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Mr. Gordon Cardew war ein Leser, der alles verschlang. Er hatte mehr Bücher gelesen, als die Bibliothek eines durchschnittlichen Gentleman überhaupt enthält, nachdem er sich von seiner Praxis zurückgezogen hatte. Es war seine Gewohnheit, ein Buch mit zu Bett zu nehmen, denn er konnte nicht gut schlafen. Und um sich die frühen Morgenstunden zu vertreiben, begann er seine Lektüre dort, wo er am Abend vorher aufgehört hatte. Seit Jahren waren seine Studien ausschließlich der Wissenschaft gewidmet. Wenn man dies Super gegenüber nur erwähnte, so konnte man sicher sein, Hohn und Spott zu ernten. Anthropologie kann aber ein sehr anregendes Studium sein, und die trockenen Akten toter Verbrecher sind oft anziehender und aufregender als irgendein moderner Roman. Cardew entdeckte, daß kein Tag verging, an dem er nicht seine Kenntnisse vergrößerte und seinen Überblick über die Kriminalistik erweiterte.

 

Er lag noch zu Bett und las in Mantegazzas wohlgemeintem, aber vollkommen verkehrtem Traktat über Physiognomik. Seine Aufmerksamkeit war geteilt zwischen den Theorien dieses großen Kriminologen und der voraussichtlichen Fortführung der Leichenschauverhandlung, als das Dienstmädchen hereinkam und ihm den Morgentee brachte. Sie stellte ihn auf den Tisch an seinem Bett.

 

»Mr. Minter ist da, Sir.«

 

»Minter?« sagte Cardew und sprang auf. »Wieviel Uhr haben wir denn?«

 

»Halb acht Uhr, Sir.«

 

»Minter um diese Zeit? Sagen Sie ihm, daß ich in ein paar Minuten komme.«

 

Er schlüpfte schnell in seinen Schlafrock, zog Pantoffeln an, nahm seine Teetasse mit und ging die Treppe hinunter. Er fand Super in der Halle steif auf einem Stuhl sitzen.

 

»Ich habe einen Kerl in der Zelle sitzen, der Sullivan heißt«, erklärte er, indem er direkt auf seine Angelegenheit zu sprechen kam. »Ich vermute, daß Sie sich nicht an ihn erinnern. Er versuchte, in Elsons Haus einzubrechen …«

 

»Oh, ich erinnere mich sehr genau an die näheren Umstände. Er war doch der Mann, gegen den Mr. Ferraby Anklage erhob.«

 

»Deshalb kam er ja auch frei«, sagte Super unliebenswürdig. »Er wurde gestern abend wieder eingeliefert. Ich brauche Ihnen wohl nicht zu erzählen, daß ich darüber sehr beunruhigt bin, Mr. Cardew. Und ich wäre auch nicht hierhergekommen, denn um ehrlich zu sein – ich halte nichts von Ihren Theorien über Anthropologie und so weiter. Aber Sie sind ein Anwalt, und ich bin ein unwissender, alter Mann. Ich habe den Eindruck, daß dieser Mensch irgend etwas vor mir geheimhält und daß er mehr weiß, als er mir sagen will. Ich habe alle möglichen Methoden angewandt, um ihn zum Reden zu bringen, aber er kommt nicht heraus mit der Sprache und verrät das nicht, was ich brauche. Ich habe mich immer von Ihren Ideen und Mitteilungen ferngehalten, weil ich ein altmodischer Polizeibeamter mit altmodischen Methoden bin. Vergrößerungsgläser und Chopinsche Sonaten haben in meinem Leben nichts bedeutet. Aber ich bin ein aufgeschlossener Mann und habe niemals aufgehört weiterzulernen.«

 

Er machte eine Pause und schien zu warten, was Mr. Cardew darauf sagte.

 

»Gut, was soll ich tun?«

 

»Sie sind Anwalt«, sagte Super mürrisch. »Sie sind gewöhnt, mit solchen Burschen umzugehen und sie zu vernehmen …«

 

»Sie wollen, daß ich ein Kreuzverhör mit ihm anstelle? Aber das ist doch sehr ungewöhnlich. Warum nehmen Sie nicht Mr. Ferraby?«

 

»Er klagte Sullivan an, und Sullivan wurde freigesprochen«, sagte Super verächtlich. »Natürlich brauchen Sie nicht zu kommen, es war nur ein Gedanke von mir. Er kam mir um Mitternacht«, fügte er hinzu. »Es ist sonderbar, wie einem die Gedanken mitten in der Nacht kommen.«

 

»Ganz richtig«, sagte Mr. Cardew eifrig. »Wenn Sie sich erinnern – ich fand meine Theorie über den Mord um zwei Uhr morgens.«

 

»Ich besinne mich nicht auf die genaue Zeit, aber es wird schon so gewesen sein.«

 

Mr. Cardew überlegte. »Gut«, sagte er dann. »Wenn Sie es nicht für unpassend halten, daß ich den Mann ausfrage, will ich kommen. Aber ich warne Sie, ich bin in der kriminellen Praxis nicht erfahren.«

 

Super machte kein Hehl aus seiner Erleichterung.

 

»Ich lag im Bett und ärgerte mich über diesen Sullivan – er ist ein richtiger Windhund. Manche mögen denken, ich würde mich nicht herablassen, um Rat zu fragen, aber ich gehöre nicht zu der Sorte. Man kann von jedem lernen!«

 

Er schien sich nicht bewußt zu sein, daß seine Worte nicht sehr dankbar klangen; aber Mr. Cardew war nicht beleidigt.

 

»Nun sagen Sie mir, warum der Mann verhaftet wurde und was Sie herausbringen wollen.«

 

»Versuchter Mord«, sagte Super. »Mitschuldig vor oder bei der Tat.« Als er die Überraschung in dem Gesicht des Anwalts sah, erklärte er ihm kurz den Fall.

 

»Dieser Sullivan nahm einen kleinen Kirschkuchen von einem Fremden am Themseufer. Er sollte ihn mit einem Brief zu dem Botenbüro am Trafalgar Square bringen, und alles sollte in einem Krankenhaus in Weymouth Street abgeliefert werden. In diesem Kuchen war Gift – Akonit. Sullivan sagt, daß er den Mann nicht kenne, der ihm das Paket gab, und er lügt wie ein Hund! Aber so geschickt ich auch bin, ich konnte nichts weiter aus ihm herausbringen.«

 

Mr. Cardew verzog die Lippen.

 

»Ein außergewöhnlicher Fall«, sagte er schließlich. »Sie meinen es ernst … Sie haben mich nicht – zum besten?«

 

»Ich wünschte, ich hätte Sie zum besteh. Nicht, daß ich dazu fähig wäre, aber ich wünschte es wirklich!«

 

Der Rechtsanwalt stützte sein Kinn auf die Hand und schaute nachdenklich drein.

 

»Eine sonderbare Geschichte – sie scheint kaum glaublich im zwanzigsten Jahrhundert – mitten im Zentrum der Zivilisation …«

 

»Und Kultur«, meinte Super, als Cardew eine Pause machte.

 

»Daß sich solche Dinge ereignen können! Nun gut, Super, ich will mit diesem Mann sprechen. Meine geringe Geschicklichkeit steht zu Ihrer Verfügung. Sie bringen ihn nicht irgendwie mit dem Mord in Zusammenhang?«

 

»Sicher und gewiß tue ich das«, sagte Super.

 

Er ging zur Wache zurück und weckte Sullivan auf.

 

»Wach auf, Mensch, deine letzte Stunde auf Erden ist da«, sagte er. »Mut, mein Junge!«

 

Sullivan setzte sich auf der harten Bank auf und rieb sich die Augen.

 

»Wieviel Uhr ist es denn?« fragte er schläfrig.

 

»Zeit ist nichts für dich, du Landstreicher – und wird bald noch weniger sein«, sagte Super ebenso. »Es kommt jetzt ein erstklassiger Anwalt, der wird dein Inneres nach außen kehren. Belüge ihn nicht, mein Junge! Er ist ein Genie an Psychologie und kann in dein schwarzes Herz sehen. Und dann wirst du ihm alles über den Mann sagen, dem du am Ufer begegnet bist … und die Wahrheit!«

 

»Ich kann mich nicht auf den Mann besinnen!« sagte der erschrockene Sullivan. »Ich hätte es Ihnen gesagt, wenn ich mich an ihn erinnert hätte.«

 

Super schüttelte traurig den Kopf.

 

»Ich habe von Schwefel und Feuer gehört und was einem Burschen passiert, der nicht geradeheraus reden kann. Hast du keine Mutter gehabt, die dir etwas beigebracht hat?«

 

»Ich weiß nichts und kann Ihnen also auch nichts sagen«, schrie Sullivan beinahe. »Zum Teufel auch mit Ihrem Anwalt!«

 

»Warte!« warnte Super und drehte den Schlüssel hinter seinem Gefangenen wieder um.

 

Er schlenderte gerade dem Eingang der Wache zu, als er Cardews Limousine die Straße herunterkommen sah. Der Wagen bremste scharf, und der Chauffeur sprang auf den Gehsteig.

 

»Super, kommen Sie …! Mr. Cardew liegt chloroformiert in seinem Zimmer …«

 

»Warum haben Sie denn nicht angerufen?« schrie Super wütend, als er in den Wagen sprang.

 

»Die Drähte sind durchgeschnitten«, sagte der Mann.

 

»Dieser Großfuß denkt an alles«, murmelte Super.

 

*

 

»Ich ging in mein Zimmer zurück und legte mich wieder hin, um über Ihre ungewöhnliche Bitte nachzudenken«, sagte Mr. Cardew. Er sah kreidebleich aus und war wirklich sehr krank.

 

Er lag auf einer Couch, und das Zimmer war von Chloroformgeruch erfüllt.

 

»Ich muß geschlafen haben … ich schlief in der Nacht nicht besonders gut. Ich habe keine Erinnerung, daß etwas geschah, bis mein Diener mich an der Schulter rüttelte. Er kam zufällig in das Zimmer und sah mich mit einem Stück gefalteten Leinen über dem Gesicht liegen. Er muß meinen Feind gestört haben, denn er fand das Fenster weit offen.«

 

Super ging zum Fenster und sah hinaus. Er erblickte etwas Glänzendes auf dem Blumenbeet unmittelbar unter sich, ging die Treppe hinunter ins Freie und hob es auf. Es war eine zerbrochene Flasche mit der Aufschrift: »Cloroformit B.P.« Sie mußte erst kürzlich geöffnet worden sein.

 

Super sah zu dem offenen Fenster hinauf. Es war leicht, sich hier herunterzulassen. Es waren keine Fußspuren auf dem kleinen Blumenbeet unter der Mauer zu sehen, aber wenn jemand von dem Fenster heruntersprang, konnte er leicht das Beet vermeiden und direkt den Kiesweg erreichen.

 

Er sah auf das Schild der Flasche. Es trug in der Ecke die Initialen einer wohlbekannten chemischen Großfirma. Es würde schwierig sein, dadurch etwas herauszubekommen. Der Telefondraht lief hier die Mauer entlang. Er war sauber abgeschnitten.

 

»Dieselbe Zange, die meinen Draht durchschnitt«, sagte Super.

 

Er ging zu dem Anwalt zurück, der sich so weit erholt hatte, daß er in einem Sessel sitzen konnte.

 

»Sie haben niemand auf dem Feld gesehen – wo war denn der Gärtner?«

 

»Er ist heute morgen mit dem Umpflanzen der Töpfe im Schuppen beschäftigt. Ich hörte ein Geräusch, als ich im Bett lag. Aber ich gab nicht weiter darauf acht.«

 

»Das Fenster war offen?«

 

»Halb offen und mit einem Haken befestigt, den man leicht von außen aufheben konnte. Es war weit geöffnet, als mein Diener hereinkam.«

 

Super prüfte das gefaltete Leinen. Obwohl sich Chloroform schnell verflüchtigt, war der Stoff zwischen den Falten noch feucht. Er zog das Kissen weg, auf dem der Kopf des Anwalts gelegen hatte, und schaute dann unter das Bett.

 

Mr. Cardew, der sich krank fühlte, lächelte.

 

»Nein, ich erwarte nicht, ihn hier zu finden«, sagte Super. »Ich hatte die Idee, daß ich – etwas fände. Sie haben Ihnen die Hände nicht zerkratzt?«

 

»Meine Hände zerkratzt? Was in aller Welt?«

 

Super besah sich die Hände des Anwalts Finger um Finger, wie es seine Art war.

 

»Ich dachte, Ihre Hände würden zerkratzt sein.«

 

Er schien enttäuscht zu sein. »Das vernichtet eine meiner Theorien – ich habe immer sehr schnell Theorien. Ich werde Ihnen polizeilichen Schutz geben, Mr. Cardew.«

 

»Sie werden nichts Derartiges tun«, sagte der Anwalt nachdrücklich. »Ich kann mich sehr gut selbst beschützen.«

 

»So sieht es aus«, war alles, was Super sagte.