26

 

Mr. Cardew hatte einen Entschluß gefaßt. Er wollte sein Haus abschließen, seine Diener entlassen und entweder eine Wohnung in der Stadt mieten oder den Rest des Sommers auswärts zubringen.

 

»Das scheint mir eine sehr gute Idee zu sein; Sie können nicht schnell genug gehen«, meinte Super, als er es ihm erzählte. »Ich glaube, es wäre das beste, wenn Sie schon heute abend das Haus verließen.«

 

»Ich glaube nicht, daß ich schon heute abend fort kann, ich habe noch zu packen …«

 

»Ich werde Ihnen mehrere Leute zur Verfügung stellen, die Ihnen helfen können«, entgegnete Super.

 

»Ich will diese Nacht noch hier bleiben«, entschied sich der Anwalt, nachdem er eine Weile überlegt hatte. »Vielleicht speisen Sie heute mit mir zu Abend?«

 

»Das kann ich leider nicht, ich erwarte einen meiner Freunde.«

 

»Bringen Sie ihn doch mit.«

 

Super zögerte.

 

»Ich glaube, das ist nichts für Sie. Der Mann ist nicht gerade sehr vornehm, aber ich bewundere ihn doch. Er streitet sich nicht mit mir herum, er ist auch nicht schlau, und wenn jemand sich nicht mit mir herumzankt und nicht schlau ist, dann ist er nach meinem Herzen.«

 

»Super, ich habe Sie noch nicht um Ihre Ansicht über all diese schrecklichen Dinge gebeten, die sich hier in unserer nächsten Nachbarschaft ereignet und Menschen betroffen haben, die wir gut kennen. Ich möchte Sie heute abend fragen. Bringen Sie doch Ihren Freund auf alle Fälle mit. Mr. Ferraby hat auch versprochen, zu erscheinen.«

 

»Kommt die junge Dame auch?« fragte Super.

 

»Nein, sie wird den Abend mit ihrem Vater verbringen. Wir haben einen Raum für sie in dem Krankenhaus besorgt, so daß sie gleich bei ihm sein kann.«

 

Super nickte.

 

»Sie fragen mich, ob ich mir irgendwelche definitiven Ansichten gebildet habe? Ich habe es getan, und ich habe es auch nicht getan. Ich habe meine bestimmten Ansichten, aber ich habe noch keine Beweise dafür. Und ich kann keine Beweise bekommen, ohne die Beweggründe zu kennen. Denn es ist doch ganz klar, daß dieser Großfuß nicht im Lande herumgeht und die Leute tötet, bloß weil er sie morden will. Das existiert nur in Schauergeschichten und auch nur in den allerschlechtesten. Er versucht auch nicht, junge Mädchen zu erdrosseln, damit der Schreck ihrem Vater wieder den Verstand rauben soll, nur weil er gerne mordet. Wenn man erst anfängt zu lügen, ist man auch gezwungen, das Netz immer weiter zu weben.«

 

»Sie meinen betrügen«, verbesserte ihn Cardew mit einem schwachen Lächeln.

 

»Das ist dasselbe«, sagte Super ungeduldig. »Lügen ist Betrügen, und Betrügen ist Lügen. Das ist ja gerade das, was dem armen Kerl, dem Großfuß, passierte. Er fing an zu betrügen und mußte weiter betrügen. Und jedesmal, wenn es schien, daß jemand sein Geheimnis erraten könnte, zog er seine kleine Pistole heraus, und es war zu Ende mit dem Jemand. Es gibt keine Mörder aus Sport, wie ich sie bezeichnen möchte, ausgenommen die wahnsinnigen. Ein Mann begeht einen Mord aus demselben Grund, wie ein Junge seinen Hals wäscht, weil es eben keinen anderen Weg gibt, der Gesellschaft anzugehören. Und hinter all diesen Verbrechen steht ein Wunsch. Ein schönes Heim, Autos, Soupers mit Champagner und Tänzerinnen und allem, was das Leben begehrenswert macht. Ich kenne einen Mann, der seine Frau vergiftete, weil sie ihn zu Hause nicht rauchen lassen wollte – das ist eine Tatsache. Sehen Sie sich den Fall Armstrong an und lesen Sie den Beweis. Und ich kenne einen anderen Mann, der seinen Bruder umbrachte, weil er Geld brauchte, um wetten zu können. Mord ist das einzige Verbrechen, das die Leute niemals aus sich selbst heraus begehen. Hier fängt man sie. Es ist leicht, einen Mord zu verbergen, aber es ist schwer, die kleinen Verbrechen wegzuräumen, die zu dem Mord führen. Ferraby kommt?«

 

»Ja«, nickte Cardew.

 

»Das ist schön.«

 

»Ich wollte Sie noch etwas fragen, Oberinspektor«, sagte Cardew plötzlich. »Mein Gärtner sagt, daß Sie die Spuren einer Leiter so tief im Gras gefunden haben, daß man sie nicht übersehen konnte.«

 

»Es stand eine Leiter auf der Rückseite des Hauses«, sagte Super vorsichtig. »Ich brachte sie vor Tagesanbruch weg, weil ich niemand damit erschrecken wollte. Ich weiß nicht, woher sie kam, da keine Ihrer Leitern so groß ist. Ich werde Nachforschungen darüber anstellen. Und wegen meines Freundes, Mr. Cardew – er ist wie ich, er wird kein Messer vom andern unterscheiden können, und er wird die Speisen verschütten und die Gläser umkippen. Auch ist er nicht gesprächig.«

 

»Sie tun Ihr Bestes, um mich davon abzuhalten, ihn einzuladen«, lachte der Anwalt. »Aber Sie können ihn mitbringen, ich werde mich freuen, ihn zu sehen.«

 

»Er heißt Wells«, sagte Super abwesend. Er schien auf weitere Fragen gefaßt zu sein, aber Mr. Cardew war offenbar nicht neugierig.

 

Plötzlich schlug sich Minter mit einem ärgerlichen Ausruf auf den Schenkel.

 

»Daß ich das vergessen konnte! Ich lud doch meinen Sergeanten Lattimer auch ein, ihn kennenzulernen!«

 

»Bringen Sie Lattimer auch mit«, sagte der andere freundlich. »Lattimer wird wenigstens wissen, wie man mit Messer und Gabel umgeht. Es kam mir immer so vor, als ob er eine gute Erziehung genossen hat … vielleicht eine zu gute …«, fügte er zögernd hinzu.

 

»Meinetwegen«, brummte Super. »Aber er ist nicht zu gut für die Polizei, Mr. Cardew. Er wird einer der kommenden Männer sein. Er versteht etwas von Anthropologie, und das hat mich sehr verwundert. – Wieviel Zehen hat eigentlich ein Pferd? Lattimer weiß es. Er kann Ihnen auch sagen, welcher Unterschied zwischen den Spuren von Revolverschüssen und vorzeitigen Dynamitexplosionen besteht.«

 

»Oberinspektor, Sie haben mich zum besten! Das kann ich Ihnen nicht gestatten«, sagte Cardew gut gelaunt.

 

Er bestand darauf, am Nachmittag in die Stadt zu gehen, und erklärte sich nur widerwillig damit einverstanden, daß Super ihm einen Polizisten als Begleitung mitgab, der vor dem kleinen Büro in King’s Bench Walk Posten stand, während Mr. Cardew ohne Unterstützung seiner Sekretärin seine Geschäfte besorgte.

 

Er hatte viele Briefe zu schreiben, fand aber doch auch Zeit, nach dem Krankenhaus zu telefonieren und sich dort zu erkundigen. Elfa kam an den Apparat.

 

»Wie fühlen Sie sich?«

 

»Furchtbar müde«, sagte sie. »Ich hatte mich eben hingelegt, als ich hörte, daß Sie anriefen. Sind Sie in der Stadt, Mr. Cardew?«

 

»Ja, ich bin für eine Stunde in meinem Büro, gehe aber abends wieder nach Barley Stack zurück. Morgen werde ich mein Haus zuschließen und für einen oder zwei Monate in London sein. Das bedeutet, fürchte ich, daß unsere Zusammenarbeit nun beendet ist, und ich habe mir erlaubt, Ihnen einen Scheck statt einer Kündigung zu senden. Sie erinnern sich an den nächtlichen Einbruch, der in diesem Büro gemacht wurde? Mir kommt es so vor, als ob das schon ein Jahr her sei.«

 

»Es war aber erst letzte Woche«, sagte das Mädchen.

 

»Ich habe meine ganzen Papiere durchgesehen und weiß nun, was gestohlen wurde und warum es entwendet wurde. Selbst Super wird die Wichtigkeit meiner Entdeckung nicht anzweifeln.«

 

»Aus welchem Grund wurde denn der Einbruch verübt?« fragte sie neugierig. Aber er antwortete ihr nicht auf diese Frage. Als sie in ihren kleinen Raum zurückging, dachte sie bei sich, daß Mr. Cardew zu argwöhnisch sei, ihr seine Entdeckung mitzuteilen, weil er fürchtete, daß sie mit Super darüber sprechen könnte.

 

Cardew trat wieder auf die Straße, warf seine Briefe in einen Kasten, winkte dem Beamten, der ihn begleitete, und stieg wieder in das Auto ein. Er sah nicht, daß Lattimer ihn beobachtete. Aber der Sergeant hatte sowohl seine Ankunft wie seine Abfahrt gesehen und folgte ihm jetzt auch nach Barley Stack. Er saß in einem kleinen Wagen und fuhr so dicht hinter Mr. Cardew her, daß dieser ihn hätte sehen müssen, wenn er sich nur einmal umgedreht hätte.

 

Lattimer hielt nicht vor dem Haus, sondern fuhr etwas weiter und verbarg sein Auto in einem Kornfeld. Erst dann stieg er aus, kam zur Straße zurück und nahm Cardews Spur wieder auf.

 

Er ging sorglos über den Rasen, und der Polizeibeamte, der den Anwalt zur Stadt begleitet hatte, rief ihm vergnügt einen Gruß zu.

 

»Super hat nach Ihnen gefragt, Sergeant.«

 

»Ich war immer in der Nähe«, sagte der andere. »Sie können jetzt gehen.«

 

Er holte sich einen Stuhl und setzte sich in den Schatten eines Maulbeerbaumes. Mr. Cardew sah ihn von dem Fenster seines Arbeitszimmers aus sitzen und schickte ihm eine Kiste Zigarren hinaus. Sergeant Lattimer lächelte und winkte dankend zum Fenster hinauf. Er schien sich über etwas sehr zu freuen.