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Jim hatte die Wahl, ob er nach Hause gehen und einsam zu Mittag essen oder ob er im Büro bleiben und sich dort die Zeit vertreiben sollte. Allein und einsam zu essen hatte keine große Anziehungskraft auf ihn, und er war noch unentschlossen, als er sah, daß das große, elegante Auto der Camerons auf der Straße anhielt und Frank ausstieg.

 

Jim eilte hinaus, um ihn zu begrüßen.

 

»Ich möchte mit Ihnen sprechen, Jim.«

 

Es war das erstemal, daß er Bartholomew mit Vornamen genannt hatte, und Jim glaubte das als gutes Vorzeichen deuten zu können.

 

»Ich weiß wirklich nicht, was Cecile passiert ist«, sagte Frank, als die beiden die breite Straße hinuntergingen, die um die Mittagszeit vollkommen verlassen war. »Heute morgen war sie in bester Stimmung, ja, sie machte sogar einen Scherz über diesen sonderbaren Ring, den sie doch sonst in so hohem Ansehen hält. Wie nannten Sie ihn doch gleich?«

 

»›Die Töchter der Nacht‹. Es klingt romantisch, aber der Name ist sonst gebräuchlich für die drei Furien.«

 

»Sie ging fröhlich und vergnügt von zu Hause fort, aber als sie von der Bank zurückkehrte, war sie ganz erledigt. Was ist nur geschehen?«

 

»Das mag der Himmel wissen. Ich saß mit ihr im Wagen, als ich plötzlich bemerkte, daß sie bleich wurde. Ich glaubte schon, sie würde ohnmächtig werden.«

 

»Können Sie mir irgendeinen Grund dafür angeben?«

 

»Nein.« Jim hielt es für klüger, die Tatsache zu verschweigen, daß allem Anschein nach Sandersons Anblick Cecile Cameron in solche Bestürzung versetzt hatte.

 

»Nun, auf jeden Fall hat sie sich entschlossen, morgen nicht nach Amerika zu reisen.«

 

Jim freute sich, als er das hörte.

 

»Unter diesen Umständen kann ich natürlich auch nicht fortfahren«, sagte Frank. »Aber Margot muß abreisen, denn es müssen Schriftstücke und Dokumente durch die Erben unterzeichnet werden. Ich komme dann später mit meiner Frau nach.«

 

»Soll Margot tatsächlich allein fahren?«

 

»Ich fürchte, es geht nicht anders. Sie hat dann sehr viel Platz, denn ich habe drei Kabinen für uns belegt.«

 

»Was sagt sie denn dazu?«

 

»Ach, sie ist sehr traurig darüber. Es wäre mir lieb, wenn Sie sie heute noch besuchten. Sie ist wirklich ein sehr netter Kerl und ein so liebenswürdiger Charakter. Morgen fährt sie nach Southampton. Ich wünschte, Sie könnten zum Dampfer gehen, damit sie nicht einen so traurigen, einsamen Abschied hat. Ich kann Cecile in ihrem jetzigen Zustand nicht allein lassen.«

 

»Nun, das tue ich selbstverständlich sehr gern«, erklärte Jim prompt. »Haben Sie keine Ahnung, aus welchem Grund Ihre Frau die Reise so plötzlich aufgibt? Ich dachte, sie freute sich so sehr darauf, wieder nach den Vereinigten Staaten zu kommen.«

 

»Nein, sie war nie sehr begeistert von der Reise. Aber sie hatte auch nichts dagegen. Ihre Freundin, Mrs. Dupreid, fährt mit dem Dampfer, und so glaubte sie, daß in ihrer Gesellschaft der Aufenthalt auf dem Dampfer sehr angenehm verlaufen würde. Ich bin wirklich sehr niedergeschlagen. Wie sie zu der Entscheidung gekommen ist, ihre Meinung zu ändern, mag der Himmel wissen. Ich habe mir zum Prinzip gemacht, niemals in meine Frau zu dringen, und infolgedessen führe ich eine glückliche Ehe.«

 

Jim lachte.

 

»Haben Sie Zeit, jetzt mit mir zu kommen? Ich möchte Sie gern in meinem Wagen mitnehmen.«

 

Jim zögerte.

 

»Warten Sie bitte einen Augenblick.« Er ging in die Bank zurück und suchte Sanderson auf.

 

»Ich gehe auf ungefähr eine Stunde aus. Wenn ich dringend gebraucht werde, telephonieren Sie nach dem Haus von Mr. Cameron.«

 

Der Assistent nickte. Er war in bester Stimmung.

 

»Ich glaube nicht, daß Ihre Anwesenheit heute nachmittag benötigt wird, Mr. Bartholomew. Ich habe den Streitfall wegen der Rechnung von Jackson & Wales in Ordnung gebracht; Sie werden die Schlußabrechnung heute abend um fünf unterschreiben können.«

 

Auf dem Wege nach Moor House zog Frank Bartholomew mehr ins Vertrauen, als er es jemals während ihrer zwölfmonatigen Bekanntschaft getan hatte.

 

»Cecile ist seit dem Tod ihrer Schwester nie wieder vollkommen hergestellt worden. Die starb damals in New York an Typhus. Ich sagte Ihnen doch schon früher, daß Cecile gerade noch zur rechten Zeit kam, um sie noch einmal zu sehen. Die Mitglieder ihrer Familie hielten sehr zueinander, und manchmal fürchtete ich schon, daß diese Aufregung ihrem Gemütszustand geschadet hätte. Ich will Ihnen gegenüber ganz offen sein, Jim. Manchmal bin ich wirklich sehr besorgt um sie. Ich habe damals darauf bestanden, daß sie einen Spezialisten aufsuchte. Als wir das letztemal in New York waren, habe ich ihm alle meine Befürchtungen anvertraut, aber er konnte keine ernstliche Störung feststellen. Er sagte nur, ihr jetziger Zustand wäre die Folge eines schweren Schocks. Sie sei übernervös, aber das ließe sich ohne weiteres heilen. Margot war natürlich eine sehr gute Stütze für uns in dieser schweren Zeit, wie sie es auch immer gewesen ist. Wie stehen Sie eigentlich mit Margot?« fragte er plötzlich.

 

Jim wurde rot.

 

»Ich liebe sie«, erwiderte er etwas heiser.

 

»Das dachte ich mir«, entgegnete Frank ruhig.

 

»Nun, und was wollen Sie in der Angelegenheit weiter unternehmen?«

 

Frank unterdrückte ein Lächeln, als er diese Frage stellte. »Ich will sie fragen, ob sie mich heiraten will, aber das kann ich nicht, solange ich nur ein Bankdirektor mit einem verhältnismäßig kleinen Einkommen bin –«

 

»Sie wissen doch, daß Margot eigenes Vermögen besitzt«, unterbrach ihn Frank.

 

»Das ist ja gerade der Grund. Ich habe großes Zutrauen zu meinem – meinem Glück, wenn man es so nennen kann, und bin fest davon überzeugt, daß es mir gelingen wird, das Schicksal zu meistern. Sobald Margot abgefahren ist, gebe ich meine Stellung bei der Bank auf und fange etwas anderes an, das mir größere Chancen gibt. Ich weiß schon, was Sie sagen wollen.« Jim legte seine Hand auf Franks Knie. »Sie wollen mir eine Stellung anbieten – Sie sind ein sehr reicher Mann, und ich weiß wohl, daß Sie mir eine Position verschaffen können, in der ich leicht Geld verdienen kann. Aber das genügt mir nicht. Und Sie würden auch keine große Achtung vor mir haben, wenn ich auf Ihr Angebot einginge.«

 

»Da haben Sie recht«, entgegnete Frank nach einer kurzen Pause. »Und ich schätze Sie deshalb, Jim. Ich zweifle nicht daran, daß es Ihnen gelingt, sich durchzusetzen. Und ich bin davon überzeugt, daß Margot ebenso denkt wie ich.«

 

Als sie ankamen, war das Essen schon aufgetragen. Cecile Cameron hatte sich bereits etwas erholt und war wieder gefaßt. Als Jim eintrat, kam sie ihm mit einem sonderbaren Lächeln entgegen.

 

»Nun, Mr. Bartholomew, was halten Sie von meinem letzten sonderbaren Entschluß?«

 

»Sie werden jetzt jedenfalls Ihr Konto bei meiner Bank nicht abheben, und das tröstet mich in gewisser Weise«, erwiderte Jim scherzend. »Aber im Ernst, jeder muß doch das tun, was er für richtig hält. Ich halte es nicht für ratsam, sich zu etwas zu zwingen, wenn man nicht mit dem Herzen dabei ist.« Er sah zu Margot hinüber, die seinen Blick erwiderte, ohne zu erröten. »Man kann eben das nicht aufgeben, was man am meisten in der Welt erstrebt.«

 

Margot pflichtete ihm bei. »Sie haben vollkommen recht.« Jim verneigte sich kurz und ein wenig steif.

 

»Ich kann mich jetzt noch nicht von diesem friedlichen Leben trennen«, erklärte Mrs. Cameron.

 

»Daraus kann man mir doch schließlich keinen Vorwurf machen.«

 

»Das tut auch niemand, mein Liebling«, entgegnete Frank. »Möchtest du nicht vielleicht auf einige Zeit nach Frankreich gehen?«

 

»Nein, ich möchte am liebsten hierbleiben«, antwortete sie schnell. »Hier in diesem kleinen, weltabgelegenen Ort, wo man niemanden sehen muß.«

 

»So, jetzt können Sie wieder eine Verbeugung machen, Jim«, sagte Margot.

 

»Ach, nennst du ihn schon beim Vornamen?« fragte Frank.

 

»Ja, gelegentlich, wenn ich gerade gut aufgelegt bin«, erwiderte sie kühl.

 

Jim ärgerte sich darüber, trotzdem war aber die Stimmung beim Essen gegen alle Erwartungen sehr vergnügt.

 

Als Jim zur Bank zurückkehrte, schaute er hoffnungsvoll in die Zukunft. Erstens würde Margot auf jeden Fall zurückkehren, wenn die Camerons hierbleiben. Zweitens wußte er, daß er sie nicht wieder gehen lassen würde, wenn sie noch einmal wiederkam.

 

Margot ging am Nachmittag zur Bank, um sich von ihm zu verabschieden. Sie hatte diese Örtlichkeit gewählt, weil sie ihrer selbst nicht ganz sicher war. Wären sie beide allein gewesen, hätte sie vielleicht ihre Gefühle ihm gegenüber nicht verbergen können.

 

»Cecile hat die Absicht, nach Schottland zu gehen. Sie hatte heute nachmittag eine sehr lange Unterredung mit Frank. Als mein Bruder nachher aus seinem Arbeitszimmer trat, war er sehr ernst. Auf jeden Fall ist Cecile schon abgereist. Ich habe sie zur Bahn gebracht.«

 

»Sie ist schon abgefahren?« fragte Jim aufs höchste erstaunt. »Hat denn Frank –«

 

Margot schüttelte den Kopf.

 

»Nein, sie ist allein gereist. Sie hat gute Freunde dort oben.« »Sie tut mir wirklich leid. Ich möchte nur wissen, was ihr eigentlich fehlt?«

 

Margot sah ihn gerade an.

 

»Darüber habe ich mir auch schon den Kopf zerbrochen. Haben Sie gesehen, wie sie Mr. Sanderson anstarrte, als sie den Zusammenbruch hatte?«

 

Er nickte.

 

»Das habe ich wohl bemerkt. Soviel ich weiß, hat sie aber meinen Assistenten früher niemals getroffen.«

 

»Ich weiß es. Wir haben vor drei Tagen noch über die Bank gesprochen, und ich erzählte ihr von dem Steckenpferd von Mr. Sanderson. Sie lachte noch darüber. Bei der Gelegenheit bemerkte sie, daß sie Ihren Assistenten überhaupt nicht kennengelernt hätte.«

 

Sie reichte ihm die Hand.

 

»Also, leben Sie wohl, Jim. Ich glaube, ich werde bald wieder hier sein.«

 

Er nahm ihre Hand in die seine und drückte sie. Das Sprechen fiel ihm schwer.

 

»Sie verstehen, was ich Ihnen alles sagen möchte und was vorläufig doch ungesagt bleiben muß.«

 

Sie nickte.

 

»Ich verstehe es vollkommen. Wollen Sie mir nicht einen Kuß geben?«

 

Sie hob den Kopf, und er drückte die Lippen auf ihren Mund.