6

 

Anthony Braid saß bei seinem einsamen Mahl. Der Tisch war mit einer Sorgfalt gedeckt, als erwarte er die erlauchtesten Gäste. Er saß am Kopfende des Tisches in tadellosem Gesellschaftsanzug, obwohl er nicht beabsichtigte auszugehen. Es war halb zehn Uhr. Er hatte seinen Trainer zu Tisch geladen, doch der hatte in Newmarket den Anschluß verpaßt und telefoniert. Jetzt kam er und stammelte Entschuldigungen. Er war ein sehniger Mann mit gebräuntem Gesicht, wie es Leute haben, die den größten Teil ihres Lebens in freier Luft zubringen.

 

»Ich haben den Zweijährigen gekauft«, begann er, während der Diener ihm den Stuhl zurechtrückte und ihm ein Glas Portwein eingoß. »Aber ich muß Ihnen sagen, Mr. Braid, daß ich nicht sonderlich begeistert bin. Er ist dreimal dieses Jahr gelaufen und, obwohl er in dem einen Rennen gezeigt hat, was er kann, schwört sein früherer Trainer, daß er ein Verbrecher ist.«

 

Braid lächelte.

 

»Alle Pferde sind Verbrecher, wenn man sie nicht versteht«, belehrte er. »Ich bin in meinem Leben nur zwei unverbesserlichen Sündern begegnet. Ich wette, was Sie wollen, ›Quintil‹ gehört nicht zu dieser Sorte.«

 

Mr. Sanford trainierte Braids Pferde in Berkshire, einige Meilen hinter Newbury. Nachdem der Diener sich entfernt hatte – dieser teilnehmende junge Mann wäre viel lieber im Zimmer geblieben und hätte zugehört –, hatte Sanford eine Menge Neuigkeiten zu berichten. Braid hörte aufmerksam zu und sprach selbst nur wenig.

 

»Übrigens, Mr. Braid, ist da so ein neuer Kiebitz bei unserem Training erschienen. Ich kenne mich nicht in ihm aus. Gewöhnlich taucht er Sonnabend und Sonntag früh auf. Es ist keiner von den Regelmäßigen – ich sehe ihn nur am Weekend – also kein echter Trainingskiebitz. Er hat ein Haus in der Nachbarschaft. Sie erinnern sich vielleicht an das alte, rote Gebäude – muß wohl schon hundertzwanzig Jahre alt sein – war in vorgeschichtlichen Zeiten eine Pfarre – dann kam es an einen Müller. Ist nicht größer als ’ne Scheune … rechts von der Straße, wenn man von Newbury kommt.«

 

Braid hatte kein sonderliches Interesse an Kiebitzen und alten Häusern, erklärte aber höflich, daß er sich an den Ort erinnere.

 

»Ich hab‘ keine Ahnung, was dieser Mann dort treibt oder was er auskundschaften will. Ich glaube, es ist ein Deutscher.«

 

Anthony Braid öffnete die Augen: »Ein Deutscher?«

 

»Ich glaube. Genau weiß ich’s nicht«, erklärte der vorsichtige Sanford. »Einige von den anderen Trainern verbaten sich das Bekiebitzen ihrer Pferde, aber ich denke eher, er kommt, um sich ein paar Augenblicke zu erholen, obwohl man natürlich nie wissen kann, was diese Kiebitze im Schilde führen. Ich erinnere mich, vor einigen Jahren …«

 

Tony Braid ließ eine endlose Geschichte von einem Kiebitz über sich ergehen, der irgendeine merkwürdige Rolle gespielt hatte und in ein höchst wichtiges Verfahren verwickelt worden war. Endlich unterbrach er.

 

»Weshalb halten Sie ihn für einen Deutschen?«

 

»Sein Name klingt mir deutsch«, erläuterte Sanford. »Max Guelder.«

 

Tony Braid setzte sich steif im Stuhl auf.

 

»Rex Guelder, meinen Sie! Wie sieht er aus? Ein dicker Mann mit Brille und einem kleinen Schnurrbart?«

 

Sanford nickte.

 

»Das ist genau seine Beschreibung. Er ist doch ein Deutscher, nicht wahr?«

 

»Holländer«, sagte Braid und lehnte sich im Stuhl zurück. Seine Langeweile war plötzlich verflogen. »Haben Sie sonst noch jemanden dort bemerkt?«

 

»Ja, manchmal kommt noch ein Mann«, bestätigte Sanford, »offenbar ein Reicher. Er fährt einen prachtvollen Wagen.«

 

»Ziemlich jung?« erriet Braid, »mit einem roten Gesicht?«

 

Sanford nickte wieder. »Das ist er. Er kommt aber nicht oft. Ich habe ihn nur zwei-, dreimal gesehen oder vielmehr, ich habe seinen Wagen im Hof gesehen.«

 

Tony Braid war sehr nachdenklich geworden. Er kannte Rex Guelder nur als eine Art schwerfälliges Faktotum des sehr schlauen und skrupellosen Julian Reef. Er wunderte sich ein wenig, daß Julian an Rennproben Interesse finden sollte.

 

»Wahrscheinlich war er nur zufällig dort«, sprach er seine Gedanken laut aus. »Ich glaube nicht, daß Mr. Guelder sich für Rennen interessiert. Doch darüber werden wir sehr bald Gewißheit haben. Ein Freund besucht mich um zehn …«

 

Während er noch sprach, läutete die Glocke an der Haustür. Wenige Sekunden später meldete der Diener den Besuch.

 

Der dünne Mr. Elk zerbiß den Zigarrenstummel im Mundwinkel. Er schlurfte ins Zimmer, nickte Tony zu, warf nachlässig einen Blick aus halbgeschlossenen Lidern auf den Trainer und setzte sich dann auf den Stuhl, den der Diener ihm zuschob. Er ließ seine Blicke durch das Zimmer wandern, über die alten Meister an der Wand, die unschätzbaren Gobelins und schmunzelte.

 

»Genauso denke ich mir ’ne Kaschemme«, scherzte er.

 

Braid schob ihm die Zigarrenkiste hin, er wählte mit Kennerblick eine Corona.

 

»Zigarren sind meine Schwäche«, erklärte er. »Hab‘ mir dieses Laster in Amerika angewöhnt. Für eine Kiste guter Odoras hätte ich den Mörder Crippen entspringen lassen.«

 

Er biß die Spitze ab, zündete die Zigarre an und sog schwelgerisch.

 

»Ich bin durchaus für Korruption und Bestechung«, gestand er. »Was ist in der Karaffe, Mr. Braid? Sieht aus wie rote Tinte. Ist es wohl auch?«

 

Er schob den Diener beiseite und goß sich selbst ein.

 

»Trinken und Rauchen sind der Ruin des unteren Mittelstandes – und Wetten«, fügte er hinzu. »Man erzählt mir, daß Ihr Gaul, Barley Tor, den Steward-Pokal gewinnen wird. Ich bezweifle das.«

 

»Mr. Sanford wird Ihnen darüber einige Andeutungen machen können«, wies ihn Braid zurecht.

 

Elk nickte.

 

»Ich erkannte Mr. Sanford sofort – sah sein Bild neulich in der Zeitung – ein sehr vornehmes Sportblatt. Alles Bilder von Leuten, die sich bei den Rennen wichtig tun: Lord dies und Lady das, die ehrenwerte Frau Soundso mit dem ehrenwerten Herrn Auchdabei. Das nenn‘ ich Vornehmheit. Nicht der ›Barley Tor‹ wird den Steward-Pokal gewinnen …«

 

Er wollte weiterreden, doch da unterbrach ihn Braid.

 

»Sie kennen doch alle Leute, die sich auf den Rennbahnen herumtreiben?«

 

Elk bejahte.

 

»Kennen Sie einen Mann namens Rex Guelder – einen Holländer?«

 

Zu seinem Erstaunen bejahte Elk wieder. »Der System-Onkel. Ja, ich kenne den Mann, der für ihn Wetten bucht. Wissen Sie, wenn ein Ausländer den Rennfimmel hat …!«

 

»Aber Sie meinen ganz sicher einen anderen«, rief Braid, »der Mann, den ich meine, ist …«

 

»Ist Prokurist bei Julian Reef, Esquire, Millionär und das Gegenteil«, ergänzte Elk. »Ich irre mich übrigens nie, Mr. Braid, vor allem nicht in diesem besonderen Fall. Denn ein Mitglied des Buchmacherstandes, der sich mein Freund nennt, Isidor Wayne, fragte mich, ob ich diesen armen Holländer kenne, der mit dreitausend Pfund bei ihm zu Buch steht. Und Wayne leidet lange, ehe er mal jammert.«

 

Trainer und Besitzer wechselten vielsagende Blicke.

 

»Ich will Ihnen noch etwas sagen. Guelder hat mich ja gerade auf die Spur Ihres Renommiergauls ›Barley Tor‹ gebracht. Er hat bei Wayne hoch auf ihn gesetzt.«

 

»Dann kiebitzt er doch!« fiel Sanford heftig ein. »Er war auf dem Rasen, als ich ›Barley Tor‹ neulich mal auslaufen ließ.«

 

»Warum nennen Sie ihn ›System-Onkel‹?« erkundigte sich Braid.

 

Mr. Elk seufzte schwer.

 

»Wenn ich irgend etwas auf der Welt hasse, Mr. Braid, dann sind es lange Erklärungen«, sagte er, »aber so nennt ihn der alte Wayne. Er setzt auf Pferde nach einem gewissen System. Dieser Guelder hat offenbar den Wissenschaftstick. Er war Professor oder so etwas, geriet aber in Schwierigkeiten und verließ Amsterdam vor einigen Jahren mit ziemlicher Plötzlichkeit – vielleicht war’s auch Rotterdam. Jedenfalls war ein ›dam‹ dabei, das weiß ich genau. Wir erhielten keine Anfragen von der niederländischen Polizei. Mit dem Mädel war wohl nicht viel los. Sie war seine Freundin und starb etwas plötzlich. Einige behaupteten, es wäre Selbstmord – aber nicht viele. Jedenfalls, Guelder ist klug. Man sagt, er beschäftigt sich damit, das – wie heißt’s doch gleich? – Dingsda des Lebens zu suchen.«

 

»Das Elixier des Lebens?« fragte Tony.

 

»Das ist das Wort! Ich weiß nicht, was es bedeutet, aber es klingt fein. Und dann hat er die verrückte Idee, daß er was entdecken kann, das Blei in Gold verwandelt. Es gibt ’ne Menge in der Irrenanstalt, die dieselbe Entdeckung gemacht haben.«

 

Das war nun allerdings eine interessante Auskunft für Tony Braid. Er kannte Guelder vom Sehen, hatte ihn ein- bis zweimal gesprochen, doch nie hatte der feiste Niederländer die leiseste Andeutung über Pferde gemacht. Tony äußerte dies, worauf Mr. Elk nur mitleidig grinste.

 

»Kein Mensch läuft herum und prahlt mit seinen Lastern«, belehrte er Braid, »außer Golfspielern. Dieser Bursche Guelder ist geradezu bares Geld für die Wetthähne. Er hat schon Tausende verloren.«

 

Braid war beunruhigt. Er hatte für Julian Reef wahrhaftig nicht viel übrig, war aber überzeugt, daß er von dieser sonderbaren Schwäche seines Freundes nichts wußte. Nach seiner Kenntnis der Sachlage konnten sich weder Guelder noch Reef den Verlust von Tausenden in der Woche leisten. Er kannte Julians Lage und wußte, daß er trotz seines scheinbaren Reichtums dem Ruin entgegenging. Eine Krise in Julians Geschäften aber konnte sehr leicht Frensham bedrohen – und Ursula.

 

Aus diesem Grund beunruhigte ihn diese Nachricht. Er bezweifelte Elks Bericht nicht eine Sekunde lang. Der dürre Detektiv gab Auskunft über die unmöglichsten Dinge. Das Pech, das er einst bei seinem Staatsexamen gehabt hatte, zwang ihn, sich jahrelang mit einer Stellung zu begnügen, die ihm eine weit bessere Gelegenheit bot, Menschen und Dinge kennenzulernen, als wenn er sein Examen summa cum laude bestanden hätte und in Amt und Würden befördert worden wäre. Er sammelte Material über Männer und Frauen mit demselben fanatischen Eifer und Fleiß, mit dem andere Marken sammeln. Sein Gedächtnis war ein Wunder. Er konnte sich zwar nicht, wie er selbst sagte, genau an das Datum erinnern, an dem die Königin Elisabeth die Parade über ihre Armee bei Tilbury abnahm; aber er wußte genau, wo Jonny, der Fassadenkletterer, die lange Narbe am Hinterkopf her hatte und warum ein bestimmtes Mitglied der Regierung so verblüffend plötzlich gestorben war. Viele wohlverwahrt geglaubte Geheimnisse waren Elk so vertraut, daß er sie schon fast vergessen hatte. Fast – aber niemals ganz. Denn er konnte im gegebenen Augenblick aus den Fächern seines Gedächtnisses die bloßstellendsten und fatalsten Einzelheiten mancher längst vergangener, romantischer Geschichten und halbvergessener Betrügereien hervorkramen.

 

»Kennen Sie Lord Frensham?« fragte Braid.

 

Elk nickte.

 

»Guter Freund von Ihnen, wie? Braver Bursche, aber pleite. Ich war neulich in St. James‘ Street, mußte da Erkundigungen wegen einer Unterschlagung einziehen. Ich warf dabei einen Blick in sein Büro. Wissen Sie, daß er ein Büro in St. James‘ Street hat?«

 

Tony lächelte breit.

 

»Das ist eins von den wenigen Dingen, die ich weiß«, scherzte er. »Lord Frensham ist Direktor mehrerer Gesellschaften, die ihren Sitz in seinem Büro haben.«

 

»Na ja, das wissen Sie«, gab Elk zu, »aber ich wette, die Geschichte seiner Etagenwohnung kennen Sie nicht – jedenfalls war das mal eine Wohnung …«

 

Er blickte auf, denn die Tür wurde geöffnet, und der Diener erschien. Braid hatte das Telefon läuten hören und war beim Eintritt des Dieners schon auf dem Sprung. Er wußte sofort, daß es ein wichtiger Anruf war, denn er hatte strenge Weisung gegeben, ihn nur in diesem Fall zu stören.

 

»Lady Frensham.«

 

Braid eilte in sein Arbeitszimmer und nahm den Hörer.

 

»Sind Sie es, Tony?« Ursulas Stimme klang nervös, etwas verängstigt, schien ihm, und er wurde unruhig.

 

»Können Sie schnell mal herkommen? Vater ist noch nicht zum Essen nach Hause gekommen. Irgendwas Schlimmes muß passiert sein.«

 

»Ich bin in fünf Minuten bei Ihnen«, rief er. »Machen Sie sich keine Sorge. Es ist doch noch nicht so spät.«

 

»N – ein, nur bat er mich ausdrücklich, auf ihn zu warten. Er habe mir etwas Wichtiges mitzuteilen.«

 

Tony Braid ging zu seinen Gästen zurück, entschuldigte sich bei Sanford und war wenige Minuten später mit Elk unterwegs nach Hampstead.

 

»Was ist mit Frensham?« fragte Elk.

 

»Nichts Besonderes«, wich Tony aus.

 

»Merkwürdig, daß die junge Dame sich dann so über sein Ausbleiben beunruhigt.«

 

Da sagte Braid: »Ich kann es Ihnen ja sagen, Elk. Sie sind immer ein anständiger Kerl gewesen. Ihre Diskretion hat manche Probe bestanden. Frensham ist in einer heiklen Lage. Gerade vor Tisch heute abend hat er mich angerufen und gefragt, ob ich ihm fünfundsiebzigtausend Pfund borgen könne.«

 

Elk pfiff durch die Zähne.

 

»Natürlich haben Sie nein gesagt!« orakelte er. »Ich bin gegen die Pumperei. Wenn ich all das Geld hätte, das ich schon verliehen habe, wäre ich ein Rothschild.«

 

»Ich habe selbstverständlich ja gesagt«, bekannte Braid gelassen, »und habe ihm den Scheck durch einen Dienstmann ins Büro geschickt.«

 

»Warum fahren wir da nicht lieber erst ins Büro?« schlug Elk vor. Braid schüttelte den Kopf.

 

»Ich rief ihn eine Stunde, nachdem ich ihm das Geld geschickt hatte, an, um zu fragen, ob die Summe genüge, erhielt aber keine Antwort.«

 

»Ist der Scheck abgegeben worden?«

 

Elk war merkwürdig interessiert.

 

»Ja. Der Dienstmann kam zurück und sagte, er habe ihn Frensham gegeben.«

 

Elk stellte weiter keine Fragen. Gleich darauf erreichten sie das Haus und fanden Ursula wartend vor der Tür. Braid hielt den Wagen an und sprang heraus. Elk verschwand im Hintergrund.

 

Als Braid Ursulas Hand ergriff, fühlte er, wie sie zitterte.

 

»Warum regen Sie sich auf?« fragte er sanft. »Was ängstigt Sie so, meine Liebe?« Er streichelte zärtlich ihre Hand. »Ich sollte Angst haben – Ihr Vater hat mir verboten, sein Haus zu betreten, und hier stehe ich und beruhige seine Tochter.«

 

Doch Ursula ging nicht auf den scherzhaften Ton ein.

 

»Tony«, warnte sie leise. »Julian ist hier, er kam vor einer Viertelstunde. Er sagt, er sei in Vaters Büro gewesen, habe ihn aber nicht angetroffen.«

 

»Julian ist hier?« fragte Braid betroffen. »Das ist mir sehr unangenehm. Da wird mir nichts weiter übrigbleiben, als nett zu ihm zu sein.«

 

Wenn er etwa Zweifel über Julians Haltung ihm gegenüber gehegt hatte, so wurden sie behoben, sobald er das Haus betrat. Der junge Mann mit dem roten Gesicht durchmaß mit großen Schritten die breite Diele. Mit einem nervösen Lächeln eilte er sofort auf ihn zu.

 

»Ich habe mich bei Ihnen zu entschuldigen, Braid«, sagte er. »Ich bin Ihnen nicht länger bös wegen Ihres linken Hakens.« Dann sprach er rasch in einem ernsteren Ton weiter. »Ich bin wegen Frensham beunruhigt. Er war heute nachmittag in meinem Kontor, wir hatten eine offene Aussprache über allerlei Aktien. Ich sollte ihm ein Depot aushändigen, das ich für Ursula verwalte. Tatsächlich hat er diese Aktien bereits seit drei Monaten im Besitz. Er benahm sich so merkwürdig, daß ich ihn für krank hielt. Ich wollte Ursula anrufen, aber ich wollte sie nicht erschrecken.«

 

Sie waren im Salon. Es war eine heiße Nacht. An der sachten Bewegung der Gardinen erkannte Braid, daß die bis zur Erde niederreichenden Fenster offenstanden.

 

»Ich rief heute abend in seinem Büro an«, fuhr Julian fort, »und kam hierher, weil sich niemand meldete.«

 

»Arbeitet er oft so spät in seinem Büro?« fragte Braid, die Augen fest auf den jungen Mann gerichtet.

 

»Sehr oft.« Ursula gab die Antwort. »In letzter Zeit ist er Nacht für Nacht dort gewesen. Ich glaube, er macht sich große Sorgen um die Lulanga-Gesellschaft. Ich würde mich gar nicht beunruhigen, wenn er sich nicht so bestimmt mit mir für halb neun Uhr verabredet hätte. Er weiß, daß ich seinetwegen einen Theaterbesuch aufgegeben habe.«

 

Braid rieb sich nachdenklich das Kinn. Seine Augen durchforschten noch immer Julian Reefs Züge.

 

»Ich werde nach St. James‘ Street fahren und nachsehen, was ihn aufhält«, entschied er.

 

»Ich komme mit«, erbot sich Julian.

 

Doch Braid schüttelte den Kopf. »Das ist nicht nötig, danke sehr. Da draußen wartet ein Freund auf mich – Inspektor Elk. Vielleicht haben Sie schon von ihm gehört?«

 

»Elk?«

 

Selbst Ursula fiel die Veränderung in Julians Stimme auf. Sie klang plötzlich hart. Er schrie das Wort fast.

 

»Elk? Der lange Patron? O ja, den kenne ich. Er ist hier? Wie seltsam!«

 

Sein Gesicht wechselte dauernd die Farbe.

 

»Ja, ich bin ihm schon begegnet«, fuhr er fort. »Ein drolliger Vogel von Scotland Yard, der meistens über Bildung phantasiert. Dann brauchen Sie mich also nicht.«

 

Als Braid auf die Straße kam, saß Elk auf dem Trittbrett seines Wagens, eine Zigarre zwischen den Zähnen.

 

»Lady Frensham ist über ihres Vaters Ausbleiben arg in Unruhe«, berichtete Tony. »Ich fahre in sein Büro.«

 

»Ich weiß«, sagt Elk, während er in den Wagen kletterte. »Dem Burschen Reef hat es ja einen ordentlichen Schock gegeben, als er hörte, daß ich hier bin. Aber wenn er sagt, daß ich von nichts anderem als von Bildung phantasiere, lügt er infam!«

 

»Nanu?« staunte Braid.

 

»Ich habe am Fenster gehorcht«, erklärte Elk gelassen. »Ich finde, das ist eins der einfachsten Mittel, sich zu unterrichten: horchen und schweigen. Und was ist das mit den Aktien und dem Scheck? Großer Herr, dieser Reef – denkt in Millionen, spricht in Zehntausendern und zahlt in Sechsern.«

 

Als sie zu dem Büro kamen, fanden sie das Tor verschlossen. Braid wollte nach Hampstead zurückkehren, doch der Detektiv drang darauf, daß man einen Versuch mache einzudringen.

 

»In dem Gebäude gibt es einen Portier und eine Menge Reinemachefrauen, das weiß ich genau. Bummern Sie mal gegen die Tür.«

 

Braid tat es, und nach kurzer Zeit öffnete eine Reinemachefrau die Tür einige Millimeter und ließ sie ein, als Elk sich als Kriminalbeamter auswies.

 

»Nein, Sir, wir waren noch nicht in Lord Frenshams Büro«, gab sie Auskunft. »Das ist eine ganz geheimnisvolle Sache: wir haben alle Schlüssel ausprobiert, aber keiner paßt. Meine Kolleginnen sagen, es muß von innen verriegelt sein.«

 

Sie stiegen zur zweiten Etage hinauf, und die Frau überzeugte sie, daß die Tür mit Hilfe der Schlüssel nicht zu öffnen war. Es war eine typische Bürotür, die obere Hälfte aus Milchglas mit der Inschrift »Lulanga-Öl-Aktiengesellschaft«.

 

»Unter diesen Umständen«, sagte Elk, »ist alles gerechtfertigt. Borgen Sie mir mal Ihren Handfeger, junge Frau.«

 

Die Alte reichte ihm einen kurzen Handfeger und trat auf sein Geheiß zurück. Zwei Hiebe zerschmetterten die Scheibe. Elk entfernte sehr vorsichtig die Scherben, ehe er seine Hand hindurchstreckte und den Riegel zurückschob. Dann reichte er den Handfeger mit einem liebenswürdigen Lächeln zurück.

 

»Jetzt könnt ihr beiden Damen mal verschwinden. Wenn wir euch brauchen, werden wir rufen«, sagte er.

 

Zögernd verschwanden die Frauen in den unteren Regionen. Sie witterten eine Sensation.

 

»Ich hoffe, Ihre Magennerven sind ziemlich kräftig«, sagte Elk, denn er hatte schon gesehen …

 

Ein Knipsen, und das Licht flammte auf. Frensham lag vorgebeugt über dem Schreibtisch, den Kopf auf einer Hand liegend. Das weiße Löschpapier war blutbespritzt. Die geballte, weiße Faust, die auf dem Tisch lag, umfaßte einen Revolver.