42

 

Diana vernahm die fürchterlichen Worte, ohne sich jedoch im ersten Augenblick über ihre Bedeutung klar zu werden.

 

»Inzwischen wird Mr. Holt aufgehört haben zu leben.«

 

Sie öffnete den Mund, um ihre Verzweiflung hinauszuschreien, aber kein Ton entrang sich ihrer gepreßten Kehle. Sie hatte Larry getötet! Ihre eigene Hand hatte den Hebel heruntergedrückt, der ihn ertränkte! Das war doch das Wort, das Judd gebraucht hatte. Sie hatte ihn ertränkt – aber wie denn nur? Als der Sinn der Worte ihr allmählich klar wurde, schwankte sie auf den Doktor zu und griff nach seiner Schulter, um sich zu stützen. Sie wollte nicht ohnmächtig werden, hielt sie sich selbst vor, sie wollte um keinen Preis ohnmächtig werden! Es mußte doch einen Weg geben, um Larry zu retten. Verzweifelt suchte sie mit ihren Blicken nach einer Waffe – fand nichts; langsam wurde sie ruhiger. Es waren ja Wahnsinnige, mit denen sie zu tun hatte, und man mußte ihnen den Willen tun. Aber die Zeit war ja so kurz.

 

Von neuem drückte ihre Haltung gespannte Aufmerksamkeit aus, aber ihre Gedanken, ihre Augen arbeiteten unablässig, und als David Judd sich nach vorn beugte, bemerkte sie etwas, das einen Strahl der Hoffnung in ihr Herz brachte. Sein Jackett war offen und ließ gerade noch ein Stückchen des weißen Hemdes sehen, dort, wo sein Arm aus der Weste herauskam, und gegen die weiße Leinwand hob sich eine scharfe, schwarze Linie ab. Sie blickte noch einmal hin und erkannte einen Revolver, den David in einem Halter unter der Achselhöhle trug. Sie erinnerte sich von Verbrechern gelesen zu haben, die ihre Waffen in dieser Weise trugen, um sie bequem zur Hand zu haben.

 

Er war in der Mitte einer farblosen Liebesszene, als ihre Hand nach vorn schoß und den Griff erfaßte. Mit einem Ruck hatte sie ihn herausgerissen und sprang zurück. Das kleine Tischchen, auf dem die Mahlzeit für sie serviert worden war, stürzte krachend um.

 

»Wenn Sie sich bewegen, töte ich Sie«, rief sie atemlos, »öffnen sie sofort die Tür und lassen Sie ihn heraus!«

 

Die beiden Männer waren aufgesprungen und starrten sie an.

 

»Sie – Sie haben meine Vorlesung unterbrochen«, rief David mit der zitternden Stimme eines gekränkten Kindes. Der drohenden Gefahr schien er sich nicht bewußt zu sein.

 

»Öffnen Sie die Tür«, keuchte sie, »und befreien Sie Larry Holt, oder ich schieße Sie nieder.«

 

David runzelte die Stirn und legte seine Hand auf die Marmorplatte des Kamins. Sie sah, wie seine Finger einen Knopf berührten. Das Licht ging aus, und sie gab Feuer.

 

Der Schall der Explosion betäubte sie beinahe. Im nächsten Augenblick hatten seine starken Arme sie ergriffen. Er warf sie auf den Stuhl und blickte wütend auf sie hinab.

 

»Sie haben meine Vorlesung unterbrochen«, er weinte beinahe, und Dr. Judd blickte ängstlich von ihr nach seinem Bruder. »Und jetzt«, sagte David verdrießlich, »werde ich Sie nicht mehr heiraten.«

 

Seine großen Hände packten sie um die Taille und hoben sie auf die Füße. In seinen Augen standen Tränen – Tränen des verletzten Stolzes, der Demütigung. Dann, mit der plötzlichen Laune des Geisteskranken stieß er sie von sich.

 

»Ich denke, er wird jetzt tot sein, Bruder«, sagte er, sich zu dem Doktor wendend, und dieser nickte mit einem Seufzer der Erleichterung.

 

»Ja, jetzt ist er tot«, antwortete er. »Das Wasser steigt beinahe einen halben Meter in zwei Minuten, wie ich glaube.«

 

»In einer Minute fünfzig Sekunden«, berichtigte David. »Um Gottes willen, schonen Sie ihn doch!« rief das junge Mädchen heiser. »Ich will Ihnen geben, was sie wollen – alles, was Sie nur wollen. Mein ganzes Geld, alles, was ich besitze.«

 

»Ich glaube, Sie müßten ihn eigentlich sehen«, David ließ die flehenden Worte Dianas unbeachtet.

 

»Es ist aber doch dunkel«, sagte der Doktor mit Kopfschütteln.

 

»Aber natürlich. Wie kann man nur so töricht sein und das vergessen! Wir schalten nämlich immer das Licht aus«, sagte David, dessen Ärger ebenso schnell vergangen zu sein schien, wie er gekommen war. »Das Wasser strömt sehr schnell durch die kleinen Löcher über dem Boden der Zelle. Wir lassen es vom Dach des Hauses in den Keller fließen. Wissen Sie, wir haben oben einen sehr großen Wassertank«, fuhr er fort, »und die Person, die wir ertränken, kann nicht hochsteigen, weil die Gewichte am Fuß sie festhalten. Einmal gelang es einem Menschen, auf das Bett zu klettern – erinnerst du dich noch daran?«

 

»Sehr gut«, antwortete der Doktor im Plauderton. »Wir mußten beinahe drei Meter Wasser in die Zelle laufen lassen, bevor er starb.«

 

Sie lauschte wie erstarrt. Hatte sie einen gräßlichen Traum, Alpdrücken – würde sie nicht endlich erwachen!

 

»Und das nimmt so viel Zeit in Anspruch, um den Keller wieder leerzupumpen. Es war rücksichtslos von dem Mann. Er hat uns sehr viel unnötige Arbeit bereitet«, fuhr David fort, und zum erstenmal sah der Doktor ihn besorgt an.

 

Er drehte sich zu Diana und sah sie gedankenvoll an.

 

»Mein Weib«, sagte er mit leiser Stimme, und in seinen Augen glühte ein plötzliches Feuer auf, das sie erzittern ließ. »Mein Weib«, sagte er noch einmal und riß sie mit einem tierischen Schrei an sich.

 

»Ich brauche Sie, Judd!«

 

Er fuhr herum. Jemand hatte geräuschlos das Zimmer betreten – der Revolver in seiner Hand war gerade auf sein Herz gerichtet.

 

Es war Larry Holt.

 

»Keine Bewegung«, sagte Larry. »Widerstand ist nutzlos … Hören Sie das?«

 

Man vernahm das gedämpfte Geräusch einer brechenden Tür in der Halle.

 

»Polizeibeamte … sind schon im Haus«, sagte Larry lakonisch.

 

Langsam schob David das junge Mädchen von sich fort und stand dem Eindringling gegenüber, den er unter seinen buschigen Augenbrauen hervor finster betrachtete. Larry sah nicht, daß sich die Hand des Mannes bewegte – so blitzartig schnell ging alles vor sich. Ein Luftzug fuhr an seiner Wange vorüber, die Wandtäfelung hinter ihm zersplitterte krachend, und – die beiden Schüsse erschienen dem halb ohnmächtigen Mädchen wie ein einziger.

 

David Judd schwankte hochaufgerichtet einen Augenblick hin und her.

 

»Meine wunderbaren Stücke«, sagte er mit brechender Stimme. Dann, ohne ein weiteres Wort, brach er tot auf dem Boden zusammen.

 

»David, David!« Dr. Judd warf sich über ihn. »David, nicht schauspielern! Ich will dir die besten Schauspieler für deine Stücke verschaffen. Ich kann es nicht ertragen, wenn du das machst! Du ängstigt mich, David! Sagen Sie ihm doch, daß er aufhören soll!«

 

Der große Mann blickte mit leichenblassem Gesicht flehend zu Larry Holt hinauf, der mit rauchendem Revolver in der Hand die beiden Männer betrachtete.

 

»Mr. Holt, Sie haben doch Einfluß auf ihn«, jammerte der Doktor mit tränenüberströmtem Gesicht. »Bitte, sagen Sie ihm doch, er soll nicht schauspielern. Sagen Sie es ihm, bitte. Ich kann es nicht ertragen, wenn er das tut. Es ängstigt mich so sehr. Manchmal hat er stundenlang in diesem Zimmer gespielt – einzelne Szenen aus seinen wundervollen Stücken. David!« Er schüttelte den Körper, aber David war für die Stimme seines Bruders unerreichbar.

 

Dann stand der Doktor auf und ging auf Larry zu, legte seine große Hand auf den Arm des anderen … wie ein verängstigtes Kind. Larry war von der Tragik der Geschehnisse so erschüttert, daß er kein Wort hervorbringen konnte. Dieser erwachsene Mann, dessen brillanter Kopf soviel Pläne gesponnen, der so ungeheuer viel gewagt hatte, war in diesem Augenblick wie ein kleines Kind.

 

Plötzlich erhob der Doktor den Kopf.

 

»Es … tut mir leid«, sagte er heiser. »Armer Junge.«

 

Er sah Larry Holt lange Zeit und fest in die Augen.

 

»Mr. Holt, ich habe mich absolut kindisch betragen, aber ich bin völlig bei Verstand. Ich übernehme die volle Verantwortung für alle meine Handlungen – und die meines Bruders. Ich weiß ganz genau, was ich getan habe.«

 

Harvey war in das Zimmer gestürzt, war aber beim Anblick des Bildes, das sich seinen Augen darbot, still stehengeblieben. Larry winkte ihn heran.

 

»Bringen Sie ihn fort«, sagte er.

 

»Ich wünschte, wir hätten Sie erledigen können«, sagte Dr. Judd, als er weggeführt wurde.

 

Das junge Mädchen lag in Larrys Armen und hatte das Gesicht an seiner Schulter verborgen.

 

»Jetzt sind wir am Ende unseres mühsamen Weges«, flüsterte er, und sie nickte. Als sie in das Vestibül kamen, wandte sich der eine der Polizisten an ihn.

 

»Wir haben den Diener verhaftet, Sir. Er war in einem anderen Teile des Hauses eingeschlossen.«

 

»Er hat nichts mit der ganzen Sache zu tun«, sagte Larry. »Sie können ihn ruhig entlassen. Ich habe mir übrigens gar nicht einmal die Mühe gegeben, einen Haftbefehl gegen ihn zu beantragen.«

 

Ein großer, hagerer Mann kam durch die erbrochene Tür und ergriff Dianas Hand.

 

»Sie haben Schreckliches durchmachen müssen, Miß Stuart«, sagte er. Sie erkannte den Polizeikommissar und versuchte zu lächeln. »Ich habe meinen Wagen hier. Du würdest auch besser mit kommen, Larry. Harvey kann ja die nötigen Formalitäten gegen Dr. Judd erledigen.«

 

Sie fuhren nach Scotland Yard zurück, und Larry war während der ganzen Fahrt sehr schweigsam. Er saß an der Seite des jungen Mädchens, hielt ihre Hand in der seinen und antwortete auf die Fragen des Kommissars in kurzer Weise und ohne weiter auf diese einzugehen. Erst im Büro des Kommissars gab er seinen Gedanken Ausdruck.

 

»John, ich hoffe, du wirst in deinem Rapport an die Regierung nicht behaupten, daß ich diesen Fall zu einem so günstigen Ende gebracht habe.«

 

Sir John blickte ihn stirnrunzelnd und fragend an.

 

»Aber selbstverständlich werde ich das tun. Wer sollte es denn sonst gemacht haben?«

 

Larry legte seine Hand auf die Schulter des jungen Mädchens.

 

»Hier steht der beste Detektiv, den wir seit Jahren in Scotland Yard gehabt haben«, sagte er einfach.

 

Diana lachte.

 

»Bist du aber dumm«, neckte sie ihn, »ich soll es sein! Wer war denn wirklich der beste Detektiv, den du für die Übernahme dieses Falles hättest haben können?«

 

»Du«, war seine Antwort.

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Der beste Detektiv wäre Dr. Judd gewesen, wenn du seine Dienste hättest in Anspruch nehmen können. Er war der beste, weil er mehr über diese Angelegenheit wußte, als wie wir alle, weil ihm die Geheimnisse bekannt waren, die wir aufzuklären versuchten. Und ich war beinahe in der gleichen Lage wie er; ich hatte sozusagen meine Hände mit im Spiel. Als ich selbst erst einmal wußte, daß ich die gesuchte Clarissa Stuart war, machte es mir keine Schwierigkeiten, euch im Dunkeln zu lassen. Denn als sich herausgestellt hatte, daß die arme Emma – beinahe hätte ich ›Tante‹ gesagt –, die arme Emma Ward die Aufwärterin war, die meinen – meinen Vater gesehen und in einer solchen Aufregung ihre Stelle verlassen hatte, bestand für mich nicht der geringste Zweifel mehr, daß es sich wirklich um meinen Vater handelte. Und als das erst einmal feststand, war der Rest nicht mehr schwierig. Ich wußte, daß die Bande es auf mich abgesehen hatte. Nein, Larry, du hast wirklich Großartiges geleistet.«

 

Larry schüttelte lächelnd den Kopf.

 

»Schließlich ist es ja auch ganz gleich«, sagte der Kommissar trocken, »wer die Lorbeeren einheimst.«

 

»Wieso?« fragte Larry verwundert.

 

»Wenn sie man in der Familie bleiben, meine ich«, war Sir Johns kurze Antwort, und das junge Mädchen errötete.

 

»Da steckt viel Wahres darin, Sir John«, sagte sie. »Und jetzt bringe ich ihn erst mal nach Haus.«