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Tom Feeney kam von Indianapolis zurück, mehr beunruhigt als rachgierig. Wenn er auch über den wilden Schmerzausbruch erschrak, mit dem ihn seine Schwester empfing, so betrachtete er doch die Lage hauptsächlich vom geschäftlichen Standpunkt aus.

 

»Spike ist nicht zurückgekommen«, teilte ihm seine Schwester als letzte Hiobsbotschaft mit.

 

»Kein Wunder! Es war heller Wahnsinn, die drei Leute auf O’Hara und Jimmy zu hetzen. Perelli hat doch nichts anderes erwartet!« Er benützte die Gelegenheit, ihr einen Beweis seiner besseren Taktik zu geben. »Es gibt nur einen Weg, mit Tony fertig zu werden. Und den kenne ich.«

 

Verärgert und müde ließ er sich in einen Sessel fallen. Neben allem anderen fürchtete er für sein eigenes Leben. Verdrossen überlegte er sich, welche Verbindungen er zu Perellis Bande hatte.

 

Angelo …?

 

Er stand nicht schlecht mit diesem Mann, der schon früher versucht hatte, eine Interessengemeinschaft der beiden Banden auf die Beine zu stellen. Tom beabsichtigte, dieses Jahr seinen Geburtstag mit einem großen Fest bei Bellini zu feiern, und Angelo hatte schon halb und halb versprochen, daß an diesem Tag Waffenstillstand herrschen solle. Perelli wollte sogar selbst zur Feier erscheinen, um sich bei dieser Gelegenheit mit seinem Rivalen einmal auszusprechen.

 

Feeneys Lage war schwierig. Es gab niemand, der Shauns Platz hätte einnehmen können. Viele Dinge mußten jetzt überlegt werden, und sein eigenes Leben hing von den Entscheidungen ab, die er traf.

 

*

 

Tony Perelli frühstückte an diesem Tag erst sehr spät, und die Sonne stand schon hoch am Himmel, als er am Klavier saß und spielte. Minn Lee hatte sich in seiner Nähe auf einen Schemel gesetzt und machte mikroskopisch kleine Stiche an einer wunderschönen Drachenstickerei, an der sie schon arbeitete, seitdem sie bei Tony wohnte.

 

Plötzlich hörte er auf zu spielen und schwang sich auf dem Klavierstuhl zu ihr herum.

 

»Hat es dir gefallen?«

 

Sie nickte.

 

Er gab sehr viel auf ihr Urteil, denn er kannte niemand, der seiner Musik so hingebungsvoll zuzuhören verstand wie Minn Lee.

 

»Das war Gounod. Schade, daß der Kerl kein Italiener war. Aber etwas von Italien hat er doch abbekommen. Er wurde nämlich in Rom erzogen. Hast du geglaubt, daß ich das weiß?«

 

Sie sah ihn mit ihrem freundlichen, unergründlichen Lächeln an.

 

»Du weißt alles, Tony.«

 

Er strahlte. Minn Lee war der einzige Mensch auf der Welt, der ihn in eine so vergnügte Stimmung versetzen konnte.

 

»Wenn es sich um Musik handelt, dann stimmt das«, sagte er. »Wäre ich bei Cosmolino geblieben, so wäre vielleicht doch noch ein tüchtiger Geiger aus mir geworden.«

 

Für Lob war Perelli außerordentlich empfänglich. Ein Psychiater hätte bei ihm leicht festgestellt, daß er an ganz ausgeprägten Minderwertigkeitskomplexen litt. Zum Teil war daraus auch seine merkwürdige Laufbahn zu erklären, die ihn in der Unterwelt immer höher geführt hatte, weil die Antriebsfeder seines Ehrgeizes ihn nicht zur Ruhe kommen ließ. Ein Beweis dafür war die Tatsache, daß er einmal jemand niedergeschossen hatte, weil der Betreffende seine literarischen Kenntnisse in Zweifel gezogen hatte.

 

Es klopfte, und Angelo Verona trat ein. Er war nicht in der besten Laune und sah müde aus; schon seit aller Frühe war er unterwegs gewesen, um neue Lieferungen in Empfang zu nehmen, die während der Nacht angekommen waren.

 

Nachlässig warf er Mantel und Handschuhe auf einen Sessel und zog mehrere Papiere aus der Tasche. Dann schaute er fragend auf Minn Lee.

 

Tony gab ihr einen Wink.

 

»Geh auf dein Zimmer. In einer halben Stunde kannst du wieder herunterkommen.«

 

An der Tür drehte sie sich um. Hatte er sein Versprechen vergessen?

 

»Du sagtest doch, daß du nachher mit mir ausgehen würdest …?«

 

»Ich sagte, daß du nachher wieder herunterkommen sollst!« entgegnete er barsch. »Kannst du nicht hören, wenn ich etwas sage?«

 

Auch das war Tony – der Tony, den sie nur halb verstand. Sie lächelte wieder, öffnete gehorsam die Tür und verschwand.

 

»Nun, was gibt’s?« fragte Perelli.

 

Angelo berichtete kurz über Menge und Qualität der zuletzt angekommenen Alkoholsendung. Er legte Perelli eine Liste vor, in der die Ausgaben – Bestechungsgelder, Geschäftsunkosten und sonstiges – genau aufgeführt waren.

 

Tony warf einen Blick darauf, gab sie Angelo zurück und schlenderte dann zum Klavier.

 

»Sei vorsichtig«, warnte er noch. »Paß auf, daß Feeney uns nicht die ganze Sendung wegschnappt!«

 

Angelo lächelte und machte eine wegwerfende Geste. Er war fest davon überzeugt, daß Feeneys Organisation sich nicht mehr von dem Schlag erholen würde, den ihr der Tod von Shaun und Spike zugefügt hatte.

 

Tony hatte sich inzwischen vor das Klavier gesetzt, spielte aber nicht, sondern sah nur in Gedanken versunken vor sich hin. Nach einiger Zeit riß ihn Angelo aus seinen Grübeleien.

 

»O’Hara redet zuviel – findest du nicht auch?«

 

Tony schaute gleichgültig hoch.

 

»Er ist ein Ire – da kann man wenig machen.«

 

Angelo ärgerte sich über diese Interesselosigkeit und wollte Perelli ein wenig aufrütteln.

 

»Er hat übrigens ein sehr hübsches Mädchen«, warf er hin.

 

Wie erwartet, biß Tony an.

 

»Wußte ich gar nicht«, entgegnete er interessiert.

 

Angelo seufzte. Es tat ihm schon wieder leid, daß er Tonys schwachen Punkt berührt hatte. Angelo selbst machte sich im allgemeinen wenig aus Frauen: Nur Minn Lee war eine Ausnahme. Sie gefiel ihm so gut, daß er sich oft über sich selbst wunderte.

 

»Laß doch, Tony«, sagte er unwirsch. »Kannst du denn nie genug kriegen?«

 

Aber Tony Perelli war jetzt schon in Fahrt.

 

»Ist sie wirklich so hübsch? Wie kommt denn dieser O’Hara zu einem netten Mädel? Der Kerl ist doch fett, dumm und hat ein entsetzliches Mundwerk.«

 

»Wenn du schon wieder so anfängst, kann mir Minn Lee nur leid tun«, sagte Angelo und sah auf seine Uhr. »Übrigens wird O’Hara bald hier sein, ich habe ihn heute morgen schon angerufen. Spike versuchte, ihn in der vergangenen Nacht in seiner Wohnung zu sprechen. Bin froh, daß der Kerl erledigt ist.«

 

Tony zuckte die Achseln und drehte sich zum Klavier um. Gleich darauf verließ Angelo das Zimmer.

 

Fünf Minuten später schrillte eine Klingel, und einen Augenblick später hörte Tony eine laute Stimme. Er schüttelte den Kopf. Dieser Con O’Hara war doch ein ungehobelter Bursche. Eigentlich unverschämt, daß er ein nettes Mädchen besaß, für das sich Tony selbst bereits interessierte.

 

Con trat ein – glattrasiert, tadellos gekleidet und in bester Stimmung. Als er Tony am Klavier sitzen sah, schnitt er eine ironische Grimasse; großen Respekt hatte er vor seinem Chef sowieso nie gehabt.

 

Tony betrachtete ihn von oben bis unten. Er hatte schon verschiedene Zeitungen gelesen und in jeder denselben Bericht gefunden. Es war wirklich Grund genug vorhanden, sich über Con zu ärgern.

 

Con machte es sich inzwischen in einem Sessel gemütlich und wollte sich gerade eine Zigarette anzünden, als ihm Perelli einen Stoß Zeitungen hinwarf.

 

»Lesen Sie – gleich hier oben auf der ersten Seite.«

 

Con las murmelnd und mit ziemlicher Mühe – er hatte es auf der Schule nicht besonders weit gebracht:

 

»Shaun O’Donnell, Alkoholschmuggler, wird von einem anderen Gangster erledigt. Der Personalchef Tom Feeneys nach Kommissar Kellys Meinung in den Tod geschickt!« Con lachte laut. »In den Tod geschickt – glänzend! Da wird Feeney vor Wut verrückt werden!«

 

Tony nickte.

 

»Weiter, weiter«, drängte er, »wenn Sie lesen können.«

 

O’Hara sah ihn wütend an, nahm die Zeitung wieder auf und buchstabierte: »›Um zwölf Uhr gestern abend hörte der Polizeibeamte Ryan Schüsse, lief sofort zu der Stelle und fand Shaun O’Donnell. Man hatte auf ihn geschossen …‹ Na, zum Donnerwetter, das muß ich ja schließlich selbst am besten wissen. Immerhin war ich mit dabei.«

 

Tony lächelte.

 

»Eben – deshalb ist die Sache ja gerade so interessant für mich.«

 

Con verzog verächtlich den Mund.

 

»Der Junge hat ein- oder zweimal auf ihn geschossen – selbstverständlich daneben. Ich war schon aus dem Wagen, bevor er den ersten Schuß abgegeben hatte, und machte nicht viel Federlesens. Bevor ein Polizist in Sicht kam, waren wir längst abgebraust.«

 

Perelli lächelte wieder.

 

»Das wäre ja alles ganz schön – aber war Shaun denn tot?«

 

»Und ob er tot war! Sie wissen doch, wenn ich jemand vor die Mündung bekomme, dann ist es aus mit ihm.«

 

Perelli lehnte sich mit aufreizender Nachlässigkeit in seinem Sessel zurück.

 

»Er hat aber noch gelebt, als man ihn fand!«

 

Einige Sekunden lang herrschte peinliches Schweigen.

 

»Wie ist das möglich …?« fragte Con dann bestürzt.

 

»Er lebte«, wiederholte Tony, »und wurde noch lebend ins Krankenhaus eingeliefert. Kelly war natürlich bei ihm und hat ihn bis zur letzten Sekunde ausgefragt!«

 

Das war eine bittere Pille für Con O’Hara. Tony warf ihm Unfähigkeit auf einem Gebiet vor, auf dem er sich doch völlig sicher fühlte. Schließlich konnte er nur deswegen ein verhältnismäßig luxuriöses Leben führen, weil er als Spezialist für Fälle galt, in denen es auf einen sicheren Schuß ankam.

 

Tony streifte ihn mit einem merkwürdigen Seitenblick.

 

»Sie kommen von New York zu mir und geben sich für einen großartigen Pistolenschützen aus. Den ganzen Tag höre ich: ›In New York machen wir das so – nicht so.‹ Und den ersten ganz einfachen kleinen Auftrag, den ich Sie hier erledigen lasse, verpatzen Sie natürlich!«

 

O’Hara brauste auf. »Immerhin ist er inzwischen ja gestorben!« entgegnete er ärgerlich.

 

»Sicher. Jeder muß einmal sterben. Aber wenn ich einen Mann um die Ecke bringen lassen will, soll er nicht an Altersschwäche krepieren! Das ist alles.«

 

»Hören Sie mal …«

 

»Das ist alles«, wiederholte Perelli scharf und schnitt damit jede weitere Entschuldigung ab. »Die Sache interessiert mich nicht mehr – dafür aber ganz bestimmt Tom Feeney. Ich erwarte ihn schön den ganzen Vormittag.«

 

Während er noch sprach, klingelte das Telefon. Tony nahm den Hörer ab.

 

Tom Feeney war am Apparat. Er konnte vor Wut nur unzusammenhängend sprechen und schrie so laut, daß man ihn kaum verstehen konnte. Wahrscheinlich stand Mrs. O’Donnell neben ihm.

 

»Reden Sie doch nicht so unflätig, Mr. Feeney«, sagte Tony, nachdem er sich grinsend einige Zeit das Geschimpfe angehört hatte. »Ich weiß doch nichts von Shaun O’Donnell. In der Zeitung können Sie lesen, daß Sie selbst ihn in den Tod geschickt haben … Alter Freund, Sie quatschen mir zuviel. Wie ich Ihnen bereits sagte, habe ich keine Ahnung von dieser Sache … Was faseln Sie da – O’Hara? Aber Mann, Sie sind ja verrückt!«

 

»Sagen Sie ihm …«, begann Con, aber Tony warf ihm nur einen vernichtenden Blick zu.

 

»Der Kerl aus New York ist ein Esel – ich glaube kaum, daß er eine Katze aus nächster Nähe treffen kann. Der gehört auch zu denen, die mit dem Maul wunderbar schießen. Aber jetzt hören Sie mal zu, Tom!« Seine Stimme war hart geworden. »Sie und Ihre Bande machen sich in letzter Zeit ein wenig zu mausig. Shaun war der Kerl, der vor einigen Tagen eine meiner Kneipen hat auffliegen lassen und mir eine Ladung vom besten Stoff gestohlen hat. Ich will keine Unannehmlichkeiten, das habe ich Ihnen schon öfters gesagt. Sie ruinieren das ganze Geschäft, wenn Sie so weitermachen … Wie, ich soll mich mit Ihnen an der Ecke der Michigan Avenue treffen? Anschließend würde ich dann wohl auf einem Beerdigungsinstitut landen? Sie halten mich wirklich für naiv! Warum kommen Sie nicht in meine Wohnung, wenn Sie mir was zu sagen haben?«

 

Con, der aufmerksam zugehört hatte, wurde ganz aufgeregt.

 

»Trauen Sie Feeney nicht …«, mischte er sich ein, aber Tony winkte ungeduldig ab.

 

»Schon gut, schon gut, ich werde Sie also treffen – gegenüber dem Haus der Tribüne. Natürlich will ich mit Ihnen verhandeln. Wenn alles klappt, kommen wir anschließend hierher, und zwar ohne Schießeisen. Gut. Also um elf.«

 

Er legte den Hörer auf und klingelte.

 

»Aber so hören Sie doch, ich muß Ihnen etwas sagen«, begann Con wieder, als Angelo eilig eintrat.

 

»Ich habe eine Verabredung mit Feeney«, sagte Perelli kurz auf italienisch. »Sorge für die nötige Begleitung.«

 

»Feeney?« Angelo sah erstaunt aus.

 

»Mach doch kein so dummes Gesicht«, erwiderte Perelli ungeduldig. »Vorwärts, los! Ich muß den Mann unbedingt sprechen. Heute gibt es keinen Überfall – morgen oder übermorgen vielleicht, aber nicht heute. Die Unterhaltung verspricht auf jeden Fall interessant zu werden.«