzüge.« Er fuhr sich nachdenklich mit der Hand über die Stirn. »Haben Sie etwas von Mr. Garcia gehört?«

 

Sie zeigte ihm das Telegramm. Er las es, machte aber keine Bemerkung darüber.

 

»Die haben irgend etwas vor, ich weiß nur nicht, um was es sich handelt. Mr. Trigger hat ein Rundschreiben an alle Mitglieder seiner Organisation gerichtet, in dem er sie auffordert, im nächsten Monat mit möglichst vielen neuen Buchmachern in Geschäftsverbindung zu treten. Der Mann ist so gerissen, daß die Behörden und die Polizei ihn nicht fassen können!«

 

Er nahm mehrere Briefe aus seiner Tasche und wählte zwei davon aus.

 

»Sehen Sie, hier habe ich das Rundschreiben. Und hier ist eine vertrauliche Liste, aus der die Kunden ersehen können, in welcher finanziellen Lage sich die großen Buchmacher in England befinden und wie man am besten mit ihnen in Geschäftsverbindung treten kann. Dann wird noch eine Anweisung gegeben, wie die Kunden unter anderen Namen Konten eröffnen können. Alle diese Vorbereitungen scheinen doch darauf hinzudeuten, daß die Gesellschaft einen großen Schlag vorhat.«

 

Er sah Edna an, seine Gedanken schienen aber in weiter Ferne zu weilen. –

 

»Die werden Ihnen noch ein Angebot von fünfzigtausend Pfund machen«, meinte er dann.

 

Damit hatte er auch tatsächlich recht. Er war kaum zehn Minuten fort, als das Telefon läutete und Rustem sich meldete.

 

»Sind Sie allein, oder ist Ihr Freund immer noch bei Ihnen? – Mein Klient hat sein Angebot für Ihren Landbesitz erhöht. Er hat eine besondere Vorliebe für Gebäude im Tudorstil und ist deshalb bereit, eine ungeheure Summe zu zahlen. Er will sogar bis fünfzigtausend Pfund gehen.«

 

»Longhall ist nicht verkäuflich«, erwiderte sie und legte den Hörer auf.