18

 

Luke ging nach Scotland Yard zurück und las die Telegramme, die in seiner Abwesenheit angekommen waren. Am meisten interessierte ihn indessen die telefonische Mitteilung, die Punch aus Longhall durchgegeben hatte:

 

Ich habe den ganzen Schwindel herausgebracht und muß Sie morgen sprechen. Ich werde Sie heute um halb elf in Ihrer Wohnung anrufen.

 

Es war leicht möglich, daß sich Punch durch seinen Eifer auf eine falsche Fährte hatte bringen lassen; andererseits hatte der Mann eine gute Begabung und einen gewissen Instinkt für das Wichtige. Luke glaubte zu wissen, worum es sich handelte. Er telefonierte mit Lane, aber der konnte ihm auch nichts Genaues sagen.

 

»Er ist um neun Uhr fortgegangen. Vermutlich hat er etwas Wichtiges herausbekommen, aber er wollte es mir nicht sagen. Es ist irgendeine Sache mit Goodie.«

 

Die Uhr vom Parlamentsgebäude schlug Mitternacht, als Luke das Büro verließ und langsam seiner Wohnung zuschlenderte. Er hatte auch allen Grund, nicht zu schnell zu gehen, denn es war die erste neblige Nacht in diesem Jahr. Wenn es auch nicht sehr unsichtig war, so konnte man doch nur schwer ein Taxi finden. Am Trafalgar Square traf er einen Wagen, der langsam an der Bordschwelle entlangfuhr. Da Luke sehr müde war, überredete er den Chauffeur und fuhr mit ihm in Richtung Piccadilly. An der Ecke des Hyde Park wurde der Nebel etwas dichter; Luke bezahlte den Chauffeur und ging zu Fuß weiter.

 

In Knightsbridge war es bereits so dunstig, daß die Laternen nur noch hellere Stellen im Nebel waren.

 

Er bog in die kleine Straße ein und tastete sich an dem eisernen Zaun entlang, bis er zu seinem Haus kam. Als er den Schlüssel herausgenommen hatte und die Haustür aufschließen wollte, griff er zu seinem größten Erstaunen ins Leere. Die Tür stand weit offen, und als er sie zumachte und das elektrische Licht anknipste, sah er, daß die Diele mit gelblichgrauem Nebel gefüllt war.

 

Die Tür zu seinem Arbeitszimmer stand ebenfalls halb offen. Er streckte die Hand aus und machte Licht, aber er hörte kein Geräusch und nahm keine Bewegung wahr. Auch sah er keine verdächtigen Schatten. Schnell zog er die Pistole, stieß die Tür ganz auf und trat ein. Der Raum war vollkommen leer, nur auf dem Diwan in der Nähe des Fensters lag ein Mann, der mit einer Decke zugedeckt war.

 

Luke starrte ihn lange an, bevor er näher trat und die Decke zurückschlug, die auch den Kopf verhüllte. Es war der alte Garcia, den er auf dem Dampfer kennengelernt hatte. Der Mann trug einen Mantel und war vollständig angekleidet, nur die Schuhe fehlten. Ein Blick genügte – Garcia war tot.

 

Luke ging zum Schreibtisch und nahm den Telefonhörer ab, aber die Leitung war stumm. Als er darauf den Apparat untersuchte, fand er, daß die Zuleitungsschnur durchgeschnitten war. Dann untersuchte er den Raum. Auf dem Tisch war nichts angerührt worden; auch die Schubladen waren nicht durchwühlt. Er verließ das Haus, schloß die Tür hinter sich und suchte einen Polizisten und eine Telefonzelle. Nachdem er eine kurze Meldung an die nächste Polizeistation und an Scotland Yard durchgegeben hatte, ging er mit dem Beamten zu seinem Haus zurück.

 

Es dauerte eine halbe Stunde, bis der Polizeiarzt und der Inspektor vom Revier kamen. In der Zwischenzeit hatte Luke verschiedene wichtige Entdeckungen gemacht. Zunächst fand er die Schuhe des Toten, die unter den Tisch gestellt worden waren. Dann entdeckte er bei einer oberflächlichen Durchsuchung der Taschen Garcias verschiedene Dinge, die als Anhaltspunkte dienen konnten.

 

Zunächst sah er eine zusammengefaltete Nummer einer Berliner Zeitung mit einem Datum, das zwei oder drei Tage zurücklag, dann einen Kriminalroman. In einer inneren Tasche steckte eine Uhrmacherrechnung einer Münchener Firma. Andere Papiere hatte Garcia nicht bei sich. Luke war sehr erstaunt, als er keine Wunden oder Zeichen von Gewaltanwendung an dem Toten bemerkte.

 

Gegen ein Uhr morgens berichtete der Polizeiarzt auf dem Revier das Resultat seiner Untersuchung. An dem Körper hatte er weiter nichts feststellen können; nur am linken Unterarm hatte er eine Anzahl von Punkten gefunden, die von Spritzen herrührten.

 

»Haben Sie etwas Verdächtiges bei ihm gefunden?« fragte er.

 

Luke schüttelte den Kopf.

 

»Nein.«

 

Der Inhalt der Taschen lag auf dem Schreibtisch des Inspektors der Polizeistation: eine Uhr mit Kette, ein Zigarettenetui, eine Brille mit Hülle und etwa tausend Mark in deutschem Geld.

 

»Er ist seit mindestens sechs Stunden tot, vielleicht noch länger«, meinte der Arzt. »War er eigentlich bei einem Arzt in Behandlung?«

 

Luke erzählte ihm, was er über den Toten wußte. Er hatte eine genaue Durchsuchung seines Hauses vorgenommen und war dabei zu dem Schluß gekommen, daß die Leute, die in das Haus eingedrungen waren, einen Schlüssel benutzt haben mußten. Luke erinnerte sich, daß er zwei weitere Schlüssel in einer Schublade seines Schreibtisches aufbewahrt hatte; sie mußten bei ihrem ersten Einbruch den Eindringlingen in die Hand gefallen sein.

 

Zuerst wollte er Edna anrufen und ihr sofort berichten, was geschehen war. Aber so eilig war es nicht, daß er sie mit dieser traurigen Nachricht aus dem Schlaf wecken mußte. Schließlich entschied er sich dafür, am nächsten Tag selbst nach Longhall zu fahren.

 

*

 

Der Nebel war am Themseufer sehr dicht, und den Polizeistreifen in der City fiel es schwer, ihren Weg zu finden und sich nicht zu verirren. Um zwölf Uhr hörte ein Beamter mehrere Schüsse aus einer Pistole und stellte sofort Nachforschungen an. Er sah allerdings zunächst nichts. Erst als er systematisch die ganze Straße absuchte, fand er einen Mann, der am Boden lag.

 

Luke war nach Scotland Yard gegangen, um genau Bericht zu erstatten.

 

»Kennen Sie einen Mann namens Markham?« fragte ihn unten beim Eingang der Beamte.

 

»Ja.«

 

»Eine Streife in der City hat ihn eben am Themseufer erschossen aufgefunden.«

 

Der arme Punch war aus kurzer Entfernung niedergeknallt worden; sein Rock war an den Rändern der Einschußlöcher versengt. Das einzige, was man in seinen Taschen fand und was einen Anhaltspunkt bot, war ein kleines Notizbuch, in dem auch Lukes Name stand.

 

Luke fuhr eilig in die City, und zum zweitenmal in dieser Nacht sprach er mit dem Polizeiarzt.

 

»Er wurde von drei Schüssen getroffen, die alle tödlich waren«, berichtete ihm dieser.

 

Es meldete sich ein Zeuge. Ein Straßenkehrer hatte einen Mann beobachtet, der an der Stelle, wo der Mord passierte, auf und ab gegangen war. Aber er hatte sich nicht um ihn gekümmert und konnte daher auch keine weiteren Angaben machen. Er wußte nur so viel, daß der Mann häufig auf seine Armbanduhr gesehen und dazu eine kleine Taschenlampe benützt hatte. Der Straßenkehrer hatte geglaubt, daß es sich um einen Kriminalbeamten handelte, der verschiedene Geschäfte beobachtete.

 

Luke ging nach Hause, zog sich um und trank eine Tasse Kaffee.

 

Dann trat er wieder in den nebligen Morgen hinaus. Er ging zunächst in sein Büro und suchte Dr. Blanter in der Half Moon Street auf.

 

Die Dienstboten waren schon aufgestanden.

 

»Der Doktor liegt noch im Bett – ich glaube nicht, daß ich ihn jetzt stören kann«, sagte der Diener.

 

»Nennen Sie nur meinen Namen«, erwiderte Luke kurz angebunden.

 

Der Mann führte ihn in ein kleines Arbeitszimmer, und Luke brauchte nicht lange zu warten. Schon fünf Minuten später erschien der Doktor, und er war durchaus nicht schläfrig.

 

»Was wollen Sie von mir?« fragte er barsch.

 

»Wo waren Sie in der vergangenen Nacht? Sagen Sie mir, wo Sie überall gewesen sind.«

 

Unter gewöhnlichen Umständen hätte ein solches Ansinnen den Arzt in Wut gebracht, aber jetzt beantwortete er die Frage willig.

 

»Ich war den ganzen Abend zu Hause. Am Nachmittag war ich draußen auf dem Land und kam erst spät zurück.«

 

»Wann sind Sie zu Bett gegangen?«

 

Blanter sah erst Luke an, dann blickte er zur Decke empor.

 

»Ungefähr um zehn, vielleicht auch ein wenig später. Wenn ich es mir recht überlege, nehme ich an, daß es nahezu halb elf war. Ich hörte, wie die Uhren in der Nähe schlugen, als ich mich eben hingelegt hatte.«

 

Luke sah ihn scharf an.

 

»Wie kam es dann, daß Ihr Diener sagte, als ich zehn Minuten vor zehn bei Ihnen anrief, Sie seien ausgegangen?«

 

Blanter lächelte, und Luke wußte, daß er einen Fehler gemacht hatte.

 

»Das glauben Sie doch selbst nicht. Mein Diener kann gar nicht so dummes Zeug gesagt haben, der hatte Ausgang. Erst heute morgen ist er wiedergekommen. Ich war ganz allein im Haus; das ist nicht ungewöhnlich.«

 

»Durchaus nicht – ich lebe auch ganz allein. Gelegentlich empfange ich allerdings Besucher. Gestern waren es zwei – ein Lebender und ein Toter.«

 

Der Doktor zog die Augenbrauen hoch.

 

»So?« entgegnete er mit höflichem Interesse. »Ist das wieder ein Bluff, Mr. Luke?«

 

»Nein, nein, Sie wissen ganz genau, daß ich nicht bluffe. Der eine lebte, der andere nicht. Alberto Garcia lag auf dem Diwan in meinem Arbeitszimmer. Er hatte eine deutsche Zeitung und deutsches Geld in den Taschen, um mir vorzutäuschen, daß er in Deutschland gewesen sei und die Telegramme an Miss Gray abgesandt habe, die Ihre Agenten geschickt haben. Kurz darauf fand einer unserer Beamten Punch Markham erschossen am Themseufer auf. Der Täter muß jemand gewesen sein, der eine Verabredung mit ihm hatte. Ich nehme an, daß es derselbe war, der in mein Haus einbrach und Mr. Garcia in mein Zimmer legte. Markham wollte mich um halb elf anrufen; das war dieselbe Zeit, in der in meinem Haus eingebrochen wurde.«

 

»Und zur selben Zeit legte ich mich schlafen«, erwiderte Blanter ironisch. Dann lehnte er sich über den Tisch und runzelte die Stirn. »Also, Luke, sagen Sie es doch geradeheraus: Wollen Sie mich verhaften?«

 

»Ich habe Sie jedenfalls im Verdacht«, entgegnete der Inspektor kühl.

 

»Aber warum sollte ich denn Mr. Garcia und diesen anderen Mann umbringen? Ihrer Meinung nach bin ich gestern abend ja ziemlich tätig gewesen!«

 

»Das Motiv ist mir noch nicht ganz klar. Wenn ich das erst gefunden habe, weiß ich auch, wer der Mörder ist. Erinnern Sie sich daran, Blanter!«

 

Er trat aus dem Haus und winkte dem Polizeibeamten, der auf der gegenüberliegenden Seite der Straße wartete. Dann kehrte er zu Dr. Blanter zurück.

 

»Was wollen Sie denn noch?«

 

»Ich werde jetzt Ihre Wohnung durchsuchen.«

 

»Haben Sie eine Vollmacht?«

 

Luke zeigte den Haussuchungsbefehl vor.

 

Das Haus war nicht größer als das, welches Luke bewohnte. Die Räume im Erdgeschoß waren mehr oder weniger gut aufgeräumt und sauber, die Zimmer im oberen Stockwerk hingegen kaum möbliert. Das Schlafzimmer des Doktors war einigermaßen in Ordnung, aber in allen anderen sah es entsetzlich unordentlich aus. Luke fragte den Diener aus, einen großen, breitschulterigen Mann, der mindestens ebenso stark und kräftig war wie der Arzt selbst. Er roch nach Alkohol und genoß allem Anschein nach allerhand Vorrechte. Luke hatte bereits von ihm gehört und wußte, daß Blanter ihn schon fünf oder sechs Jahre in seinen Diensten hatte.

 

Die Untersuchung verlief ergebnislos.

 

»Es ist wohl schon lange her, daß Sie am Mittwochabend Käse gegessen haben?« fragte Luke den Diener beiläufig.

 

Der Mann sah ihn unsicher an und wurde auffallend bleich.

 

»Ich weiß nicht, was Sie meinen«, erwiderte er schließlich verlegen.

 

Als sie aus dem Haus gegangen waren, grinste Luke.

 

»Was haben Sie eigentlich mit dem ›Käse am Mittwochabend‹ gemeint?« fragte der Polizeibeamte.

 

»Es ist merkwürdig, wie sich die Leute durch Kleinigkeiten verraten. Als ich den Kerl sah, wußte ich sofort, daß er früher einmal im Gefängnis gesessen hatte. Obwohl ich im Augenblick nicht ahnte, wer, er ist, bin ich doch ganz sicher, daß er nicht nur ein alter Sträfling ist, sondern auch in Dartmoor gesessen hat. Noch vor ein paar Jahren, als der Speisezettel nicht so abwechslungsreich war wie heutzutage, erhielten die Gefangenen am Mittwochabend Käse, und Leute, die einmal gesessen haben, können sich sehr genau auf die Zeit besinnen.«

 

Luke fand keine Zeit, nach Longhall hinauszufahren. Deshalb rief er Edna Gray an und bat sie, in die Stadt zu kommen.

 

Später am Tag besuchte er sie in ihrem Hotel und teilte ihr die traurige Nachricht mit.

 

»Ich kann Ihnen die schmerzliche Pflicht ersparen, den armen Garcia zu identifizieren. Glücklicherweise habe ich ihn so gut gekannt, daß ich es tun konnte.«

 

Sie erschrak sehr und weinte einige Zeit.

 

»Ich verstehe es nicht«, sagte sie, nachdem sie sich wieder gefaßt hatte. »Dann war er also tatsächlich die ganze Zeit über in Deutschland?«

 

»Nein, er ist gar nicht in Deutschland gewesen.«

 

Luke hatte den Auftrag gegeben, nach Rustem zu suchen, aber der wurde weder in seinem Büro noch in seiner Wohnung angetroffen. Es bestand die Möglichkeit, daß er außer Landes gegangen war. Alle Polizeistationen in den Häfen erhielten Befehl, ihn anzuhalten und ihm Schwierigkeiten zu machen – unter dem Vorwand, daß sein Paß nicht in Ordnung sei.

 

Edna hatte Punch nur ein einziges Mal gesehen, seitdem er bei ihr wohnte.

 

»Gestern morgen habe ich ihn noch beobachtet«, sagte sie. »Er ritt an der Stelle vorüber, wo Goodie das Pferd erschoß.«

 

»Welches Pferd ist denn erschossen worden?« fragte Luke schnell.

 

Sie erzählte ihm von dem nächtlichen Abenteuer, und er interessierte sich lebhaft dafür. Auf seine Veranlassung zeichnete sie einen ungefähren Lageplan und markierte darauf die Stelle, wo das Pferd eingescharrt worden war.

 

Er fragte sie auch noch nach dem Datum; und sie klingelte nach ihrem Chauffeur. Es war derselbe Tag, an dem sie ihr Auto nach Reading geschickt hatte, um verschiedene Reparaturen vornehmen zu lassen.

 

Der Chauffeur kam. Es war ein ordentlicher Mann, der alles in sein Notizbuch eintrug, und so gelang es, Tag und Stunde genau festzustellen.

 

»Es muß an dem Tag gewesen sein«, sagte er. »Am nächsten Abend fuhren wir in die Stadt und sahen auf der Chaussee den Unglücksfall.«

 

Luke hatte auch davon nichts gehört und fragte nach weiteren Einzelheiten. Er unterbrach Edna nicht, bis sie alles erzählt hatte, dann ging er im Zimmer auf und ab.

 

»Können Sie mir in Longhall über Nacht ein Zimmer geben? Ich möchte nicht in den ›Roten Löwen‹ gehen. Wenn Sie gestatten, ziehe ich mich dann sofort zurück, ich bin todmüde. Wenn ich nur ein paar Stunden die Augen zumachen kann, habe ich mich so weit erholt, daß ich es wieder einige Zeit aushalte. Vor allem muß ich bei dem Cambridgeshire-Rennen auf der Höhe sein.«

 

Sie sah ihn erstaunt an.

 

»Sie werden doch nicht zu dem Rennen gehen, nachdem alle diese Dinge passiert sind?«

 

»Doch, ich werde gehen. ›Weiße Lilie‹ steht jetzt zehn zu eins, und ich möchte Mr. Goodie im Augenblick seines Triumphes sehen.«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Ich verstehe das alles nicht. Ich kann Sie nicht begleiten. Denken Sie doch an den armen Mr. Garcia. Welch ein furchtbares Unglück! Ich darf gar nicht daran denken!«

 

Sie erzählte ihm, daß der alte Mann keine Freunde und Verwandten gehabt habe, aber ziemlich reich gewesen sei.

 

Er fragte sie, wer denn das Vermögen erben würde.

 

»Ich glaube, daß er alles mir vermacht hat. Er sagte es mir schon vor einigen Jahren und erwähnte es auch, als wir zusammen auf dem Dampfer waren. – Ist der arme Mr. Garcia ermordet worden?«

 

Luke zögerte, denn diese Möglichkeit war nicht ausgeschlossen.

 

»Ich glaube es nicht«, sagte er schließlich. »Die Ärzte sagen, daß er eines natürlichen Todes gestorben ist.«

 

Er fragte sie dann noch nach den Gewohnheiten des alten Herrn.

 

Sie fuhren zusammen nach Longhall hinaus, und Luke schlief während der ganzen Fahrt. Als sie ankamen, ging er in ein Fremdenzimmer und legte sich sofort zur Ruhe.

 

Um neun Uhr abends war er aber wieder munter und brachte eine ganze Stunde am Telefon zu. Um elf Uhr meldete sich Lane bei ihm, und beide gingen fort.

 

Als Luke um drei Uhr morgens zurückkam, fand er Edna Gray noch wach. Aber wenn sie erwartet hatte, er würde ihr von seinen Erlebnissen erzählen, dann wurde sie enttäuscht. Er sagte nur, daß er Erfolg gehabt habe, und ging auf keine Einzelheiten ein.

 

*

 

Dr. Blanter suchte Trigger im Büro auf und forderte eine große Summe von ihm.

 

»Aber seien Sie doch vernünftig, Doktor! Ich kann Ihnen doch nicht so einfach zweihunderttausend Pfund besorgen! Sie wissen ebensogut wie ich, daß wir unser Geld immer sofort investieren. Vor Ende November können wir unsere Anteile nicht auszahlen.«

 

»Und ich sage Ihnen, Sie werden mir die Summe beschaffen, Trigger, und zwar in amerikanischem Geld. Ich verlange, daß es für mich bereitliegt, wenn ich wiederkomme.«

 

Trigger lehnte sich in seinem Sessel zurück und begegnete dem Blick des Doktors, ohne mit der Wimper zu zucken.

 

»Wenn die Transaktion durchgeführt ist, macht es mir keine Schwierigkeiten; im anderen Fall müßte ich Wertpapiere mit Verlust verkaufen. Warum haben Sie denn so große Eile?« Blanter gab keine Erklärung. Er war es gewohnt, daß Befehle, die er erteilte, unbedingt ausgeführt wurden. Zuerst wäre er beinahe wütend geworden, als er sah, daß Trigger ihm nicht sofort gehorchen wollte, aber er bewahrte die Ruhe. Die feindselige Haltung dieses Mannes war ihm schon seit einiger Zeit aufgefallen. Wenn er wollte, konnte er sich ausgezeichnet beherrschen. Er steckte sich eine Zigarre an und setzte sich in einen Sessel.

 

»Wir wollen uns nicht unnötig streiten. Wenn Sie es durchaus wissen müssen, will ich es Ihnen sagen. Es ist wegen Mr. Luke. Soweit es mich angeht, hat Ihre Firma das letzte Pferd bekommen. Ihnen tut das ja weiter nicht weh, denn Sie haben eine Menge Geld gemacht. Ich rate Ihnen trotzdem, Ihre Firma aufzulösen, die Büroeinrichtung zu verkaufen und sich ins Privatleben zurückzuziehen.«

 

»Hören Sie einmal zu, Doktor.« Mr. Trigger klopfte mit dem Finger auf die Tischplatte, um seinen Worten mehr Nachdruck zu geben. »Meine Firma hat schon lange existiert, bevor Sie etwas von ihr gehört haben, schon zu einer Zeit, als ich von Ihnen noch nichts wußte. Damals waren Sie ein kleiner Mann, der in einem Mordprozeß vor Gericht stand. Beinahe wäre es Ihnen seinerzeit schlecht gegangen. Meine Firma kann auch ohne Sie weiterbestehen. Ich habe Sie niemals danach gefragt, wie Sie zu den Pferden kommen, mit denen ich meine Geschäfte mache. Was Sie mit den Tieren anfangen oder wie Sie sie dazu bringen, als erste durchs Ziel zu gehen, interessiert mich nicht. Wenn Sie etwas Gesetzwidriges dabei begangen haben, will ich nichts davon wissen. Soweit mir bekannt ist, wird ›Weiße Lilie‹ am Mittwoch das Cambridgeshire-Rennen gewinnen, und ich habe alle meine Kunden dementsprechend benachrichtigt. Warum das Pferd gewinnt, oder warum es nicht gewinnt, geht mich nichts an. Es gibt auch noch andere Informationsquellen und andere Rennställe als den von Goodie. Wenn Sie sich gegen die Gesetze vergangen haben, so ist das Ihre Sache und nicht die meine. Mr. Luke ist ein guter Charakter, und ich habe nichts von ihm zu fürchten.«

 

Er stand auf, ging auf die andere Seite des Schreibtisches und sah auf Blanter nieder.

 

»Ein Mann namens Garcia wurde heute morgen tot aufgefunden – ich habe es in der Zeitung gelesen. Außerdem wurde ein früherer Jockei, Punch Markham, in der City erschossen.«

 

»Na und?«

 

»Ich frage Sie nur, ob das etwas mit unserem Geschäft zu tun hat?«

 

»Und wenn es etwas damit zu tun hätte?«

 

Trigger schwieg, und Blanter wiederholte die Frage.

 

»Dann würde ich jetzt sofort auf die Straße gehen und einen Polizisten rufen, damit er Sie verhaftet«, entgegnete Trigger langsam. »Wenn ich an Rustems Worte denke und davon überzeugt wäre, daß sie sich auf diesen Mord beziehen, dann würde ich Sie anzeigen, so wahr ich hier stehe.«

 

Dr. Blanter erhob sich langsam. Er sah entsetzlich aus in seiner Wut, aber Trigger ließ sich nicht so leicht einschüchtern.

 

»Denken Sie gar nicht daran, was Ihnen dann passiert?«

 

Trigger lächelte.

 

»Ich müßte dann vielleicht der Mordkommission erklären, warum ich Sie über den Haufen geschossen habe.«

 

Er hatte die Hand in der Rocktasche, und plötzlich entdeckte Blanter, daß er eine Pistole gepackt hatte, mit der er auf ihn zielte.

 

»Ich habe mich immer vor Ihnen in acht genommen, Blanter, und ich weiß auch in dieser Sekunde, was ich von Ihnen zu halten habe. Gehen Sie. Wenn nach dieser Transaktion Geld zur Verfügung steht, werden Sie Ihren Anteil bis auf den letzten Shilling richtig erhalten.«

 

Gleich darauf stand Dr. Blanter auf der Straße. Er wußte kaum, wie ihm geschah. Aber wenn er überhaupt Respekt vor jemand hatte, dann vor Mr. Trigger.

 

Als er in seine Wohnung in der Half Moon Street kam, fand er seinen Diener Stoover am Schreibtisch damit beschäftigt, eine seiner besten Zigarren zu rauchen. Außerdem hatte sich der Mann ein Glas Whisky-Soda eingeschenkt.

 

Stoover erhob sich und reichte auch dem Doktor ein Glas, bevor er sich wieder niederließ. Blanter tadelte dieses Benehmen in keiner Weise.

 

»Haben Sie Goodie getroffen?«

 

»Nein.«

 

Stoover verzog den häßlichen Mund.

 

»Der hat nicht mehr Verstand als ein Kaninchen«, sagte er verächtlich. »Er fragte mich, wozu wir den neuen Kasten brauchten – er sah, wie ich damit auf der Straße fuhr. Dem alten Teufel entgeht doch auch nichts.«

 

»Warum sind Sie denn auch damit auf die Straße hinausgefahren?«

 

»Ich wollte den Motor ausprobieren. Ich hatte das Flugzeug aufgeladen – es ist gestern geliefert worden. Und ich bin auf den Flugplatz gefahren und habe die Tragflächen montiert. – Von wo aus wollen wir denn abfliegen?«

 

»Von Goodies Landsitz aus. Ich wünschte nur, daß sein Haus in Sussex läge, dann hätten wir einen kürzeren Weg. Aber Goodies Wiesen liegen sehr einsam. – Wird denn das Flugzeug zwei Passagiere tragen?«

 

»Wie kann man einen solchen Unsinn fragen! Es gehen auch vier Leute hinein. Eine großartige Maschine!«

 

Die Freundschaft zwischen dem Doktor und diesem ungehobelten Diener hatte ihre besondere Veranlassung. Stoover wußte um manche dunkle Punkte in Blanters Leben und hatte mit ihm gemeinsam manche dunkle Tat begangen. Hätte Luke davon gewußt und Blanters Akten daraufhin noch einmal sorgfältig durchgelesen, so hätte er gemerkt, daß Stoover derselbe war, der damals mit Dr. Blanter zusammen vor Gericht stand. Nur mit knapper Not entging Blanter seinerzeit der Strafe; Stoover wurde zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt. Aber Luke hatte keine Ahnung, daß es derselbe Mann war, der damals unter dem Namen ›John Ernest‹ verurteilt worden war und jetzt ein bequemes Leben in Blanters Haus führte.

 

Wenn Stoover betrunken war, sagte er gelegentlich dem Doktor, daß er ihm lebenslänglich Zuchthaus verschaffen könne.

 

»Wie steht es denn eigentlich mit dem Cambridgeshire-Rennen? Wird es klappen?« fragte der Diener und goß sich wieder eine Portion Whisky ins Glas.

 

»Goodie meint, es sei alles in Ordnung, seitdem wir diesen unverschämten Rustem an die Kette gelegt haben. Das war allerdings ein gemeingefährlicher Kerl.«

 

»Was wollen Sie denn mit ihm machen?«

 

Blanter hatte nicht die Absicht, allzuviel zu verraten.

 

»Das werden wir ja sehen. – Haben Sie alles für morgen vorbereitet?«

 

Stoover nickte.

 

»Ich habe einen französischen Chauffeur engagiert und auch das Transportauto gemietet. Vielleicht brauchen wir es aber gar nicht.«

 

»Das wird sich alles zeigen«, erwiderte Blanter kurz. »Also, ich verlasse mich auf Sie, Stoover. Sie müssen die Zeit richtig festsetzen. Sorgen Sie dafür, daß alles klappt, denn wenn die Sache schiefgeht …« Er zuckte mit den Schultern.

 

»Sie können sich auf mich verlassen. Soll ich in den Keller gehen und noch eine Flasche holen, oder wollen Sie es tun?«

 

»Da Sie mein Diener sind, wäre es wohl schicklich, daß Sie auch etwas täten für Ihr Geld«, entgegnete der Doktor gutmütig.

 

Dennoch erhob er sich selbst und ging hinunter. In den nächsten vierundzwanzig Stunden mußte er diesem Mann noch vertrauen; es lohnte sich daher, ihn in guter Stimmung zu halten.