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Auch Jim genoß nun das Vorrecht, das bis dahin ausschließlich Super gehabt hatte. Elfa Leigh erlaubte ihm, eine halbe Stunde in ihrer kleinen Wohnung zu bleiben und den letzten Bericht über ihren Vater zu hören.

 

»Sie wollten mich über Nacht nicht in dem Krankenhaus lassen«, sagte sie, »und vielleicht ist das auch sehr klug von ihnen. Meinem Vater geht es gut, und er fühlt sich glücklich. Man kann gut mit ihm auskommen. Mir scheint das Ganze wie ein Traum, ein glücklicher, aber auch zu gleicher Zeit ein unglücklicher Traum. Es ist schrecklich, wenn ich an die Jahre denke, in denen er durch das Land wanderte, ohne daß sich jemand um ihn kümmerte.«

 

Jim hatte auch den berühmten Arzt gesprochen; der Tag der Operation war schon festgesetzt. Der Doktor und sein Assistent waren voller Hoffnung, daß das Resultat gut ausfallen werde. Sie hatten ihm eine ganze Anzahl ähnlicher Fälle genannt, in denen vollständige Genesung des Patienten eingetreten war.

 

»Nein, wegen der Operation sorge ich mich gar nicht«, sagte sie ruhig, als er danach fragte. »Ich bin durchaus nicht ängstlich. Die Botschaft tut alles, was nur in ihren Kräften steht. Die Herren waren sehr mitfühlend und freundlich und haben mir sogar eine Summe zur Verfügung gestellt, bis er wiederhergestellt ist, so daß ich tatsächlich nicht gezwungen bin, zu Mr. Cardew zurückzugehen.«

 

»Haben Sie etwas von ihm gehört?«

 

»Ja, er rief mich heute morgen an. Er war außerordentlich liebenswürdig, aber sehr zerfahren. Ich hatte den Eindruck, daß er so sehr von dem Problem der Ermordung der armen Miss Shaw in Anspruch genommen wird, daß er unfähig ist, sich um meine Angelegenheiten zu kümmern. Trotzdem ist er ein lieber Mensch.«

 

»Wer? Cardew?« fragte Jim lächelnd. »Ich kenne zum mindesten einen, der diese Ansicht nicht teilt.«

 

»Super? Natürlich, aber Sie müssen bedenken, daß Super eine Stellung für sich einnimmt. Man kann sich nicht vorstellen, daß er jemals derselben Ansicht ist wie andere Leute. Trotzdem ist auch er ein guter Mensch. Ist er tatsächlich so rauh, wie er sich den Anschein gibt? Er spricht immer so merkwürdig.«

 

»Super ist einer der ältesten Beamten bei der Polizei«, sagte Jim. »Ich weiß noch nicht, ob er sich nur so ungebildet stellt. Er erscheint in so vielen Gestalten und Charakteren, daß es schwer ist, die Wahrheit zu ergründen …«

 

Das Telefon klingelte in dem Augenblick, und Elfa nahm den Hörer ab. Sie runzelte die Stirn.

 

»Nein, ich habe nichts geschickt … gewiß nicht. Bitte, geben Sie es ihm nicht, ich werde sofort hinkommen.«

 

Sie legte den Hörer auf, und ihr Gesicht hatte einen sorgenvollen Ausdruck.

 

»Das kann ich nicht verstehen«, sagte sie. »Die Vorsteherin des Krankenhauses fragte mich, ob ich meinem Vater einen Kirschkuchen geschickt hätte. Natürlich habe ich das nicht getan. Ein Bote hat ihn mit einem kurzen Brief gebracht.«

 

Jim pfiff vor sich hin.

 

»Das klingt ja sehr sonderbar.«

 

Als Elfa schnell in ihrem Zimmer verschwand, um sich anzuziehen, erinnerte er sich an Super und rief ihn an. Glücklicherweise meldete sich der Oberinspektor selbst. Er hörte den Bericht ruhig an.

 

»Sagen Sie ihnen, sie sollen den Kuchen verwahren, bis ich komme. Warten Sie vor dem Krankenhaus auf mich, wenn Sie Miss Leigh wieder heimgebracht haben. Wenn Sie einen jungen Mann dort finden, der Sie beobachtet, so erwähnen Sie nur meinen Namen.«

 

Jim erfuhr so zum erstenmal, daß das Krankenhaus bewacht wurde.

 

Als sie ankamen, wurden sie in das Privatzimmer der Vorsteherin gebeten. Mitten auf dem Tisch stand das verdächtige Backwerk.

 

»Ich wollte es ihm nicht geben, bis ich nicht ganz sicher war, daß Sie es geschickt hatten«, sagte die alte Dame. »Mr. Minter hat mir das sehr genau eingeschärft.«

 

»Sagten Sie nicht auch, daß ein Begleitbrief dabei war?«

 

Die Vorsteherin gab ihnen einen Briefumschlag.

 

»Das ist nicht meine Schrift«, sagte Elfa bei dem ersten Blick auf die Adresse.

 

Auch den Brief hatte sie nicht geschrieben. Es war einfaches, glattes Papier. Ihre Adresse in Cubitt Street war oben links in der Ecke notiert. Das Schreiben enthielt nur die kurze Bitte, den Kuchen ihrem Vater zu geben.

 

»Kennen Sie die Handschrift?« fragte Jim.

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Ich habe sie vorher nie gesehen. Aber warum schickt man denn diesen Kuchen? Will man … Ach, das ist doch ganz unmöglich!«

 

Sie wurde bleich.

 

»Vielleicht hat irgendein wohlmeinender Freund diese Aufmerksamkeit geschickt«, sagte Jim, um sie zu beruhigen.

 

»Aber wer würde denn meinem Vater ein Leid zufügen wollen?« fragte sie und schaute ängstlich auf den unschuldig aussehenden Kuchen.

 

»Was soll ich nun tun?« fragte die alte Dame.

 

»Heben Sie ihn bitte auf«, sagte Jim schnell und tauschte einen Blick mit ihr, indem er verstohlen auf Elfa deutete. Sie verstand. Obgleich er den Vorfall leicht abtat, zweifelte Elfa doch nicht an der wahren Bedeutung.

 

»Ich hörte, wie Sie mit Mr. Minter am Telefon sprachen«, sagte sie zu ihm, als er sie wieder zur Cubitt Street brachte. »Kommt er in die Stadt?«

 

»Er wird dort sein, wenn ich zurückkomme. Sie müssen sich nicht aufregen, Elfa.«

 

Sie hörte die vertrauliche Anrede ganz gut, und es schien ihr sogar recht zu sein, daß er sie Elfa nannte.

 

»So viele Dinge sind mit Vaters Abwesenheit verknüpft, daß ich gar nicht klug daraus werden kann, und so will ich auch gar nicht erst versuchen, alles zu entwirren. Ich werde noch nicht zu Bett gehen. Würden Sie so liebenswürdig sein, mich anzurufen, wenn etwas entdeckt wird?«

 

Mit der Versicherung, dies zu tun, verließ er sie und kehrte zurück, um seinen Posten vor dem Krankenhaus einzunehmen. Wie Super vorausgesagt hatte, kam aus der Dunkelheit der gegenüberliegenden Seite der Straße ein Fremder auf ihn zu, als er sich in einen Torweg gestellt hatte, und fragte ihn ohne weiteres, was er hier suche. Seine Erklärung wurde nicht sofort geglaubt, denn Detektive sind von Natur aus sehr skeptisch. Glücklicherweise hörte man während ihres Disputs einen fürchterlichen Spektakel, ähnlich dem Knattern eines Maschinengewehres, das in unregelmäßigen Zwischenräumen abgefeuert wird. Einige Sekunden später erschien Super auf seiner Feuerfliege.

 

»Ich habe sie in Barnes Common auf eine Geschwindigkeit von achtzig Kilometer gebracht«, sagte er mit innerster Befriedigung, obwohl eine solche Schnelligkeit innerhalb der Stadt gegen die polizeilichen Vorschriften verstieß. »Ein Verkehrsschutzmann versuchte, mich bei der Eisenbahnkreuzung anzuhalten; aber ebensogut hätte er versuchen können, einen Blitz mit den Händen zu fangen.«

 

Er lehnte die Maschine an die Hauswand, dann ging er mit Ferraby ins Haus. Als sie oben waren, wurde der Kuchen gebracht, damit Super ihn ansehen konnte.

 

»Oh, der sieht gut aus. Ich werde ihn mitnehmen, wenn Sie nichts dagegen haben. Können Sie sich auf den Distrikt besinnen, aus dem der Bote mit dem Kuchen kam?«

 

»Ich glaube, es war Trafalgar Square«, sagte die alte Dame.

 

Sie hielten bei der Polizeiwache an, um den Kuchen dort abzugeben. Super hinterließ Instruktionen, ihn in der Frühe des nächsten Morgens in einer versiegelten Kiste zu der staatlichen Untersuchungsstelle zu bringen. Dann machte er sich auf den Weg, den Boten herauszufinden. Jim überredete ihn, seine Spektakelmaschine auf der Wache zu lassen, und sie fuhren in einer Taxe nach Trafalgar Square.

 

Hier hatte Super keine Schwierigkeit, die Angabe der alten Dame bestätigt zu finden. Das Paket mit dem Kuchen war offensichtlich von einem Mann gebracht worden, von dem man keine genaue Beschreibung geben konnte. Anscheinend war er der Bote des wirklichen Absenders.

 

»Irgendein Vagabund, den er auf der Straße für ein paar Groschen aufgelesen hat«, sagte Super. »Wir werden ihn ohne Annoncieren in der Zeitung nicht finden. Und dann ist es außerdem noch wahrscheinlich, daß er sich mit dem natürlichen Instinkt dieser verschlagenen Menschen nicht meldet.«

 

»Es wäre aber doch möglich, daß es kein Verbrecher war.«

 

»Es war ein Landstreicher, und alle Landstreicher sind Verbrecher«, sagte Super, der sich gern in Allgemeinplätzen erging.

 

Er verließ das Botenbüro am Trafalgar Square, trat an den Rand des Bürgersteiges und betrachtete nachdenklich das Nelson-Denkmal.

 

»Ich möchte zu Lattimer gehen. Er ist irgendwo in der Stadt. Das ist der richtige Mann, den ich auf die Spur dieses Vagabunden hetzen kann – er hat einen natürlichen Hang zu Leuten, die nicht arbeiten wollen. Ich werde diese Sache doch Scotland Yard melden müssen. Gerne tue ich es nicht – dieser langnasige Kommissar wird wahrscheinlich einen anderen Mann mit der Sache betrauen und verdirbt mir dann meine ganzen Nachforschungen.«

 

Mit offensichtlichem Widerstreben ging er nach Whitehall hinunter. Als er nach Scotland Yard kam, überzeugte er sich zu seiner größten Genugtuung davon, daß kein höherer Beamter zugegen war, der ihm die Untersuchung aus den Händen hätte nehmen können. Trotzdem konnte er seinen Bericht über die letzte Entwicklung erstatten.

 

Obgleich Jim nur wenig mitzuteilen hatte, berichtete er doch Elfa telefonisch das Resultat seiner Nachforschungen.

 

»Glauben Sie, daß der Kuchen vergiftet war?«

 

»Super ist dessen nicht ganz sicher – wir werden es erst morgen erfahren.«

 

Als er hörte, wie ängstlich sie sprach, tat es ihm leid, daß er überhaupt etwas gesagt hatte.

 

Als er wieder mit Super zusammenkam, machte ihm der geniale Beamte ein merkwürdiges Geständnis.

 

»Ich habe so eine Idee, daß es besser wäre, wenn ich recht bequem zur Wache zurückfahre. Wo ist Ihr alter Autobus?«

 

»Er steht hier in der Nähe in einer Garage – ich will Sie gerne zurückbringen. Ich dachte nur, Sie wären mit Ihrer höllischen Radaumaschine verheiratet.«

 

»Man kann kaum sagen, daß ich verheiratet bin«, meinte Super.

 

Jim fuhr in einer Taxe zur Garage und holte Super dann in der Polizeistation ab. Der alte Mann wartete mit seiner Feuerfliege, und sie hoben sie auf den Gepäckhalter auf der Rückseite.

 

»Es ist doch merkwürdig, wie Einfälle und Gedanken zu einem kommen. Mir geht es gerade wie Mr. Cardew – mitten in der Nacht kommen sie. Gerade in diesem Augenblick habe ich eine großartige Idee, über die ich sehr erfreut bin.«

 

Trotzdem lehnte er es ab, sie Jim mitzuteilen. Die Rückfahrt ging schnell und ohne Zwischenfall vonstatten.

 

»Kommen Sie doch bitte herein«, sagte Super. »Ich will Sie nicht lange aufhalten. Es ist aber möglich, daß neue Nachrichten eingetroffen sind.«

 

Er hatte recht. Der diensttuende Sergeant berichtete, daß ein Motorradfahrer zur Station gekommen sei.

 

»Er sagte, daß jemand auf der Landstraße zwei Schüsse auf ihn abgegeben habe, etwa einen Kilometer von der Stadt entfernt.«

 

Super seufzte zufrieden.

 

»Sie haben ihn doch nicht etwa getroffen? Ich vermute, daß sie die Schnelligkeit, mit der er fuhr, nicht richtig beurteilten. Er gehört wahrscheinlich zu den Motorradfahrern, die nicht mehr als 60 km Stundengeschwindigkeit aus ihrer Maschine herausholen können. Wenn ich nun auf Feuerfliege mit meinen 90 km vorbeigerast wäre, hätte mich die Kugel sicher erwischt.«

 

»Sie?« fragte Jim verwundert. »Wollte man denn auf Sie schießen?«

 

»Sie können getrost darauf wetten, daß man die Absicht hatte, mich niederzuknallen«, sagte Super ruhig. »Sie haben vorher davon gesprochen, daß ich mit meiner Feuerfliege verheiratet wäre. Ich will ja gerade, daß die Leute das denken sollen. Ich möchte nicht gerne, daß man erfährt, daß Feuerfliege ab und zu Witwe ist.«

 

Jim verstand jetzt, warum Super es vorgezogen hatte, im Auto zurückzukehren. Angenommen, die Explosion der Schießfalle in der vorigen Nacht wäre kein Unfall gewesen, und man hätte es auf sein Leben abgesehen, so wäre er ein leichtes Ziel für Leute gewesen, die aus dem Hinterhalt auf ihn schossen. Der Lärm seines Motorrades war kilometerweit zu hören. Später stellte es sich heraus, daß auch der Motorradfahrer, auf den man geschossen hatte, eine verhältnismäßig laute Maschine fuhr.

 

»Ich werde über nichts mehr erstaunt sein, was auch geschieht«, sagte Super mit philosophischer Ruhe. »Aber man muß es ihnen lassen, sie haben schnell gehandelt. – Ist Lattimer schon zurück?«

 

»Nein«, sagte der diensttuende Sergeant, »er ist noch in der Stadt.«

 

Aber hier sagte er etwas, was der Wirklichkeit nicht entsprach; denn Lattimer saß in diesem Augenblick auf einem Zaun zwischen zwei hohen Sträuchern in dem verlassenen Teil einer Londoner Landstraße. Er hatte eine Pistole in der Hand und war sehr ärgerlich über seinen Vorgesetzten, denn er hatte nicht gesehen, daß Super vorbeigefahren war.