17

 

»Weißt du, daß du beobachtet wirst?« fragte Julian Reef.

 

Guelder schrak zusammen, die dicke Unterlippe hing ihm mit einem Ausdruck des Entsetzens herab.

 

»Beobachtet?« keuchte er, »von der Polizei? Barmherziger Gott!«

 

Mit boshafter Befriedigung fuhr Julian fort:

 

»Ich habe Elk kürzlich zweimal in der City getroffen, und beide Male ging er wenige Meter hinter dir. Kennst du ihn?«

 

»Den langen Halunken? Ja, natürlich. Wir sind dicke Freunde.« In der Aufregung sprach er kein gutes Englisch.

 

»Ich weiß wirklich nicht, »was ihn dazu veranlassen könnte, aber jedenfalls ist er dir auf der Spur.« Reef ließ eine kleine Pause verstreichen, ehe er die Frage stellte, zu der es ihn drängte.

 

»Guelder, du warst in der vergangenen Woche viel verreist. Soviel ich weiß, warst du Montag in Birmingham und Mittwoch in Cardiff. Was ist los? Irgend etwas hetzt dich umher.«

 

Rex Guelder gab gelassen Auskunft.

 

»Mein lieber Junge, ich bin Gelehrter. Ich muß bestimmte Teile meiner Maschinen prüfen und ausprobieren, ehe ich sie kaufe. Wo diese Teile zu haben sind, da fahre ich hin. Eine ganz einfache Sache.«

 

»Glaubst du, daß Elk dir auch dahin gefolgt ist?«

 

Sekundenlang funkelte ein Flackern der Bestürzung in den Glotzaugen des Niederländers.

 

»Ich habe ihn jedenfalls nicht bemerkt«, sagte er gequält.

 

»In jedem Fall hätte er ja auch nichts weiter beobachtet, als daß du elektrische Apparate kaufst«, meinte Julian mit kaum verhehltem Argwohn.

 

»Allerdings«, sagte Guelder.

 

Als Julian etwas später seine Post durchsah, fand er einen Brief in einer ihm bekannten Handschrift. Er riß ihn auf und wunderte sich, was Tony Braid ihm zu sagen habe. Es war eine kurze, geschäftliche Mitteilung. Bei der Durchsicht des Aktienregisters hatte Braid festgestellt, daß gewisse Lulanga-Aktien des verstorbenen Frensham nicht in völlig gesetzmäßiger Form übertragen worden waren. Jedenfalls fehlte die Bescheinigung. Er legte die notwendigen Dokumente mit der Bitte an Julian bei, sie zu unterschreiben.

 

Lange blickte Reef auf die Papiere, den Federhalter in der Hand. Dann legte er ihn nieder und klingelte nach Guelder.

 

Wenn Rex auch sehr wenig von den Geheimnissen der Börse verstand, die Möglichkeiten, die sich hier boten, würde er begreifen, auch wenn er kein Sachverständiger in Finanzdingen war.

 

»Wieviel waren es?« fragte Guelder.

 

»Etwa fünfzigtausend«, erwiderte Julian und blickte auf die Papiere. »Genau neunundvierzigtausendfünfhundert.«

 

Er kannte im voraus die Antwort des Holländers.

 

»Hm, mein Freund«, sagte er, »wenn sie an Frensham nicht ordnungsgemäß übertragen worden sind, gehören sie dir; oder wollen wir lieber sagen: mir? Ich bin dein Sozius.«

 

Ohne aufzublicken erwiderte Julian: »Darauf fällt der nicht ‚rein.«

 

»Aber vielleicht fällt das gnädige Fräulein Ursula darauf ‚rein. Sie ist doch eine Frau von Ehre«, fügte er schlau hinzu, »und wird sich nicht an Aktien bereichern wollen, die ihr nicht gehören.«

 

»Sie gehören ihr«, verwies Julian grob. »Stell dich doch nicht dümmer, als du bist!«

 

»Wenn ich nun behaupte, daß sie ihr nicht gehören! Wenn ich zum Beispiel zu der Dame ginge – mit einer kleinen, niedlichen Geschichte. Wie wäre das, mein Freund?«

 

Julian biß ich auf die Lippen. Er brauchte wieder einmal dringend Geld. Der Aktienerlös war längst den Weg aller Dinge gegangen. Selbst Guelder hatte keine Ahnung, wie verzweifelt seine Lage war.

 

»Es scheint mir ein sehr schmutziger Streich zu sein«, sagte er endlich matt. »Es widerstrebt mir eigentlich. Aber wenn man die Sache näher betrachtet, gehören die Aktien wirklich uns.«

 

Guelder klopfte ihm auf die Schulter.

 

»Ganz meine Meinung«, rief er, »laß mich nur machen!«

 

*

 

Das Leben verrann sanft und still in Hampstead. Ursula hatte einen Kreis guter Freunde.

 

Obwohl sie wenig ausging und nur selten jemand empfing, hatte sie die Gabe, dauernde Freundschaften, eins der schönsten Geschenke wahrer Menschlichkeit, zu begründen und zu unterhalten.

 

Am Tag, bevor die Diamantenaktien sich so sonderbar benahmen, erhielt sie einen Brief, dessen Handschrift ihr völlig unbekannt war. Ein Botenjunge überbrachte ihn. Aus der Schrift schloß sie auf einen Ausländer und wunderte sich, wer sie mit »Die Lady Ursula Frensham« anreden könnte. Der Brief enthielt nur zwei Zeilen. Als sie die Unterschrift suchte, entdeckte sie zu ihrem Erstaunen ein schwunghaftes Gekritzel, das sie als Rex Guelder entzifferte.

 

Lady! Darf ich die Ehre haben, Sie heute zu besuchen? Bitte, empfangen Sie mich in einer höchst wichtigen Angelegenheit.

 

Da auf dem Briefkopf weder Adresse noch Telefonnummer stand, blieb ihr keine Möglichkeit, den Besuch abzuweisen.

 

Trotzdem hätte Ursula sich von Rex Guelder verleugnen lassen, wenn die gewisse weibliche Neugierde nicht so groß gewesen wäre. Sie zögerte daher kaum, als sie die große Visitenkarte las.

 

»Lassen Sie ihn eintreten, Jane, aber kommen Sie in zehn Minuten unter irgendeinem Vorwand herein und rufen Sie mich ab.«

 

Guelder trug einen schwarzen Rock, eine flammendrote Krawatte und in der Hand einen steifen Hut. Sein Gesicht glänzte nicht weniger als seine goldene Brille; denn er war bis zur Fitzjohn’s Avenue zu Fuß gegangen. Er hatte seine geheimen Gründe.

 

»Sie sind überrascht, mich zu sehen«, begann er mit einem unsympathischen Lächeln, »das begreife ich. Ich bin sozusagen von der Konkurrenzfirma. Sie werden mich fragen, warum ich nicht gleich zu dem ausgezeichneten Mr. Braid gegangen bin. Doch wir wollen die Angelegenheit durchaus freundschaftlich regeln. Es liegt uns nichts ferner, als Sie vor ein Gericht zu zitieren.«

 

Schon bei diesem Gedanken heuchelte er tiefstes Mitgefühl.

 

»Ich fürchte, ich verstehe nicht recht, was Sie meinen«, entgegnete Ursula. »Wenn die Angelegenheit Mr. Braid angeht, ist es freilich zwecklos, daß Sie mit mir verhandeln. Und wenn es eine geschäftliche Angelegenheit ist, ist mein Rechtsanwalt zuständig.«

 

Wieder schüttelte er den Kopf.

 

»Wir möchten gern einen Prozeß vermeiden, meine reizende junge Dame.«

 

Seine Augen betasteten sie. Wieder empfand sie jenes Gefühl heftiger körperlicher Pein, das sie Tony beschrieben hatte.

 

»Es ist eine ganz belanglose Angelegenheit«, fuhr er rasch fort. »Ihr beklagenswerter Herr Vater, dessen Tod – oh, diese Tragik! – mich und meinen lieben Freund Julian eines wahren, großmütigen Freundes beraubt hat – Ihr teurer Papa war mit dieser Angelegenheit eng verknüpft. Er besaß Aktien, wir besaßen Aktien – es ging ein wenig durcheinander. An manchen Tagen sandte ich ihm einige tausend, an anderen sandte er mir einige tausend. Wir Männer waren sorglos, großmütig, nicht kleinlich veranlagt. Gestern suchte ich fünfzigtausend Stück Lulanga. Wer würde bei diesem überraschenden Kurs nicht verkaufen? Ich bin ein armer Mann. Ich durchsuche meinen Geldschrank, ich frage bei meiner Bank an, ich stürze zu meinem Makler. Überall Kopfschütteln. Dann kontrolliere ich mein Geschäftsbuch. Und was finde ich? Ich finde fünfzigtausend Lulanga als Darlehen an Lord Frensham. Eine belanglose Kleinigkeit. Er hatte Ärger mit seiner Bank, mußte als Sicherheit hundert-, zweihundert-, ich weiß nicht wie viele hunderttausend Aktien hinterlegen. Er rief mich an: ›Mein lieber Guelder, ich bin in Verlegenheit. Ich muß zur Sicherheit Aktien hinterlegen, und weil die Lulanga so wertlos sind, verlangen sie von mir eine unerhörte Menge.‹ Feine Gelegenheit. Ich freue mich, dem hochherzigen Mann gefällig sein zu können. Im selben Moment hat er auch schon die Aktien. Keine Form, keine Zession, keine kleinlichen Rechtskniffe – nichts. Ich schicke ihm einfach die Aktien durch einen Botenjungen – sie sind ja an sich wertlos – und vergesse sie ganz. Wozu soll man sein Gedächtnis mit Aktien belasten, die scheinbar wertlos sind, nicht wahr? Vielleicht nachlässig. Aber es ist ja für mich kein Geschäft, sondern Ehrensache. Soll ich Sie jetzt in Ihrem Kummer belästigen, fragte ich mich? Ich berate mich nicht mit meinem guten Freund Julian. Auch er ist ein Ehrenmann, voller Zartgefühl, mit hohen Grundsätzen, dazu noch der Neffe unseres hochgeschätzten Freundes Frensham. Mir, der den nackten Vorteil der Firma vertritt, bleibt natürlich die schmerzliche Pflicht –«

 

Er hielt inne, um Atem zu schöpfen. Ursula hatte das zusammenhanglose Gerede voller Schlauheit und heuchlerischem Mitgefühl ruhig angehört und begriff sofort den Zweck dieses Besuches.

 

»Mit anderen Worten wollen Sie sagen, daß von den zweimalhunderttausend Aktien, die mein Vater mir hinterlassen hat, fünfzigtausend Ihnen gehören?«

 

»Zu meinem lebhaften Bedauern meine ich das. Es ist beklagenswert und …«

 

Sie unterbrach ihn. »Und ausschließlich eine Angelegenheit des Testamentsvollstreckers, scheint mir.«

 

Er nickte heftig mit dem dicken Kopf.

 

»Ja, Mr. Braid. Unleugbar. Aber wenn ich zu Mr. Braid gehe, was geschieht dann? Er höhnt, er schnippt mit den Fingern, er sagt: ›Tun Sie, was Sie nicht lassen können.‹ Dann treten die Anwälte in Aktion, es gibt Prozesse und langwierige Verhandlungen, in denen allerhand unangenehme Dinge zur Sprache kommen. Zum Beispiel!« Er hob nachdenklich seinen plumpen Zeigefinger und dozierte: »Zum Beispiel: an seinem Todestag kam Ihr Vater zu dem guten Julian und forderte von ihm die Aktien, die Julian für Sie verwaltete. Weshalb? Wozu? Weil er sie für sich verwerten wollte. Bitte, unterbrechen Sie mich nicht! Ihre Empörung ehrt Sie, meine reizende Dame, aber von mir hören Sie die Wahrheit, die unleugbare Wahrheit –«

 

»Nach Julians eigener Behauptung waren diese Aktien schon seit Wochen in meines Vaters Besitz«, antwortete sie kaltblütig.

 

Sekundenlang stand Mr. Guelder fassungslos da.

 

»Sie möchten Ihren Vater gern decken, aber die Wahrheit muß heraus. Ich sehe schon die Abendblätter mit den bösen Überschriften ›Seltsame Beschuldigung gegen einen verstorbenen Edelmann‹. Sehr peinlich, sehr peinlich! Auch hat bei der Totenschau Mr. Braid vor Gott beschworen, daß der verstorbene Frensham nicht in Geldverlegenheit gewesen ist. War das die Wahrheit? Sie sehen, wie viele delikate Dinge dann zur Sprache kommen könnten, zur Freude sensationshungriger Mitmenschen.«

 

»Mr. Guelder«, unterbrach sie ihn wieder, »mir scheint, Sie verkennen meine Situation gründlichst, wenn Sie sich auch nur einen Augenblick einbilden, ich würde meinen Einfluß auf Mr. Braid benutzen, Ihnen die fünfzigtausend Aktien zu verschaffen. Ich habe mit der ganzen Angelegenheit nicht das geringste zu schaffen.«

 

»Sehr richtig, junge Dame, vollkommen richtig«, murmelte eine Stimme.

 

Sie erschrak so heftig bei diesem Laut, daß sie plötzlich aufsprang. Beide hatten Elks leise Schritte beim Überschreiten der Rasenfläche überhört, hatten auch einen schmalen Schatten an der offenen Fenstertür übersehen.

 

»Niemals etwas ausliefern, gnädiges Fräulein, besonders nicht, wenn man Sie bedroht! Das war ja reine Erpressung.«

 

Guelder starrte auf Elk, nicht sehr geistreich und auch nicht heldenhaft.

 

»Mr. Elks«, flüsterte er, »das ist ein unerwartetes Vergnügen.«

 

»Elk«, verbesserte der Detektiv, »Singular, wenn ich bitten darf. Es gibt nur einen Elk, und der bin ich.«

 

Guelders Denkapparat arbeitete heftig. Er gedachte der Mitteilung Julian Reefs. Er wurde tatsächlich beobachtet. Dabei war er heute sehr vorsichtig gewesen! Hatte sich immer umgeblickt, hatte seine Schritte verlangsamt, hatte sich plötzlich umgewandt und den Verfolger gesucht, war unerwartet um Ecken gebogen und hatte nicht die Spur von Elk gesehen. Jetzt würgte ihn die Angst. Die Gesetze Englands waren gemein gegen Leute, die sich in geschäftlichen Dingen harmlose Übergriffe gestatten.

 

»Falls ich etwas gesagt haben sollte, was ich hätte nicht sagen sollen, so bitte ich um Entschuldigung.« Er machte eine tiefe, demütige Verbeugung.

 

»Jedes Wort, das Sie gesprochen haben, war eine Rechtswidrigkeit«, bemerkte Elk und fixierte den Holländer aus halbgeschlossenen Lidern. »Man verlangt ja von Ihnen nicht, daß Sie stets ein Exemplar des Strafgesetzbuches mit sich herumschleppen. Wir befinden uns hier in einem Land, in dem Erpressung nicht zu den Gesellschaftsspielen gehört. Doch ich störe, gnädiges Fräulein.«

 

Sie schüttelte lächelnd den, Kopf. Er konnte in ihren Zügen ein Gefühl der Befreiung lesen.

 

»Da muß ich der Sache ihren Lauf lassen.«

 

Guelder macht einen heroischen Versuch, gleichgültig und geschäftsmäßig zu erscheinen, aber die Heldenpose mißlang durchaus. »Ich werde also auf Rückgabe der Aktien klagen. Ich bedauere meinen Irrtum.«

 

Er streckte eine große, feuchte Hand aus, die zuerst von Ursula, dann von Elk übersehen wurde.

 

Der Detektiv wartete, bis der Holländer verschwunden war.