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Blagdon hatte sich gefaßt und ging ihm entgegen.

 

»Darf ich mich vorstellen? Inspektor Blagdon. Ich leite die Untersuchung im Mordfall Keith Keller.«

 

Lord Arranways sah ihn kühl an.

 

»Ich bin gekommen, um Näheres über den Fall zu erfahren.« Er nickte Collett freundlich zu. »Wenn ich mich nicht irre, sind Sie Mr. Collett? Ich habe gehört, daß Sie den Fall bearbeiten.«

 

»Nein«, fuhr Blagdon dazwischen, »da sind Sie falsch informiert. Ich führe die Untersuchung allein durch. Lord Arranways, bitte sagen Sie mir, warum Sie gestern das Haus verließen und wo Sie waren.«

 

»Ein bißchen umständlich, Ihnen zu erklären, warum ich das Haus verließ, aber wo ich war, sollen Sie wissen: Ich bin heute morgen nach Paris geflogen und eben wieder zurückgekommen.«

 

Blagdon war völlig durcheinander.

 

»Aber Sie haben doch mit Charles telefoniert!«

 

Der Lord runzelte die Stirn.

 

»Was Sie nicht sagen! Davon weiß ich ja gar nichts, und ich war auch nicht in London.«

 

»Das ist aber nicht möglich! Aus diesem Grund fährt doch eben Charles mit einem Polizeiwagen nach London!«

 

»Also da hört sich doch alles auf!« brach Collett los. »Sie haben doch den Mann nicht etwa nach London geschickt? – Wo ist Lorney?«

 

Er rief den Wirt, erhielt aber keine Antwort. Daraufhin ging er hinter die Theke und klopfte an der Tür des Privatzimmers.

 

»Sind Sie da, Mr. Lorney?«

 

Er lauschte und hörte plötzlich ein leises Stöhnen. Als er die Tür aufmachte, sah er anfangs in der Dunkelheit nichts, aber gleich darauf erkannte er die Umrisse einer Gestalt am Schreibtisch. Er knipste das Licht an.

 

Lorney lag vornübergebeugt mit dem Oberkörper auf der Schreibtischplatte. Collett rief Blagdon zu Hilfe, und die beiden Männer trugen den Bewußtlosen in die Diele. Dort lagerten sie ihn auf den Fußboden und legten ein Kissen unter seinen Kopf. Lorney hatte eine große Wunde am Hinterkopf, und Collett ließ sofort einen Arzt holen.

 

Dr. Southey war noch mit dem Verbinden beschäftigt – er hatte festgestellt, daß es keine gefährliche Wunde war –, als Lorney wieder zu Bewußtsein kam. Die erste, die er sah, war Lady Arranways. »Ihr Schmuck ist gestohlen, Mylady«, brachte er mühsam hervor.

 

»Ach, machen Sie sich darum jetzt keine Sorgen. Wer hat Sie denn überfallen? – Charles?«

 

Lorney antwortete nicht. Sein Kopf schmerzte furchtbar. Dr. Southey wollte ihn sofort ins Bett stecken, aber davon wollte Lorney nichts hören.

 

Blagdon starrte ihn düster an und wandte sich dann verzweifelt an Collett.

 

»Dieser Green hat mich belogen! Das hätte ich nie von ihm gedacht. – Aber schließlich kann jeder mal was falsch machen.«

 

»Wo ist er denn hin?« fragte Collett sachlich.

 

Blagdon überlegte, was Collett schon äußerst verdächtig vorkam.

 

»Wenn ich ehrlich sein soll, weiß ich es auch nicht. Er wollte zu einer Adresse in der New Kent Road. Ich habe dem Chauffeur gesagt, er solle tun, was Green verlange.«

 

Collett grinste.

 

»Das heißt also, daß Charles fahren kann, wohin er will. Er hat einen guten Wagen, und der Chauffeur ist angewiesen, seinen Anordnungen Folge zu leisten. Das sind ja Zustände wie bei den Hottentotten.«

 

Lorney saß am Fenster, während der Arzt ihn fertig verband. Plötzlich fühlte er, wie sich eine Hand auf seinen Arm legte. Als er den Kopf wandte, sah er, saß es Anna war.

 

»Es tut mir so leid«, flüsterte sie.

 

Er nahm ihre Hand und streichelte sie.

 

»Warum sind Sie so traurig?«

 

Sie sah ihn erstaunt an.

 

»Ich – ich werde es Ihnen sagen, wenn wir allein sind.«

 

Tränen traten ihr in die Augen, auf ihrem Gesicht lag ein Ausdruck, den er früher noch nie bei ihr gesehen hatte.

 

*

 

Inzwischen hatte Blagdon alle Polizeistationen in der Umgegend telefonisch verständigt, daß ein Polizeiwagen mit einem Beamten und einem Mann in Zivil unterwegs sei – wahrscheinlich Richtung London oder nach Süden zur Küste –, der sofort angehalten werden sollte. Aber von keiner Station erhielt er eine positive Antwort.

 

Blagdon stand mit Collett zusammen in der Diele und versuchte vergeblich, seine Verzweiflung zu verbergen.

 

»Alles ist meine Schuld. Ich habe Scotland Yard gebeten, die Seehäfen zu überwachen, die Flugplätze habe ich natürlich vergessen. Aber man kann auch nicht an alles denken. In so einem komplizierten Fall wie diesem sollte man wirklich –«

 

»Nein, Sie können wirklich nicht an alles denken«, sagte Collett ironisch, aber Blagdon merkte es nicht. Er ging wieder in sein Büro.

 

Collett wartete in der Diele auf Lord Arranways, aber der schien fürs erste nicht zu kommen.

 

Der Lord saß oben im Zimmer seiner Frau. Mary hatte ihn darum gebeten, denn sie wollte etwas mit ihm besprechen.

 

»Warum bist du zurückgekommen?« fragte sie ihn, als sie allein waren.

 

»Ich habe in der Zeitung von dem Mord gelesen, und da war es doch selbstverständlich, daß ich kam.«

 

»Aber warum?«

 

Er schaute sie nachdenklich an. Irgendwie sah er älter und gereifter aus, und seine Stimme klang nicht mehr so kalt und sarkastisch.

 

»Ich will es dir sagen. Ich dachte, du hättest Keller ermordet. Ich halte es auch jetzt noch nicht für ausgeschlossen.«

 

Sie starrte ihn an, aber noch bevor sie etwas erwidern konnte, sprach er weiter.

 

»Wenn das stimmte, mußte ich natürlich zurückkommen, denn ich betrachte mich jetzt selbst als schuldig. Hast du ihn ermordet?«

 

Als sie den Kopf schüttelte, holte er erleichtert Luft.

 

»Gott sei Dank! Seitdem ich den Bericht in der Zeitung gelesen habe, machte ich mir die größten Sorgen.«

 

»Eddie, Keller war wirklich mein Freund – ich glaube, du hast es geahnt. Manchmal denke ich, ich hätte ihn tatsächlich umbringen sollen.«

 

Der Lord schwieg.

 

»Ich war unverzeihlich leichtsinnig«, fuhr Mary fort, »aber das ist noch keine Entschuldigung. Ich haßte ihn schließlich. Er versuchte mich zu erpressen, aber das ist nicht der wahre Grund. Nun ist er tot, und ich bin fast froh darüber.«

 

Sie sah ihn fragend an.

 

»Es tut mir furchtbar leid, Eddie. Ich möchte nicht, daß du mir verzeihst, wenn du es nicht mit ganzem Herzen tun kannst. Vielleicht ist es überhaupt unmöglich.«

 

Es fiel ihm schwer, zu antworten und den richtigen Ton zu treffen.

 

»Ich habe mich durchgekämpft und bin darüber hinweg. Ich meine – über die Sache zwischen dir und Keller. Ich habe furchtbare Stunden hinter mir, aber mir ist klargeworden, daß ich ebenso die Verantwortung daran trage wie du.« Er machte eine Pause. »Wenn dies alles vorüber ist – willst du es dann noch einmal mit mir versuchen? Wollen wir von vorn anfangen – und die ganze Sache vergessen?«

 

Sie glaubte ihren Ohren nicht zu trauen.

 

Er nahm ihre Hände in die seinen.

 

»Es tut mir so leid, daß alles so gekommen ist«, sagte er. »Willst du es noch einmal versuchen?«

 

Sie schüttelte mutlos den Kopf. »Ich wage es kaum.«

 

Er lächelte.

 

»Du denkst an meinen Stolz, an meine Eitelkeit, an meine Unversöhnlichkeit, nicht wahr? Ich glaube kaum, daß ich mich sofort von all meinen Fehlern frei machen kann – aber möchtest du mir nicht ein wenig dabei helfen? Nach allem bist du mir auch etwas schuldig. Laß uns noch einmal anfangen, ja?«

 

Sie nickte, und er küßte sie.

 

»Nun will ich hinuntergehen und Blagdons Fragen beantworten«, sagte er dann.

 

Als er nach unten kam, herrschte dort große Aufregung. Dick Mayford war soeben mit seinem Wagen angekommen. Im Fond lag der Fahrer des Polizeiautos – bewußtlos.

 

»Heben Sie ihn heraus. Ich glaube, sein Bein ist gebrochen. Es ist ein Unglück passiert: Er lag allein auf der Landstraße.«

 

Drei Polizeibeamte trugen ihn ins Haus.

 

»Wo ist denn Charles Green – der Kellner?«

 

»Das weiß ich nicht«, erwiderte Dick. »Der Mann hier konnte es nicht sagen. Er kam nur kurz zu sich und sagte, daß die Bremsen seines Wagens versagt hätten und daß er hinausgeschleudert worden wäre.«

 

»Aber wo ist denn das Auto!« rief Blagdon aufgeregt.

 

»Das muß irgendwo abgestürzt sein. Ich hatte keine Zeit, mich danach umzuschauen. Auf der Straße war es jedenfalls nirgends zu sehen.«

 

»Um Himmels willen!« Blagdon griff sich an den Kopf. »Holen Sie doch Mr. Collett«, beauftragte er dann einen Wachtmeister.

 

Das war das Eingeständnis seiner Niederlage.

 

Gleich darauf erschien Collett und orientierte sich durch ein paar Fragen über die Lage der Dinge.

 

»Ist die Stelle weit entfernt?«

 

»Nein, ungefähr eine Meile. Es war im Wald von Sketchley, und zwar in der Nähe des Steinbruchs.«

 

»Ach – dann weiß ich, was mit Charles und dem Wagen passiert ist.«

 

Sechs Polizeibeamte sprangen in Dicks Auto und fuhren in die Nacht hinaus. Collett und Blagdon kamen im Wagen des Lords hinterher.

 

An der bezeichneten Stelle – am Rand einer abschüssigen Straße oberhalb des Steinbruchs – sahen sie eine große Lücke im Zaun. Der Polizeiwagen hatte ihn durchschlagen, verschiedene Bäume gestreift und war dann über den Rand des Steinbruchs in die Tiefe gestürzt.

 

»Wie kommen wir nach unten?« fragte Collett zweifelnd.

 

Hier konnte nur Blagdon weiterhelfen. Er führte sie einen schmalen Pfad hinunter zum Teich, der unterhalb des Steinbruchs lag. Der hintere Teil des Polizeiautos ragte noch aus dem Wasser.

 

»Hier muß irgendwo ein kleiner Kahn sein!« rief Blagdon.

 

Nach einer Weile hatte er ihn gefunden. Mit Stöcken brachten sie den Kahn bis zum Auto. Die Hinterräder waren noch halb zu sehen, aber von Charles konnte man keine Spur entdecken.

 

»Dort liegt etwas am Ufer!« sagte Collett. Es war der schwarze Kasten, den er unter dem Arm des Kellners gesehen hatte, als dieser das Zimmer des Wirts verließ.

 

»Hier können wir doch nichts mehr tun«, meinte er dann. »Wenn Green nicht entkommen ist, muß er unter dem Wagen liegen. Morgen muß der Teich sorgfältig abgesucht werden.«

 

Sie kletterten wieder hinauf zur Straße und fuhren zum Gasthaus zurück.

 

Dort wurde mit Hilfe eines zweiten Schlüssels, den Lorney besaß, der Kasten geöffnet. Unter einem Stapel Banknoten lag ein längliches weißes Kuvert.

 

»Was wollen Sie damit machen? Soll es verbrannt werden?« fragte Collett.

 

Lorney sah Anna an, und sie schüttelte den Kopf.

 

»Nicht, wenn es meine Geburtsurkunde ist«, sagte sie lächelnd. »Ich möchte doch noch einen anderen Beweis meiner Identität haben als den, daß sich unsere Augenbrauen genau gleichen.«

 

Collett sah die beiden an.

 

»Es muß schön sein, eine Tochter zu haben, nicht wahr, Mr. Lorney, und vor allem, es auch öffentlich zeigen zu dürfen?«

 

»Ja«, sagte Lorney. »Haben Sie eigentlich Charles gefunden?« fragte er plötzlich.

 

»Nein, er ist sicher tot.«

 

»Nun, was meinen Sie, ist es gut, daß Anna es erfahren hat, daß ich ihr Vater bin?«

 

»Ich glaube schon.« Collett hatte einen Entschluß gefaßt. »Wenn Sie mir den Rest der Angelegenheit anvertrauen, dann wird sicher alles noch gut.«