21

 

Die See hatte sich beruhigt, und das Schiff schaukelte nicht mehr so stark, als Cynthia Dorban erwachte. Arthur schaute düster durch die offene Luke. Er war schon vollständig angekleidet.

 

»Was ist denn los?« fragte Cynthia schnell.

 

Er wandte sich nach ihr um.

 

»Es ist alles in Ordnung – nur weiß Penelope jetzt alles.«

 

»Sie weiß alles«, wiederholte sie wütend, »wer hat es ihr denn gesagt – etwa du?«

 

»Orford hat den ganzen Morgen mit ihr gesprochen. Ich glaube, sie hat ihm auch alles mitgeteilt.«

 

»Was denn?«

 

»Sie wird ihm von den Banknoten und den Radierungen in dem Koffer erzählt haben.«

 

Cynthia lächelte.

 

»Wenn er die finden will, dann muß er ein sehr tüchtiger Taucher sein. Ich habe sie selbst im Meer versenkt.«

 

»Sie hätten verbrannt werden müssen«, erwiderte er, während er noch immer durch das Fenster schaute. »Ich habe dir immer gesagt, daß es viel besser gewesen wäre, sie zu verbrennen. Aber jetzt ist es zu spät, um noch darüber zu streiten. Wenn sie nun einen Eid darauf leistet, was sie gesehen hat dann wird die Sache für uns beide sehr unangenehm.«

 

Cynthia erhob sich und zog ihren Morgenrock an, bevor sie antwortete.

 

»Du bist ein Narr. Ich hätte niemals gedacht, daß du ein solcher Schwächling wärst. Wenn sie auch schwört! Ihr Wort steht dann gegen ein Urteil. Du glaubst doch nicht, daß man deshalb eine Strafe aufhebt?«

 

»Whiplow ist auch an Bord«, fuhr er fort, ohne auf ihre Frage zu achten.

 

Sie sah ihn erstaunt an.

 

»Whiplow ist hier?«

 

»Er gehört zu den Schiffbrüchigen, die letzte Nacht von dem Schiff gerettet wurden. Er war in dem zweiten Boot. Offensichtlich war er mit Spinner auf dem Weg nach Madeira, als die ›Pealego‹ auf eine Klippe auflief. Ich hörte es, als sich Whiplow mit dem Captain unterhielt.«

 

»Hast du ihn selbst gesprochen?«

 

Er schüttelte den Kopf.

 

»Es ist nicht vorteilhaft für uns, ihn überhaupt zu kennen. Ich glaube nicht, daß er sehr zurückhaltend sein wird, aber ich muß ihn eben zum Schweigen bringen. Deswegen bin ich auch so früh aufgestanden, aber der Kerl schläft ja unheimlich lange.«

 

*

 

Sie setzte sich auf ihr Bett, um die Lage zu überdenken.

 

»Ich sehe nicht, daß seine Anwesenheit hier viel an der Situation ändert«, meinte sie dann.

 

Er wandte sich nach ihr um.

 

»Sie ändert sehr viel«, sagte er langsam, »das wirst du noch entdecken.«

 

»Wieso denn?«

 

»Obgleich du eine so schlaue Frau bist, kannst du doch manchmal auch furchtbar beschränkt sein. Ich gehe jetzt an Deck. Soll ich dir das Frühstück in die Kabine schicken?«

 

Sie schüttelte sich.

 

»Ich sehe, daß es dir noch nicht gut geht. Ich werde dir Keks und Sodawasser bringen lassen.«

 

Der erste, den er an Deck traf, war Mr. Orford, der in ungewöhnlich froher Stimmung war.

 

»Wie geht es unserem Freund heute morgen?« fragte Dorban.

 

»Ich habe ihn noch nicht gesehen, aber ich vermute, daß ihm das Frühstück besser schmeckt als Ihnen. Es geht doch nichts über ein gutes Gewissen.«

 

Arthur lächelte.

 

»Wie können Sie darüber sprechen? Sie gehören doch auch zu dem Komplott, und ich vermute, daß Sie sich unter Arrest befinden.«

 

»Ich stehe nur unter Verdacht«, gab Xenocrates Orford vorsichtig zu. »Aber wer steht nicht unter Verdacht?«

 

Arthur lachte.

 

»Ich zum Beispiel nicht. Warum haben Sie sich denn überhaupt in die ganze Sache eingelassen? Das muß Sie doch eine unheimliche Menge Geld gekostet haben? Und Sie können doch nicht behaupten, daß Sie großen Erfolg gehabt hätten?«

 

»Mein Herr, wir sind noch nicht am Ende. Ich habe genügend Zutrauen zu meinem guten Stern, um in einer Krisis wie der jetzigen vollkommen ruhig zu bleiben.«

 

»Es gehören aber schon ganz besondere Glücksumstände dazu, aus diesen Schwierigkeiten herauszukommen.«

 

Mr. Orford entdeckte eine dünne Rauchfahne am Horizont.

 

»Das ist doch die ›Polyantha‹?« rief er erregt.

 

Mr. Dorban mußte laut lachen.

 

»Ich hoffe, daß es die ›Polyantha‹ ist, denn ich habe es satt, auf diesem verdammten Tanker zu fahren. Ich will Ihnen nichts vorenthalten, Mr. Orford. Als Mr. Spinner meinen Vetter gestern verhaftete, fand man in seiner Tasche auch ein kleines Codebuch, das uns in die Lage versetzte, eine Botschaft an die ›Polyantha‹ zu senden. Wir forderten sie auf, so schnell wie möglich zu uns zu kommen. Glücklicherweise fuhr sie mit uns parallel. Sie sehen, Mr. Orford«, sagte er beinahe entschuldigend, »wir haben uns entschlossen, die ganze Bande zu fangen, einschließlich Mr. Bobby Mills.«

 

»Ich sehe«, sagte Mr. Orford und nickte.

 

In diesem Augenblick erschien John in Begleitung Mr. Spinners. Er begrüßte Mr. Orford durch ein Kopfnicken und sah seinen Vetter ruhig an, der ihn unverschämt anlächelte.

 

»Mr. Spinner sagt mir eben, daß die ›Polyantha‹ mit größter Geschwindigkeit auf uns zukommt. Dann haben wir wenigstens eine angenehme Reise nach England«, wandte sich John an den Kriminalbeamten. »Vermutlich ist es ganz gegen die Vorschriften, daß ich einige Worte mit Mr. Orford wechsle?«

 

Spinner zögerte.

 

»Ich weiß nicht, ob es darüber besondere Vorschriften gibt. In meiner Gegenwart können Sie ruhig mit ihm sprechen.«

 

»Ich danke Ihnen.«

 

John sah Dorban an, der sich mit einem Achselzucken zurückzog.

 

»Ist Miss Pitt sehr aufgeregt?«

 

»Ein wenig«, sagte Mr. Orford vorsichtig. »John, wissen Sie noch, ob ich Captain Willit den Auftrag gab, Miss Pitts Kabine sorgfältig zu durchsuchen? Ich bin jetzt so verwirrt, daß ich es nicht mehr genau sagen kann.«

 

John nickte.

 

»Ja, ich weiß genau, daß Sie ihm den Auftrag gaben – aber warum fragen Sie mich?«

 

Mr. Orford konnte seine Aufregung kaum verbergen.

 

»Ich möchte es Ihnen jetzt noch nicht sagen – vielleicht werden Sie es auch nie erfahren.« Dann wandte er sich an den Kriminalbeamten. »Können Sie sich auch noch an die Gerichtsverhandlung erinnern, Mr. Spinner?«

 

»Ich habe Lord Rivertor seinerzeit verhaftet.«

 

»Können Sie sich noch auf die Verteidigung in dem Prozeß besinnen?«

 

Der Inspektor lächelte schwach.

 

»Da war nicht viel zu verteidigen, Mr. Orford. Man behauptete, die ganze Sache sei eine wissentlich, falsche Beschuldigung und alles Beweismaterial sei künstlich gegen Feltham zusammengetragen. Die Maschinen, die Instrumente und die falschen Banknoten sollten während seiner Abwesenheit ins Haus geschafft worden sein.«

 

»Denken Sie auch noch daran, daß John Feltham erklärte, er habe zwei Radierungen an einen Fremden verkauft, den er später niemals wiedergesehen habe, und daß das falsche Geld, das man in seinem Besitz fand, der Kaufpreis für die zwei Radierungen war?«

 

Der Polizeiinspektor nickte.

 

»Nehmen wir nun einmal an«, Orfords Stimme sank zu einem Flüstern herab, »also nehmen wir einmal an, ich würde die Quittung über den Verkauf der Radierungen finden, Lord Rivertor könnte den Mann, der sie kaufte, identifizieren und wir könnten obendrein noch eine Zeugin beibringen, die die Radierungen im Besitz der Familie Dorban gesehen bat …«

 

Spinner runzelte die Stirn und dachte nach. Mr. Orfords Gründe waren sehr überzeugend.

 

»Das würde allerdings einen großen Unterschied machen. Das Justizministerium würde das Verfahren wiedereröffnen, und wenn es bewiesen werden könnte –« Er schüttelte den Kopf. »Aber ich glaube nicht, daß Ihnen dieser Nachweis gelingen wird. Die Quittung, die Sie vorzeigen, könnte doch gefälscht sein!«

 

»Ich möchte Sie ins Vertrauen ziehen«, sagte Orford und schaute argwöhnisch auf Arthur, der an der Reling lehnte. »Ich bringe jetzt ganz neue Gesichtspunkte.« Mr. Orford sprach sehr schnell, und John hörte erstaunt zu, als er alles berichtete, was er am Morgen von Penelope erfahren hatte.

 

Während er noch bei seiner Erzählung war, kam ein Mann an Deck und klopfte Arthur Dorban vertraulich auf die Schulter. Sie konnten ihn zuerst nur von hinten sehen, aber plötzlich wandte er sich um.

 

»Wer ist das?« fragte Orford.

 

John drehte sich auch um, dann sprang er mit einem Aufschrei auf den Fremden zu und packte ihn an der Kehle.

 

»Kennen Sie mich wieder?«

 

Whiplow wand sich unter seinem festen Griff, Sein Gesicht war aschfahl.

 

»Ich kenne Sie nicht – ich habe Sie niemals gesehen. Lassen Sie mich doch in Ruhe!«

 

John ließ ihn los.

 

»Dies ist der Mann, der damals in mein Atelier kam, zwei Radierungen von mir kaufte und mir die falschen Banknoten dafür gab! Das ist der Mann, den meine Freunde so lange gesucht haben und der spurlos verschwunden zu sein schien!«

 

»Sie sind verrückt«, rief Whiplow atemlos und zog seinen Rock zurecht. »Sie sind mir vollständig fremd!«

 

Der Kriminalbeamte nahm John am Arm und führte ihn fort.

 

Eine halbe Stunde später ging Mr. Spinner allein an Bord der ›Polyantha‹ und kehrte erst nach zwei Stunden zurück. Penelope stand an der Reling und sah erregt auf das Boot. Die Pulse in ihren Schläfen hämmerten, als sie sah, daß Spinner eine gelbe Wolljacke über dem Arm trug. Ob die Quittung noch in der Tasche war? Sie schaute sich nach Mr. Orford um, konnte ihn aber nicht entdecken. Auch Whiplow war nicht oben an Deck. Arthur und Cynthia standen an der Reling und schauten auf das Fallreep hinunter. Sie schienen etwas bestürzt zu sein.

 

»Warum sind wir eigentlich nicht alle auf die ›Polyantha‹ gegangen?« fragte Cynthia nervös. »Warum ist er allein –«

 

»Frage ihn doch selbst«, erwiderte El Slico lakonisch, als Mr. Spinner jetzt die Treppe heraufkam.

 

»Wo ist denn Ihr Freund?« fragte er Arthur. Es lag ein unangenehmer Ton in seiner Stimme.

 

»Meinen Sie Whiplow? Der ist unten, soviel ich weiß. Aber er ist durchaus kein Freund von mir, Inspektor.«

 

Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, ging Spinner nach unten, um den Mann zu suchen.

 

*

 

Hinter der verschlossenen Tür von Mr. Orfords Kabine fand eine Unterhaltung statt.

 

»Ich kenne zwar die Gesetze nicht so genau, Whiplow«, erklärte Mr. Orford, »aber ich vermute, daß die Leute auch auf Indizienbeweise hin verurteilt werden können. Und was machen Ihnen denn ein paar Jahre Gefängnis aus, wenn Sie nachher ein großes Vermögen haben?«

 

»Aber wer garantiert mir dafür, daß Sie Ihr Versprechen auch halten und mich nachher auszahlen?« fragte Whiplow etwas zaghaft.

 

»Sie müssen mir eben trauen«, meinte Mr. Orford. »Das ist keine große Forderung, die ich an Sie stelle. Ich habe so viel Beweismaterial in der Hand, daß ich Sie an den Galgen bringen könnte. Nun, mein Junge –«, er legte ihm die Hand auf die Schulter, »wollen Sie nicht vernünftig werden, bevor ich die Sache dem Gericht übergebe?«

 

Whiplow starrte düster auf den Fußboden.

 

Mr. Orford spielte nun seinen letzten Trumpf aus, aber das wußte der andere nicht.

 

»Spinner weiß über Sie Bescheid. Wir haben außerdem die Quittung über das Geld, das Sie für Ihren Verrat bekommen haben. Die Dorbans werden das Schiff gefesselt verlassen. Wollen Sie auch für Lebenszeit eingesperrt werden, oder wollen Sie nun endlich vernünftig werden?«

 

»Ich habe noch niemals jemanden verraten«, erwiderte Mr. Whiplow nervös. »Und es gibt doch keine direkten Beweise gegen mich. Wie weiß ich denn, daß Sie mir nachher die Summe zahlen werden?«

 

Mr. Orford hatte ihn fast überzeugt, als draußen an die Tür geklopft wurde. Mit erstaunlicher Ruhe öffnete er die Tür. Inspektor Spinner stand vor ihm und hielt ein Blatt Papier in der Hand. Es war die Quittung, die er in der Wolljacke gefunden hatte.

 

»Ich glaube, das fehlte Ihnen noch«, sagte er.

 

Aber bevor Orford etwas erwidern konnte, stieß ihn Whiplow beiseite und starrte auf das zerknitterte Papier.

 

»Das ist der Beweis«, sagte er niedergeschmettert.

 

Mr. Orford aber seufzte tief und ließ sich schwer aufs Sofa niederfallen.