15

 

Es war noch sehr dunkel, aber John führte die kleine Gesellschaft, ohne sich auch nur im geringsten zu besinnen, direkt auf die Klippen zu. Plötzlich leuchtete eine elektrische Taschenlampe auf, und Penelope sah einen engen, dunklen Spalt in dem Felsen vor sich.

 

»Hier ist die Höhle, in der wir früher Räuber gespielt haben. Wir müssen jetzt sofort hineingehen, denn die Flut kommt bald, und das Wasser bedeckt dann gewöhnlich den Eingang. Aber drinnen steigt der Fußboden an, und wir werden eine Plattform. finden, wo wir uns trocken und behaglich aufhalten können.«

 

Er setzte den großen Korb nieder, den er mitgenommen hatte, nahm eine Laterne heraus und steckte sie an. Die Höhle war tief und vorne sehr eng, so daß man das Licht im Innern vom Wasser aus nicht sehen konnte.

 

Die Höhle war nahezu dreißig Meter hoch. Im hinteren Teil erhob sich die Plattform, von der John gesprochen hatte. Er sprang hinauf, streckte die Hand aus und half Penelope nach oben. Drei Öffnungen waren hier zu sehen, die so regelmäßig angeordnet waren, als ob sie von Menschenhand angelegt worden seien.

 

»Das sind natürliche Felsenkammern. Wenn wir die Nacht hier zubringen müssen, ist die auf der linken Seite für Mr. und Mrs. Dorban bestimmt; Sie können in der rechten schlafen, Miss Pitt. Die Höhle ist noch ungefähr achthundert Meter tiefer. Ich werde jedem von Ihnen eine Laterne mitgeben, die brauchen Sie, selbst wenn draußen die Sonne scheint.«

 

Penelope hatte noch kein Wort mit Cynthia gewechselt und nahm auch an, daß diese nicht den Wunsch hatte, sich mit ihr zu unterhalten. Sie war daher sehr erstaunt und entrüstet, als sich Cynthia plötzlich an sie wandte.

 

»Wie sind Sie denn nur auf dieses Schiff gekommen, Penelope?« fragte sie mit dem liebenswürdigsten Lächeln.

 

John trat dazwischen und ersparte ihr die Antwort.

 

»Ich dulde nicht, daß Sie sich mit Miss Pitt unterhalten«, sagte er streng. »Wie die Sache auch ausgehen mag, ich bin fest entschlossen, Sie vor Gericht zu bringen wegen dieses Verbrechens, das Sie an Miss Pitt begehen wollten.«

 

»Ich möchte Sie darauf aufmerksam machen, daß Sie zu meiner Frau sprechen«, erwiderte Mr. Dorban, der bis jetzt geschwiegen hatte. »Miss Pitt hat sich sehr schlecht benommen, sie hat meine Ehre tief gekränkt –«

 

John lachte laut auf.

 

»Slico«, sagte er, »Sie amüsieren mich. Sie, ein gemeiner Falschspieler, der sich mit jedem Dieb Europas angefreundet hat, sprechen von Ehre!«

 

Mr. Dorban schien sich wenig aus diesen Worten zu machen.

 

»Was ich früher war, hat hiermit nichts zu tun – ich weiß, wer Sie sind, mein Freund!«

 

Penelope starrte auf den Mann, es lag eine Drohung in dem Ton seiner Stimme, die sie nicht verstehen konnte. Das Geheimnis, das über der ›Polyantha‹ lag, schien sich immer mehr auf den Matrosen John zu konzentrieren.

 

»Wenn ich erst so genau über Sie Bescheid weiß wie Sie über mich, wird es Ihnen sehr schlecht gehen, Mr. Dorban. Und wenn Sie jetzt lieber nichts mehr sagen würden, wäre ich Ihnen zu Dank verbunden.«

 

Er nahm einen kleinen, langen Kasten aus dem Korb und griff nach einer Angelrute, von der ein Draht herunterhing. Dann verschwand er durch den Eingang der Höhle. Nach einer Viertelstunde kam er wieder zurück und legte Angelrute und Kasten auf die Plattform.

 

»Die Leute sind doch tüchtiger, als ich vermutet hatte«, sagte er. »Ihre Funkgeräte arbeiten schon die ganze Zeit. Ich konnte nicht alles verstehen, aber ich glaube, daß Vigo jezt in Verbindung mit einem Kriegsschiff steht, das draußen auf hoher See kreuzt. Die ›Polyantha‹ wird früh am Morgen Besuch bekommen. Hollin, Sie sind gerade noch mit knapper Not entkommen!«

 

Hollin, der zufrieden auf einer Kante der Plattform saß, rauchte aus einer kurzen hölzernen Pfeife und brummte vor sich hin.

 

»Woher wissen Sie denn das alles schon wieder? Was ist denn das eigentlich?« Er runzelte die Stirn und zeigte auf den Kasten.

 

»Das ist eine transportable Funkstation. Mr. Orford hat mich vorsorglich damit ausgerüstet. Wenn sie das Morsealphabet benützt hätten, wäre ich hilflos gewesen, aber glücklicherweise verständigten sie sich durch Sprechfunk. Sie wissen übrigens alles von Ihnen, Hollin.«

 

Allmählich wurde es heller in der Höhle, und das Licht, das durch die Felsspalte hereinfiel, machte den Gebrauch der. Laternen unnötig. Bei Tagesanbruch stieg auch das Wasser. Weiß schäumend brauste es herein und stieg dann immer höher, bis nur noch ein schmaler Spalt vom Eingang frei blieb.

 

John beobachtete aufmerksam, daß das hereindringende Tageslicht immer schwächer wurde. Zu gewissen Jahreszeiten wurde der Eingang der Höhle vollständig von der Flut bedeckt, und das Wasser kam bis an die Plattform heran. Darin lag jedoch keine Gefahr, denn die Höhle war so groß, daß sie genügend Luft und Sauerstoff hatte. Sie waren ja auch nicht zu lange von der äußeren Luft abgeschnitten.

 

Als die Flut ihren Höhepunkt erreicht hatte, machte John sich daran, das Frühstück zu bereiten.

 

Mr. und Mrs. Dorban hatten sich in ihre ›Privathöhle‹ zurückgezogen und sprachen leise miteinander. Hollin lehnte mit untergeschlagenen Beinen an der Felswand. Penelope war allein bei John.

 

»Diese Leute scheinen alles über Sie zu wissen«, brach sie plötzlich das Schweigen. »Ist es etwas, was Ihnen schaden könnte?«

 

»Die Frage könnte man mit Ja und Nein beantworten, Sie wissen nichts von mir, was meine Ehre berührte, aber vieles, was meine Sicherheit gefährdet.«

 

Mit dieser geheimnisvollen Erwiderung mußte sie sich zufriedengeben.

 

Cynthia beobachtete die beiden dauernd und sah, wie sich John zu dem Mädchen hinneigte. Sie vermutete, daß sie vertraulich miteinander sprächen, da sie nur den leisen Klang seiner Stimme hörte. Sie flüsterte ihrem Mann etwas zu.

 

»Du bist verrückt«, sagte Arthur ruhig. »Was schadet es denn, wenn er sich in sie verliebt?«

 

»Er kann sie doch heiraten!«

 

Arthur runzelte die Stirn. »Sie heiraten?« wiederholte er.

 

»Nimm doch einmal an, die beiden heirateten und bekämen ein Kind, du Narr!« sagte sie ärgerlich.

 

»Wie könnten sie heiraten? Du bist die reinste Närrin! Augenblicklich schaut man in jedem spanischen Hafen und in jedem Hafen der Welt nach der ›Polyantha‹ aus.«

 

»Der Captain kann sie doch trauen!« unterbrach sie ihn. »Jeder Captain kann auf hoher See ein Paar trauen. Weißt du denn das nicht? Du bist doch, soviel ich weiß, auch schon auf Schiffen gefahren?« fragte sie sarkastisch.

 

»Ich habe mich niemals um Captains gekümmert«, sagte Mr. Dorban höflich. »Ich glaube, du überschätzt die Möglichkeit, Cynthia. Sie ist doch hübsch, nicht wahr?«

 

Er fragte ganz gleichgültig, und ebenso gleichgültig betrachtete Mrs. Dorban das Profil des Mädchens.

 

»Ja, sie ist hübsch. Hast du mit dem Mann gesprochen?«

 

»Er schläft«, erwiderte Arthur und warf dem schlummernden Hollin einen Blick zu.

 

»Wenn unser Wärter die Höhle verläßt, weckst du ihn auf, Arthur.«

 

Eine Weile später watete John hinaus, um einen kleinen Erkundungsgang zu machen. Er war als einziger mit hohen Seemannsstiefeln ausgerüstet. Aber schon nach wenigen Augenblicken kehrte er wieder zurück.

 

»Es ist nichts zu sehen«, sagte er. »Wir wollen jetzt frühstücken. – Nanu, Sie haben ja meinen Freund Hollin aufgeweckt!«

 

Dorban hatte den Mann nur wecken können, zum Sprechen blieb ihm nicht genügend Zeit. Aber er hatte später Gelegenheit dazu, als das Wasser fiel und John mit Penelope hinausgegangen war, um frische Luft zu schöpfen.

 

»Wenn er Spazierengehen kann, können wir das auch«, revoltierte Hollin. »Wenn er denkt, daß ich hier den ganzen Tag zubringen werde, hat er sich aber schwer geirrt!«

 

Mr. Dorban nickte ihm ermunternd zu.

 

»Er behandelt Sie wie einen Hund«, sagte er. »Ich kann sein Verhalten uns gegenüber wohl verstehen, denn wir sind nicht seine Freunde. Aber ein Mann, der ihm soviel geholfen hat wie Sie –«

 

»Ja, das stimmt, sie behandeln mich wie Dreck!« rief Mr. Hollin aufgebracht. »Und alles nur, weil ich ein paar Worte über diese junge Dame gesagt habe.« Er zeigte mit dem Kopf nach dem Ausgang der Höhle. »Das hat ihn so in Wut gebracht, daß er mir den Schädel einschlagen wollte. Das ist doch keine Art, mit einem Freunde umzugehen!«

 

»Warum dienen Sie ihm denn?« fragte Cynthia freundlich. »Er hat Ihnen wahrscheinlich viel Geld versprochen. Aber wissen Sie denn, ob er sein Versprechen halten wird?«

 

Mr. Hollin wurde unruhig.

 

»Er dürfte es nicht wagen –«, begann er.

 

»Sind Sie Ihrer Sache so sicher?« unterbrach Cynthia ihn und zog die Augenbrauen in die Höhe. »Was hindert die Leute denn, Sie beiseite zu schaffen, bevor die Jacht nach Südamerika kommt? Das ist doch furchtbar einfach. In irgendeiner dunklen Nacht – Sie verstehen mich doch, Mr. Hollin, ich möchte Sie nicht unnötig erschrecken. Aber ich fühle, daß es meine Pflicht ist, Sie darauf aufmerksam zu machen, mit welchen Leuten Sie sich eingelassen haben. Wer legt denen denn etwas in den Weg, Sie über den Haufen zu schießen und über Bord zu werfen? John würde sich keinen Augenblick besinnen, das zu tun – ein Mann mit diesem Vorleben …«

 

Hollin hatte nicht die geringste Ahnung, welches Vorleben John geführt hatte, aber er erinnerte sich jetzt daran, daß ihm John eines Abends furchtbar gedroht hatte, und er grübelte darüber nach.

 

»Sie kommen jetzt zurück«, sagte Cynthia leise. »Wenn wir erst wieder an Bord der ›Polyantha‹ sind, dann möchte ich einmal mit Ihnen sprechen.«

 

Hollin nickte.

 

Als John aus dem hellen Licht wieder in die dunkle Höhle trat, konnte er zuerst nicht sehen, daß sich die Dorbans in der Nähe von Hollin aufgehalten hatten und sich nun eilig auf den ihnen zugewiesenen Platz zurückzogen.

 

Am frühen Nachmittag nahm er Penelope beiseite.

 

»Ich werde mich jetzt hinten schlafen legen, denn ich muß in der Nacht ganz wach sein. Ich möchte Sie bitten, sich an den Eingang zu setzen und mich zu rufen, wenn irgend etwas passieren sollte. Verstehen Sie mit einer Pistole umzugehen?«

 

»Ich habe schon verschiedentlich geschossen«, sagte sie lächelnd, »aber ich fürchte, ich kann nicht gut zielen.«

 

»Sehen Sie mich jetzt nicht an«, sprach er in seinem gewöhnlichen Ton weiter. »Ich werde eine kleine Pistole in Ihre Manteltasche stecken. Fühlen Sie sie?«

 

»Ja, sie ist sehr schwer. Was soll ich denn damit tun?«

 

»Schießen Sie ruhig«, erwiderte er gelassen, »sobald es nötig ist. Ich glaube nicht, daß die Dorbans irgend etwas unternehmen werden, aber man kann ihnen nie trauen. Wenn jemand die Höhle verlassen will, rufen Sie.«

 

John hatte kaum eine halbe Stunde geschlafen, als Mr. Hollin aufstand. Er hatte die Hände in die Hosentaschen gesteckt und schlenderte dem Ausgang zu.

 

»Sie dürfen nicht hinausgehen!« rief Penelope in gebieterischem Ton.

 

Er drehte sich um.

 

»Ich lasse mir von einer Frau nichts befehlen«, sagte er verächtlich. Als er aber sah, daß sie sich der inneren Höhle zuwandte, fuhr er hastig fort: »Machen Sie keinen Lärm, es ist doch nur ein Spaß gewesen.« Mit diesen Worten ging er wieder zurück.

 

Um fünf Uhr kochte Penelope Tee auf dem Spirituskocher und brachte auch John eine Tasse. Sie war nun durch die Umstände zu seiner Gehilfin geworden und empfand eine gewisse Genugtuung darüber, daß die anderen sich gegen sie zusammenschlossen.

 

Um sieben Uhr abends stieg die Flut wieder, und nach zehn watete John erneut hinaus.

 

»Von der ›Polyantha‹ ist noch nichts zu sehen«, sagte er, als er zurückkam. »Ich erwarte sie auch kaum vor Mitternacht. Es wird aber nicht einfach sein, bei Flut an Bord zu kommen.«

 

Während der Nacht lösten sich John und Penelope im Wachen ab. Er hatte die Kopfhörer umgelegt, und sie hielt die lange Stange, an der die Antenne hing. Als der Morgen zu dämmern begann, fing er eine Nachricht auf. ›Nicht in dieser Nacht, John.‹

 

In Zwischenräumen von zehn Minuten wurde die Botschaft wiederholt, und er glaubte, Bobbys Stimme zu erkennen.

 

»Dann müssen wir also noch einen Tag hierbleiben«, seufzte John. »Nun müssen Sie aber schlafen. Die kleine Höhle, die ich für Sie bestimmt habe, ist ganz nett. Kommen Sie nur mit.«

 

Sie gingen zusammen hinein, aber plötzlich hob er warnend den Finger. Er hatte das taktmäßige Geräusch von Rudern gehört, und jetzt vernahm sie es auch.

 

»Ist das …?« flüsterte sie.

 

»Nein – sie wollten das Motorboot herschicken. Warten Sie!«

 

Er ging auf die Plattform zurück. Sie sah ihn nur undeutlich in dem Licht des Morgengrauens, das zur Höhle hereindämmerte, und folgte ihm. Er schien sie auch erwartet zu haben, denn er machte ihr Platz.

 

Plötzlich hörten sie draußen eine Stimme.

 

»Hier müssen sie sein. Hier in der Nähe muß die Höhle liegen, in der er als Junge immer gespielt hat.«

 

»Das war Spinner – ein englischer Kriminalbeamter«, flüsterte er ihr zu.

 

»Wenn er hier ist, Inspektor, dann sind auch meine beiden Freunde hier, Mr. und Mrs. Dorban«, sagte ein anderer.

 

Sie sah, daß John plötzlich ungeheuer erregt wurde und dem Ausgang der Höhle zustürzen wollte. Instinktiv riß sie ihn zurück.

 

»Was wollen Sie denn tun?« fragte sie kaum hörbar, aber ihre Stimme zitterte.

 

»Ich will den Kerl packen, der eben gesprochen hat«, stieß John wütend zwischen den Zähnen hervor.

 

»Sie sind außer sich!« sagte sie verzweifelt. »Ich kenne diesen Mann. Er heißt Whiplow!«