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Leslie Ranger hatte in der Zeitung auch von Droods Herausforderung gelesen. Sie interessierte sich besonders für diesen Fall, weil der Colonel ihr gegenüber auf der anderen Straßenseite wohnte und sie von ihrer hochgelegenen Wohnung aus sein Hausdach übersehen konnte.

 

Die Dunkelheit brach herein. Die Regenwolken verzogen sich, die Luft war merkwürdig klar, und man hatte eine gute, weite Sicht. Leslie saß am Fenster, als sie plötzlich drüben auf einem Dach eine Gestalt bemerkte, die vorsichtig hinter einem Schornstein hervorkam und dann wieder verschwand. Von dort aus konnte man auf das flache Dach des Droodschen Hauses gelangen. Vielleicht ein Polizist? Sie nahm an, daß die Polizei alle nur möglichen Vorsichtsmaßregeln ergriffen und überall in der Gegend Posten aufgestellt hatte. Der Mann erschien aber nicht mehr, obwohl sie noch eine Weile Ausschau hielt.

 

Sie folgte dann einer plötzlichen Eingebung und rief Terry Weston an. »Meine Frage klingt vielleicht etwas komisch – aber haben Sie irgendwelche Posten bei Mr. Droods Haus aufgestellt?«

 

»Ja, wir haben ein paar Beamte hingeschickt«, entgegnete er überrascht. »Warum fragen Sie?«

 

»Ich kann das Haus von meinem Fenster aus beobachten, auch das Dach, und es kam mir so vor, als ob ich einen Mann auf dem Hausdach gesehen hätte. Ob das ein Polizist war?«

 

Sie hörte, wie Weston mit jemand sprach, der gleich darauf fluchte. »Haben Sie etwas dagegen, wenn ich mit Captain Allerman zu Ihnen komme?«

 

Ein halbe Stunde später stellten die beiden sich ein. »Es« muß wohl Tetley gewesen sein«, erklärte Terry. »Er ist schon den ganzen Abend hier in der Gegend, und wahrscheinlich haben Sie ihn da oben gesehen.«

 

»Hat er auch die Lichter auf dem Dach angebracht?«

 

»Was sagen Sie da?« fragte Jiggs schnell. »Lichter …?«

 

Leslie führte ihn zum Fenster. Auf dem gegenüberliegenden flachen Dach brannten drei rote Lichter.

 

»Merkwürdig!« meinte Jiggs nachdenklich. »Zum Teufel – was soll das nun wieder bedeuten?«

 

»Wahrscheinlich hat Tetley einige seiner Leute da oben und will ihnen dadurch ihre Aufgabe erleichtern. Er sagte mir, er habe in den umliegenden Gebäuden ein halbes Dutzend Scharfschützen verteilt, die Droods Behausung bewachen sollen.«

 

»Gewiß«, erwiderte Jiggs langsam, das ist eine sehr annehmbare Idee.« Plötzlich schlug er sich mit der Hand aufs Knie. »Wer sollte es wagen, in dieses Haus einzudringen und die Leute niederzuknallen? Es wimmelt da von todsicheren Schützen, und ehe sie Drood erledigen, verlieren sie bestimmt ein halbes Dutzend Leute. Kommen Sie, Terry!« Ohne sich zu verabschieden, stürmte er aus der Wohnung.

 

Terry eilte hinter ihm her. Wenige Sekunden später klopfte Jiggs an Droods Portal.

 

Zu seinem Erstaunen öffnete sich eine Füllung in der Tür, und ein Gesicht erschien dahinter. »Was wollen Sie?« Am Nachmittag hatte der unternehmungslustige Colonel das Schiebefenster anbringen lassen. »Sie können nicht herein! Herr Drood will keine Polizei im Haus! Er hat seine Freunde hier und kann sich schon selber verteidigen!«

 

»Aber es ist sehr wichtig! Ich muß aufs Dach …!«

 

»Sie können weder aufs Dach noch in den Keller! Es ist alles abgesperrt!« Krachend schloß sich die Türfüllung.

 

»Das ist allerdings verteufelt unangenehm«, meinte Terry und klopfte aufs neue.

 

Wieder öffnete sich der Schieber, und diesmal zeigte sich der Lauf eines Armeerevolvers. »Ich weiß, wer Sie sind, Mr. Weston; aber ich habe strikten Befehl, Sie abzuweisen. Sie können nicht vor morgen früh hier herein! Colonel Drood hat seine eignen Pläne und braucht keine Polizei!«

 

»Da wären wir also abgefertigt«, sagte Terry, als sie die Stufen wieder hinunterstiegen. Er war teils ärgerlich, teils belustigt und fragte einen Detektiv an der Ecke, wo Inspektor Tetly zu finden sei. Von einer Telefonzelle aus rief er ihn dann an.

 

»Geht alles in Ordnung, Weston! Ich habe Herrn Drood erlaubt, sich auf seine Weise zu verteidigen.«

 

»Sind Sie heute nachmittag oder abend auf dem Dach gewesen?«

 

Eine Pause entstand. »Nein … Wie kommen Sie darauf?«

 

»Haben Sie angeordnet, daß auf dem Dach Lampen angebracht werden?«

 

Wieder folgte ein ungewöhnlich langes Schweigen.

 

»Nein … Vielleicht ist der Colonel auf den Einfall gekommen? Er scheint sehr erfinderisch zu sein.«

 

Terry legte auf.

 

»Haben Sie was dagegen, wenn ich das Präsidium anläute und mir ein Gewehr kommen lasse?« fragte Jiggs. »An welche Abteilung muß ich mich dazu wenden?«

 

Terry gab ihm erstaunt Antwort und stand neben dem Apparat, während Jiggs mit dem Beamten sprach.

 

»Schicken Sie mir ein tadellos, genau schießendes Gewehr! Ich habe verschiedene gesehen, als mich Mr. Brown in die Waffenkammer führte … Ja: mit Zielfernrohr und Schalldämpfer. Senden Sie es sofort nach Cavendish Square 174! Großes Haus mit vielen Wohnungen … Es soll bei Miss Ranger abgegeben werden! Inspektor Terry wird dort sein … Also gut: Chefinspektor Terry – wenn Sie so pinselig mit den Titeln sind!«

 

»Was haben Sie denn vor?« fragte Terry, als sie über den Platz wieder zu Leslies Haus gingen.

 

»Ach, ich habe da nur eine Idee …«

 

Leslie war überrascht, als die beiden zurückkamen, fühlte sich aber erleichtert.

 

»Also – was wollen Sie nun machen?« fragte Terry.

 

»Ich hätte Scotland Yard noch um ein Fernglas bitten sollen«, erwiderte Jiggs unwirsch. »Mein Verstandesapparat funktioniert anscheinend nicht mehr richtig.«

 

»Ich habe ein Fernglas«, sagte Leslie. Sie ging in ihr Schlafzimmer und kehrte mit einem alten Feldstecher zurück, den sie von ihrem Vater geerbt hatte.

 

Jiggs stellte ihn auf das gegenüberliegende Dach ein. »Großartig! Nun sehe ich auch, daß ein Geländer um das Dach gezogen ist. Das konnte ich vorher nicht richtig erkennen. Schaun Sie mal, Terry, wie grell die Lichter in der Dunkelheit herauskommen! Sie wirken doppelt so hell, wenn man sie von oben sieht … Das eine an der Ecke wirft einen Schein auf das nächste Haus.« Er sah seufzend auf die Uhr. »Wie lange wird es wohl dauern, bis die Leute von Scotland Yard hier sein können?«

 

»Zwanzig Minuten … Was haben Sie denn bloß für ein Geheimnis, Mensch? Reden Sie doch endlich! Was wollen Sie mit dem Gewehr?«

 

»Ich bin ein vorzüglicher Schütze – ein verdammt tüchtiger Kerl, wenn ich so sagen darf … Ich werde die Lichter dort drüben ausblasen!«

 

»Aber Jiggs, das können Sie doch nicht mitten in London machen?«

 

»Wenn der Schalldämpfer was taugt, wird London davon nicht aufwachen!«

 

Der Bote kam, und Jiggs befestigte sachkundig den Schalldämpfer auf der Schußwaffe.

 

»Ich nehme meinen Hut ab vor der Polizei. Ich habe nicht um Patronen gebeten, aber sie haben mir freiwillig ein Paket mitgeschickt. Die Beamten von Scotland Yard haben wirklich Verstand …«

 

Er lud das Magazin und zielte. Man konnte den Schuß kaum hören, aber eins der roten Lichter ging aus.

 

Terry sah zum Fenster hinaus: Die Leute auf der Straße gingen ruhig weiter; niemand schien etwas bemerkt zu haben.

 

Jiggs zielte aufs neue, man hörte das Pfeifen des Geschosses. Prompt erlosch die zweite Lampe. »Das dritte ist am leichtesten!« Wieder hob er das Gewehr, und gleich darauf verschwand drüben die letzte Flamme. Jiggs nahm den Schalldämpfer vom Gewehr und grinste zufrieden. »Es ist gut, Miss Ranger! Sie können die Beleuchtung wieder einschalten!«

 

»Aber bereits im nächsten Augenblick verbesserte er sich: »Oder – halt: Lassen Sie es bitte noch! Terry, hören Sie nichts?«

 

Terry lehnte sich zum Fenster hinaus und lauschte.

 

»Ein Flugzeug …«

 

Jiggs atmete erregt. »Da haben wir die Lichter ja gerade noch rechtzeitig gelöscht!« Er lud aufs neue.

 

Jetzt konnte man das Geräusch der Maschine schon deutlicher hören; sie kam auf den Cavendish Square zu: ein kleines, schwarzes Flugzeug, das so niedrig flog, daß es fast die Dächer zu streifen schien. Es senkte sich noch tiefer, hielt auf die nördliche Seite des Platzes zu, flog darüber hinweg, drehte und kam zurück.

 

»Der kann seine drei roten Lichter nicht finden!« lachte Jiggs.

 

Er riß das Gewehr an die Backe. Diesmal war kein Schalldämpfer auf der Mündung. Der Schuß fiel schnell und unvermutet, und Leslie taumelte, halb betäubt, zurück. Im nächsten Augenblick hatte Jiggs durchgeladen und feuerte aufs neue.

 

Das Flugzeug war gerade über dem Cavendish Square, als es absackte. Der Schwanz senkte sich und krachte mitten in die Gartenanlagen des Platzes.

 

»Den haben wir erwischt!« rief Jiggs triumphierend.

 

Ein großer Baum milderte den Aufprall beim Sturz der Maschine. Polizeipfeifen schrillten von allen Seiten.

 

»Um Himmels willen, was haben Sie da gemacht?« fragte Terry erschrocken.

 

»Ich habe den Kerl heruntergeschossen, der, eine Bombe auf Colonel Droods Haus geworfen hätte, wenn er die Lichter hätte finden können. Die waren nur angebracht, um ein sicheres Ziel zu geben. Diese Burschen haben eben ihre besonderen Methoden; sie sind nicht nur auf ihre Revolver angewiesen!«

 

Die Polizeibeamten, die über das Geländer des Platzes geklettert waren, fanden mitten unter den Trümmern einen Verwundeten, der kläglich stöhnte. Als sie weitersuchten, entdeckten sie auch eine zentnerschwere Bombe, die mit hochexplosivem Alanit geladen war.

 

Der Verletzte wurde zum nächsten Hospital transportiert. Jiggs und Terry begleiteten ihn. Er nannte seinen Namen nicht. Ein Geschoß hatte ihm den Arm durchschlagen; außerdem hatte er ein Bein gebrochen.

 

»Es ist gleichgültig, ob Sie sagen, wer Sie sind, oder nicht«, erklärte Jiggs. »Ich kenne Sie sehr gut. Sie sind Stunts Amuta, mein Junge! Haben früher Kunstflüge gemacht und unterhielten später eine Luftverbindung von Kanada nach den Staaten. Sie flogen für Hymie Weiss. Der ist inzwischen abgekratzt; aber niemand weint ihm eine Träne nach. Sie stammen aus Indiana.«

 

Der Mann warf ihm einen bösen Blick zu, erwiderte aber nichts.

 

»Stunts, Sie stecken tief in der Patsche. Wenn Sie nur einen Funken Vernunft haben, dann gestehen Sie!«

 

»Ich habe Ihnen nichts zu sagen!« stöhnte der Mann.

 

»Wollen abwarten. Vielleicht hab‘ ich die Kugel in Knoblauchsaft gekocht …«

 

Stunts‘ Züge verzerrten sich vor Entsetzen.

 

Der Arzt kam und erklärte, daß man den Verwundeten jetzt allein lassen müsse.

 

»Was haben Sie da vorhin von Knoblauchsaft geredet?« fragte Terry, als sie aus dem Hospital traten.

 

»Ich wollte ihn damit ein bißchen aufmuntern. Die Kerle haben nämlich den Aberglauben, daß man mit Knoblauch Geschosse vergiften könne.«

 

Der Inhalt des Flugzeuges war zum Scotland Yard gebracht worden, und die Bombe wurde bereits von Sachverständigen untersucht. Was Stunts in den Taschen gehabt hatte, lag auf einem Tisch in Wemburys Büro. Darunter befanden sich ein Paß, von einem südamerikanischen Staat auf den Namen Thomas Filipo ausgestellt, und eine Fahrkarte von Paris nach Cadiz. Ferner hatte man einen Lederkoffer gefunden, der im Innern des Flugzeugs festgeschnallt war. Er enthielt einen Anzug, Wäsche und dergleichen, außerdem eine Brieftasche mit sechstausend Francs, dreitausend Pesetas und Reiseschecks im Wert von zweitausend Pfund. Den Heimatflugplatz der Maschine konnte man nicht feststellen; die Nummer war übermalt. Man gab sie dem Luftamt an, aber auch dort konnte man nichts weiter herausfinden. Der angebliche Besitzer hieß Jones.

 

»Wir können keine Anklage wegen Mordversuchs erheben«, sagte Terry, nachdem er sich mit Wembury beraten hatte. »Denn es läßt sich nicht beweisen, daß er die Absicht hatte, das Haus zu bombardieren. Höchstens könnten wir ihn zur Rechenschaft ziehen, weil er eine Bombe bei sich führte. Wir fanden auch zwei Revolver; das wäre eine weitere Gesetzesübertretung. Aber Wembury glaubt, daß es kaum Wert hat, ihn vor Gericht zu stellen.«

 

»Das Interessante an der Sache ist, daß die Blauen den Bombenangriff planten«, meinte Jiggs. »Heute abend werden sie keinen weiteren Versuch mehr machen, gegen Drood vorzugehen. Kerky wird schon gehört haben, daß wir das Flugzeug herunterholten, und er wird sich ruhig verhalten. Stunts ist der erste seiner Leute, der in unsre Hände fiel. Übrigens würden Sie gut daran tun, ein halbes Dutzend Polizeibeamte zum Spital zu schicken, die Stunts bewachen.«

 

»Ich habe mit Wembury darüber gesprochen; aber wenn er keine Anklage gegen den Mann erheben kann, darf er ihn auch nicht bewachen lassen.«

 

»Kerky wird abwarten, was Sie unternehmen. Wenn er vermutet, daß Stunts vor Gericht gestellt wird, holt er ihn aus dem Krankenhaus, bevor Sie nur mit den Augen zwinkern können.«