18

 

Trotz der frühen Morgenstunde fand Collett Charles schon bei der Arbeit. Er scheuerte den Fußboden des Balkons, um die Blutflecken zu beseitigen. Er beklagte sich laut und leise darüber, daß er nicht zum Schlafen käme, und schimpfte über Keller. Am meisten regte er sich aber über Blagdon auf.

 

»Der Kerl hat mich die ganze Nacht ausgefragt, und obwohl ich ihm sagte, daß ich im Gefängnis war – das heißt, Mr. Lorney hat es ihm gesagt –, hat er doch so getan, als ob er es herausgebracht und ich es ihm verschwiegen hätte.«

 

Blagdon hatte ein Zimmer des Gasthauses zu seinem Büro erklärt und an der Tür einen Polizeibeamten als Wache aufgestellt. Collett sah den Inspektor öfter mit ernstem Gesicht heraus- oder hineingehen, und je länger es dauerte, desto wichtiger kam sich Blagdow offensichtlich vor.

 

Collett saß in einem Sessel und versuchte zu schlafen, als Blagdon auf ihn zukam.

 

»Ich habe Kellers Zimmer durchsucht und dort ein paar Dinge entdeckt, die von der größten Bedeutung sind und die Sie vielleicht interessieren werden. Wollen Sie einmal in mein Büro kommen?«

 

Collett tat es und sah eine Anzahl von Briefen, die hübsch der Größe nach geordnet auf dem Tisch lagen.

 

»Sehen Sie, das ist methodisches Arbeiten«, erklärte Blagdon. »In diesen Kuverts sind die Dinge, die ich in Kellers Taschen fand, und hier sind die Papiere, die in seinem Zimmer lagen. Wenn wir jetzt alles sichten, wird der Fall ziemlich klar sein.« Er lehnte sich in seinem Sessel zurück.

 

»Keller, der in Wirklichkeit Barton heißt«, begann er, »wurde vor fünf Jahren wegen eines schweren Einbruchs verurteilt. Sein Komplice war ein gewisser William Radley –«

 

»Aber das habe ich Ihnen doch alles schon erzählt, als Sie hierherkamen«, erklärte Collett gelangweilt und schlug ungeduldig auf den Tisch.

 

»Wenn Sie gestatten, möchte ich doch noch einmal alles zusammenfassen«, erwiderte Blagdon mit größter Höflichkeit. »Keller ist in mehrere Affären verwickelt gewesen, die man nur als …«

 

» … als schmutzig und gemein bezeichnen kann«, half Collett ihm weiter.

 

»Ja, das wollte ich sagen. Ich danke Ihnen, Mr. Collett. – Keller hat in allen möglichen Kreisen verkehrt. Er hat sich mit Damen der besten Gesellschaft wie auch mit einfachen Mädchen eingelassen. Und hier habe ich nun meine erste Entdeckung gemacht.«

 

Er öffnete einen Umschlag, nahm ein zusammengefaltetes Papier heraus und legte es vor Collett auf den Tisch. Es war mit Kopierstift und in einer Schülerhandschrift geschrieben.

 

›Mein lieber Junge, ich warte noch auf eine Gelegenheit, Dich in London zu sehen. Ich kam neulich abends nach Sketdiley, trug wie gewöhnlich meinen Bart und brachte einige Wertsachen zurück, die ich vor einem Jahr gestohlen hatte. Ich weiß, daß Du mich für verrückt hältst. Vielleicht bin ich das auch. An einem der nächsten Tage sage ich Dir, warum ich das tue. Ich muß Dich unter allen Umständen sprechen. Kannst Du nicht nach London kommen? Ich kann Dir etwas sagen, das wichtig für Dich ist. Jemand ist hinter Dir her und wird Dich auch fassen. Nach Sketchley darf ich nicht kommen. Schreibe unter der Adresse, die ich Dir gegeben hatte.‹

 

*

 

Das Schreiben war mit W. R. unterzeichnet.

 

»Dieser Brief wurde meiner Meinung nach von William Radley geschrieben«, erklärte Blagdon.

 

Collett nahm das Blatt, ging damit zum Fenster, und nachdem er es eingehend geprüft hatte, gab er es zurück.

 

»Wo haben Sie das gefunden?«

 

»In Kellers Zimmer. Wenn ich sage, Keller –«

 

»Dann meinen Sie Boy Barton. Aber wo in seinem Zimmer?«

 

»In der Kommode zwischen zwei Oberhemden.«

 

Collett nickte.

 

»Haben Sie sonst noch etwas in der Schublade gefunden?«

 

»Nein, das nicht. – Ich komme nun zum nächsten Punkt.«

 

Blagdon öffnete den zweiten Umschlag und zog ein Scheckbuch und ein gefaltetes Papier heraus.

 

»Beides fand ich in seinen Taschen. Dieser Brief wirft Licht auf die Beziehungen zwischen Lady Arranways und Keller.«

 

Es war eine andere, mit Bleistift geschriebene Mitteilung, die keine Anrede hatte.

 

›Treffpunkt im Wald an der bewußten Bank heute abend 9.30 Uhr. Ich bringe das Geld mit. Mary.‹

 

»Mary«, sagte Blagdon mit Nachdruck. »Das ist Lady Arranways. Mary ist ihr Vorname.«

 

Collett gab es auf.

 

»Nun sehen Sie sich einmal dies an«, fuhr der Inspektor fort und deutete auf den letzten Abschnitt des Scheckbuches.

 

Collett schaute kurz hin. Das Formular war auf zehntausend Pfund für John Lorney ausgestellt.

 

»Warum gab Barton Lorney zehntausend Pfund? Dafür gibt es nur eine Erklärung, mein lieber Kollege, vielleicht auch zwei.«

 

»Vielleicht auch drei oder vier«, brummte Collett. »Erpresser nehmen niemals Schecks. Wenigstens habe ich diese Erfahrung gemacht. Aber ich kann Ihnen eine Erklärung geben: Barton schrieb einen Scheck über diese Summe aus und bat Lorney, ihn einzulösen. Lorney hat es mir erzählt, und ich traue ihm. Keller war gestern abend völlig betrunken, und Lorney nahm die ganze Geschichte nicht ernst. Er steckte den Scheck einfach in die Tasche und legte ihn später in seinen Safe.«

 

Blagdon starrte ihn verwundert an.

 

»Woher, um alles in der Welt, wissen Sie denn das?«

 

»Ich habe die Taschen des Toten schon untersucht, bevor Sie herkamen, und den Brief und das Scheckbuch gesehen. Daraufhin habe ich natürlich Lorney und Lady Arranways um Aufklärung gebeten. Lady Arranways hat das Haus nach dem Abendessen nicht mehr verlassen. Um halb zehn, als das Rendezvous verabredet war, hielt sie sich in ihrem Zimmer auf. Sowohl Charles als auch das Zimmermädchen haben sie dort gesehen. Kann ich Radleys Brief noch einmal durchlesen? Der ist nämlich wirklich interessant!«

 

Er betrachtete ihn noch einmal eingehend.

 

»Haben Sie übrigens etwas von Lord Arranways gehört?«

 

»Nein, in seiner Stadtwohnung ist er nicht angekommen. Natürlich habe ich Scotland Yard gebeten, alle Häfen zu überwachen. Ich glaube, wir können als sicher annehmen, daß er der Mörder ist. Aber ich darf mich dadurch nicht beeinflussen lassen. Natürlich wird jede Spur verfolgt. Ich nehme an, er hat seine Frau und Keller auf dem Balkon überrascht und ihn dann erstochen. Seine Frau wollte er vermutlich auch umbringen, aber sie konnte entkommen.«

 

Collett sah ihn beinahe ehrfürchtig an.

 

»Enorm! Dann haben Sie wahrscheinlich auch Lady Arranways unter dieser Voraussetzung vernommen?«

 

»Selbstverständlich.« Blagdon nickte. »Sie weigert sich aber, irgend etwas auszusagen – das heißt, sie behauptet, meine Vermutung wäre Unsinn. Aber so sind die Leute! Zuerst lügen sie, daß sich die Balken biegen, aber schließlich gestehen sie doch alles ein.«

 

*

 

Dick Mayford ging im Garten auf und ab, als Collett ihn fand. Er sah übernächtigt aus, denn er war noch lange vernommen worden, und die Untersuchungsmethoden von Blagdon und Collett waren sehr verschieden voneinander. Collett bestand darauf, kleine, scheinbar unwichtige Dinge aufzuklären. Seine Fragen waren sehr präzis, während Blagdon mehr allgemeine Fragen stellte, wie zum Beispiel: »Wer hat nach Ihrer Meinung die Tat begangen?«

 

Dick konnte Collett nicht genau sagen, wann Eddie ihn am vergangenen Abend angerufen hatte.

 

»Können Sie sich vielleicht noch daran erinnern, wie lange Sie mit Ihrem Schwager gesprochen haben?«

 

Dick überlegte.

 

»Ungefähr fünf Minuten.«

 

»Das Gespräch hat aber siebzehn Minuten gedauert.«

 

»Ist das so wichtig?« fragte Dick müde. »Meiner Meinung nach war es nicht länger als fünf Minuten. – Was wollen Sie noch wissen?«

 

»Lord Arranways sagte, daß er nach Sketchley kommen wollte. Hatte er auch die Absicht, die Nacht hier zu verbringen?«

 

»Darüber hat er nichts gesagt. Wir sprachen meistens von anderen Dingen.«

 

»Welche anderen Dinge waren das? Sagen Sie mir es bitte. Das ist sehr wichtig.«

 

Dick zögerte einen Augenblick.

 

»Nun gut, Sie sollen es erfahren, denn wahrscheinlich hat es Ihnen doch schon jemand erzählt. Lord Arranways ist ziemlich eifersüchtig. Seit dem Brand hat er Keller im Verdacht, sich zu intensiv mit seiner Frau zu beschäftigen. Nun wollte er wissen, was meine Schwester den ganzen Tag getan hätte, und ob sie sich mit Keller getroffen hätte.«

 

Collett rieb sich das Kinn.

 

»Ich muß noch eine Frage stellen, Mr. Mayford. Glaubte Ihnen Lord Arranways, als Sie sagten, Ihre Schwester hätte Keller nicht getroffen?«

 

Dick sah ihn überrascht an.

 

»Wie kommen Sie darauf? Er hat es mir tatsächlich nicht geglaubt, im Gegenteil, er war ziemlich gereizt und widersprach mir dauernd. Ich wollte gerade auflegen, als er mich bat, zu ihm zu kommen.«

 

Collett nickte.

 

»Das erklärt vieles. Haben Sie sich schon einmal überlegt, wie Eifersucht einen Menschen verändern kann?«

 

»Ich verstehe nicht«, entgegnete Dick betroffen. »Er war ganz vernünftig, als er hierherkam, obwohl ich merkte, daß er vielleicht …«

 

»Sie meinen, daß er vielleicht etwas Außergewöhnliches vorhatte?«

 

»Nein, daß er fortgehen könnte, ahne uns zu sagen, wohin. Die Eifersucht hatte ihn völlig aus der Fassung gebracht. Er wäre imstande gewesen, irgendeine Dummheit zu begehen aber natürlich nicht den Mord«, fügte er schnell hinzu.

 

Collett kehrte zum Haus zurück; die Diele war leer. Er stieg die Treppe hinauf, ging den Gang entlang und kam dann auf einer schmalen Treppe wieder hinunter in die Küche. Charles saß am Tisch und trank Tee. Er sah den Kriminalbeamten finster an.

 

»Ich sage Ihnen gleich, Mr. Collett, daß ich keine Fragen mehr beantworte. Ich habe von heute nacht noch genug. Ich werde jetzt schlafen, ob es Mr. Lorney nun paßt oder nicht.«

 

Collett ließ sich an der anderen Seite des Tisches nieder. Die Köchin stellte sich daneben, weil sie hoffte, irgend etwas Interessantes zu hören. Collett ließ sich eine Tasse Tee machen, um sie wenigstens eine Weile abzulenken.

 

Charles wurde unruhig. Er sah den Chefinspektor nicht an.

 

»Mr. Collett, ich habe schwere Zeiten hinter mir, und ich möchte jetzt ein anständiges Leben führen. Wenn ich etwas von dem Mord wüßte –«

 

»Natürlich wissen Sie nichts davon. Sie könnten nur etwas wissen, wenn Sie dabeigewesen wären«, erwiderte Collett freundlich. »Aber ich möchte wissen: Warum haben Sie gestern zwölf Minuten mit Lord Arranways telefoniert? Was wollte er von Ihnen?«

 

»Am Telefon?« erkundigte sich Charles vorsichtig. »Ich habe nicht viel gesagt. Der Lord fragte, wo Mr. Mayford wäre, und bat mich, ihn an den Apparat zu rufen.«

 

»Sonst nichts?«

 

»Ich würde vor Gericht beschwören –«

 

»Mir liegt nichts an Ihren Meineiden. Was haben Sie sonst noch gesprochen?«

 

Charles schwieg.

 

»Bitte zeigen Sie mir doch einmal, was Sie in den Taschen haben.« Der Kellner erhob sich und brummte ärgerlich: »Sie haben kein Recht –«

 

»Nun hören Sie mal gut zu, mein Lieber. Sie wissen ganz genau, daß ich Sie festnehmen und zur nächsten Polizeistation bringen kann, bis feststeht, daß Sie nichts mit dem Mord zu tun haben. Aber das will ich gar nicht. Sie sollen nur meine Fragen anständig beantworten.«

 

Charles leerte seine Taschen aus und legte schließlich zögernd zwei neue Fünfpfundnoten auf den Tisch zu den anderen Sachen.

 

»Woher haben Sie das Geld?«

 

»Ein Freund von mir –«

 

»Reden Sie doch kein Blech. Ich will keine Märchen hören. Sie haben keine Freunde, die Ihnen Geld leihen.«

 

»Lord Arranways hat es mir gegeben«, gestand Charles nach langem Schweigen.

 

»Gestern abend?«

 

Charles nickte.

 

»Wo haben Sie ihn denn gestern abend getroffen?«

 

»In seinem Zimmer. Mr. Mayford schickte mich. Ich sollte fragen, ob ich etwas helfen könnte.«

 

»Welche Auskunft wollte er denn für diese zehn Pfund haben?« fragte Collett ärgerlich über die ausweichende Art dieses undurchsichtigen Burschen. »Ich nehme an, daß Sie Lady Arranways beobachten sollten, nicht wahr?«

 

Charles rührte sich nicht.

 

»Sie haben ihm alles berichtet, was Sie gesehen haben oder was Sie glaubten gesehen zu haben. Deswegen hat es auch am Telefon so lange gedauert. Ich habe mich nämlich mal auf der Post erkundigt.«

 

Charles machte Anstalten, das Zimmer zu verlassen, aber Collett rief ihn zurück.

 

»Ich werde Sie schon zum Sprechen bringen«, brummte Collett. »Was haben Sie dem Lord gesagt?«

 

»Also, Sie sollen es hören. Ich habe ihm erzählt, daß Mylady den ganzen Nachmittag mit Keller zusammen war. Ich wußte nicht, ob es stimmte, aber das wollte er doch hören. Und einem Mann, der so wütend ist, muß man doch sagen, was er wissen will. Etwas anderes hätte er mir sowieso nicht geglaubt.«

 

»Mit anderen Worten: Sie haben gelogen«, sagte Collett streng. »Lady Arranways hat Mr. Keller am Nachmittag überhaupt nicht gesprochen.«

 

Charles sah unruhig nach rechts und links, nur nicht Collett in die Augen.

 

»Ich habe in meinem ganzen Leben keine Chance gehabt –«, begann er.

 

»Und jetzt glauben Sie, bei Lord Arranways leicht zu Geld zu kommen, indem Sie ihm Nachrichten besorgen, zuerst richtige, später falsche. – Wahrscheinlich war der Lord sehr aufgeregt, nicht wahr?«

 

»Ja, ein bißchen«, gab Charles zu.

 

Collett nickte.

 

»Sie können gehen, mein Lieber.«

 

Die Köchin brachte ihm den Tee, und er trank nachdenklich die Tasse aus.