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Sie nickte, nahm ein Telegrammformular und begann zu schreiben, während Larry mechanisch die eingelaufenen Rapporte durchflog. Dann holte er die Schale aus dem Schrank und begann nach einmal im Tageslicht die verschiedenen Gegenstände zu untersuchen, und kam zuletzt zu der Papierrolle. Jetzt waren die erhabenen Schriftzeichen deutlich sichtbar, und äußerst vorsichtig fuhr er mit dem Finger darüber hinweg. Er war natürlich nicht imstande, Brailleschrift zu lesen, und blickte zu seiner Sekretärin hinüber.

 

»Ist Ihnen nicht irgend etwas Besonderes an diesem Stück Papier aufgefallen?« fragte er und zeigte auf die Braillemitteilung.

 

»O ja«, sagte sie. »Ich habe es mir schon angesehen, bevor Sie kamen. Sie haben doch nichts dagegen?«

 

»Sie können alles prüfen, ausgenommen mein Gewissen!« erwiderte Larry lachend. – »Haben Sie bemerkt, daß die Farbe an einem Ende des Papiers –« er richtete seine Aufmerksamkeit von neuem auf dasselbe – »mehr verblaßt ist?«

 

»Gestern ist mir schon aufgefallen, daß das eine Ende trockener als das andere war«, entgegnete Diana, »und das erklärt auch den Unterschied in der Farbe. Das trockene Ende hat uns die besten Resultate geliefert. So war zum Beispiel das Wort ›Mörder‹ beinah gar nicht vom Wasser angegriffen; er war etwas feucht, aber nicht naß geworden.«

 

Er nickte zustimmend.

 

»So, so!« brummte Larry. »Die Papierrolle muß in Gordon Stuarts Tasche gesteckt worden sein, als sein Körper nicht mehr im Wasser lag.«

 

»In seinen Kleidern war genug Wasser, um das Papier völlig damit zu sättigen, es ist beinahe so aufnahmefähig wie Löschpapier«, fuhr er fort. »Wir haben also bis jetzt folgendes festgestellt: Gordon Stuart ist ertränkt worden, und nach seinem gewaltsamen Tode haben ein oder mehrere Personen sich mit seinem Körper zu schaffen gemacht, von denen eine die Botschaft in seine Tasche gesteckt hat. Diese Person war entweder ein Blinder oder jemand, der annahm –« Er starrte sie an. »Alle Wetter!« Ein Gedanke war ihm durch den Kopf geschossen.

 

»Was wollten Sie sagen?« fragte sie.

 

»Kann das möglich sein –« Er runzelte die Stirn. Die Idee war absurd, und doch –. Wer auch immer die Botschaft in den Taschen des Toten gelassen hatte, erwartete vielleicht, daß Diana Ward sie lesen würde.

 

Sie hatte keine amtliche Stellung im Yard. Daß sie Larry Holt als Sekretärin zugeteilt wurde, war ein rein zufälliger Umstand, der von niemand vorausgesehen werden konnte. Aber ein eiliger Anruf bei dem Personalchef im Präsidium ergab, daß im Augenblick kein Braille-Expert in Scotland Yard existierte. Der einzige Mann, dem die Blindenschrift bekannt war, hatte einen sechsmonatlichen Krankheitsurlaub angetreten.

 

»Ich glaube, Sie können die Annahme, daß die Botschaft für mich bestimmt sein sollte, ruhig als ausgeschlossen betrachten«, sagte das junge Mädchen lächelnd. »Nein, sie ist von einem blinden Menschen aufgesetzt worden, anderenfalls wäre sie ja auch viel besser geschrieben worden.«

 

Die beiden nächsten Stunden wurden mit Erledigung der Briefe an die verschiedenen amtlichen Stellen ausgefüllt. Um elf Uhr stand Larry auf, nahm Mantel und Hut und sagte:

 

»Wir fahren jetzt spazieren.«

 

»Wir?« fragte sie erstaunt.

 

»Ich möchte, daß Sie mitkommen.« Larrys Ton war amtlich, und sie gehorchte stillschweigend.

 

Ein Auto erwartete sie am Eingang des Präsidiums. Der Chauffeur hatte augenscheinlich schon seine Instruktionen erhalten.

 

»Wir fahren nach Beverley Manor – das kleine Nest, das Stuart so regelmäßig aufgesucht hat«, erklärte er. »Es liegt mir viel daran, herauszufinden, welche Anziehungskraft die alte Saxonenkirche für den unglücklichen Mann gehabt hat.«

 

Es war ein wundervoller Frühlingstag, dessen köstliche Frische rosige Farben auf ihre jungen, gesunden Gesichter malte. Schweigend saßen die beiden nebeneinander, die das Schicksal unter so eigenartigen Umständen zusammengebracht hatte, genossen den goldenen Tag mit dankbarem Herzen, mit der Freude am Leben und der auferstehenden, göttlichen Natur.

 

Beverley Manor war ein kleines, unbedeutendes Dörfchen am Fuße des Kentish Rag, das außer seiner alten Kirche wenig Anziehungspunkte für Besucher hatte.

 

Sie fuhren zum Gasthof und machten sich dann, als Larry das Mittagessen bestellt hatte, zu Fuß auf den Weg nach der Kirche, die ungefähr eine Viertelmeile entfernt am Rande eines weißen, freundlichen Weges lag. Generationen und Generationen hatten versucht, die im Beginn einfachen Linien des Gebäudes zu verschönen und hatten ein architektonisches Mischmasch hervorgebracht, in dem romanischer, gotischer und normannischer Baustil miteinander kämpften.

 

»Das schreit doch beinah zum Himmel«, sagte Larry unehrerbietig, als sie durch das altertümliche Tor in den Kirchhof traten.

 

Larry hatte gehofft, Erinnerungstafeln an den Wänden der Kirche zu finden, die ihm irgendeinen Fingerzeig über die Veranlassung zu Stuarts Fahrten geben könnten. Aber außer einer Bronzetafel, die die Tugenden eines früheren Vikars pries, waren keinerlei Gedenktafeln zu sehen.

 

Larry begann dann eine systematische Untersuchung der Gräber. Die meisten waren sehr alt und ihre Inschriften kaum zu entziffern.

 

Schließlich kamen sie an das Ende des Kirchhofs, wo ein halbes Dutzend Arbeiter einen in Sackleinewand verpackten Grabstein herbeischleppten. Schweigend standen sie Seite an Seite und sahen zu, wie die Arbeiter ihre Last an einem gut gepflegten Grabe niederließen.

 

»Ich fürchte, wir haben unsere Reise umsonst gemacht«, sagte Larry. »Wir wollen noch versuchen, im Dorf etwas zu erfahren und fahren dann nach London zurück.«

 

Er war gerade im Begriff zu gehen, als einer der Männer anfing, die Leinewand von dem Grabstein zu entfernen.

 

»Wir können schließlich auch sehen, wer das hier ist«, sagte Larry und trat zu den Arbeitern heran, die ihm Platz machten. Mit Verblüffung las er:

 

 

Zur Erinnerung an

Margarete Stuart

Ehefrau von

Gordon Stuart

(Calgary Can.)

Gest. 4. Mai 1899

und ihrer einzigen Tochter

Jeane,

Geb 10. Juni 1898

Gest. 1. Mai 1899

 

Das junge Mädchen stand jetzt neben ihm, und beide starrten sie auf den Grabstein.

 

»Seine einzige Tochter!« sagte Larry im Tone tiefsten Erstaunens. »Seine einzige Tochter! Um’s Himmels willen, wer ist denn da Clarissa?«