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Dearborn schob den Revolver in die Tasche, schloß die Tür auf und ging hinaus. Der kleine, alte Mann, der das Amt des Pförtners bekleidete, stand mit offenem Munde im Gang.

 

»Was ist passiert?« rief er hastig. »Wer hat geschossen?«

 

»Mach‘ schnell und hole die Polizei«, antwortete John Dearborn ruhig. »Hier ist jemand erschossen worden.«

 

»Du lieber Himmel«, flüsterte der alte Mann.

 

»Am Ende der Straße stehen zwei Schutzleute, beeile dich«, sagte Dearborn scharf und lauschte auf das Geräusch der sich entfernenden Schritte.

 

Dearborn wartete einen Augenblick, ging dann in das Vorderzimmer und schloß die Tür. Lauschend stand er hinter dieser. Jetzt hörte er das Rennen von eiligen Fußtritten, unterschied die beiden Polizisten, hörte wie sie durch den Gang stürzten und das Geschwätz von einigen Müßiggängern bei oder hinter ihnen. Dann öffnete er die Tür. Ein Polizist beugte sich zu dem blinden Jake nieder.

 

»Das ist er«, sagte er. »Jim, jage alle die Leute zum Hause hinaus und bleibe an der Tür auf Posten, bis der Inspektor kommt. Gib lieber das Alarmsignal.«

 

Der schrille Pfiff der Polizeipfeife gellte durch Lissom Lane, und die wenigen Neugierigen, die zum Hause hinausgetrieben waren, blieben vor der Tür stehen.

 

»Was ist den hier vorgefallen?« fragte Mr. Dearborn, und der Beamte lächelte gutgelaunt.

 

»Hören Sie, Herr Postrat«, sagte er, »machen Sie, daß Sie weiterkommen und Ihre Briefe loswerden.« Und John Dearborn warf sich den Sack über die Schulter.

 

Er hatte die Uniform eines Briefträgers gewählt – sie bewies sich als beste Verkleidung – und verließ das Haus wenige Minuten vor Larrys Ankunft. Der Detektiv war bereits unterwegs, um Mr. John Dearborn zu sprechen, und die Handschellen in seiner Tasche waren ganz besonders für diesen Herrn bestimmt.

 

Larry sah die Ansammlung Neugieriger vor der Tür und fühlte, daß sich etwas Ungewöhnliches ereignet haben mußte. Er betrat das Arbeitszimmer und blickte schweigend auf den massigen Körper seines Feindes. Der blinde Jake war auf der Stelle tot gewesen. Niemals hatte er erfahren, wer ihn gefällt hatte, hatte niemals den gemeinen Verrat seines Herrn, dem er so treu gedient hatte, ahnen können.

 

»Der Mörder muß hier irgendwo im Hause stecken, Sir«, sagte der Beamte. »Der kleine Kerl an der Tür hat die Schüsse gehört, und der Vorsteher hat ihn weggeschickt, um die Polizei zu holen. Wir sind beide zusammen hierher gekommen, mein Kollege und ich.«

 

»Ist der Eingang einen Augenblick ohne Bewachung geblieben?« fragte Larry.

 

»Nur für eine Sekunde, Sir«, antwortete der Mann. »Wir kamen zusammen in das Haus.«

 

»Und in dieser Sekunde ist unser Freund entwischt«, sagte Larry. »Ich glaube nicht, daß es noch Zweck hat, weiter zu suchen.«

 

Larry fuhr nach dem Präsidium, um mit dem Chefkommissar zu sprechen, und suchte dann das junge Mädchen auf.

 

»Ich habe die Neuigkeit schon gehört«, sagte sie ruhig. »Sergeant Harvey war gerade hier. Glaubst du, daß Dearborn ihn getötet hat?«

 

»Dearborn ist David Judd«, sagte Larry kurz.

 

»Doktor Judds Bruder?« rief sie überrascht. »Aber er ist doch schon lange tot.«

 

Er schüttelte den Kopf.

 

»Das großartige Begräbnis war tadellos inszeniert, und ich bin fest davon überzeugt, daß David sogar so weit gegangen ist, den notwendigen Körper für den Sarg zu verschaffen. Er ist ein ganz außerordentlich gründlicher Herr. Erinnerst du dich, wie Lew uns erzählte, daß sein Bruder, ein gut aussehender Mensch mit langem Bart, eines Tages plötzlich verschwunden war?« Sie nickte. »Das ist der Mann, den wir in David Judds Grab finden werden.«

 

»Ist denn Doktor Judd auch –« begann sie, aber es war unnötig, diesen Satz zu Ende zu führen.

 

»Doktor Judd steckt bis über den Hals in der Geschichte«, sagte Larry. »Die Geschichte von Dearborn ist schnell erzählt. Dearborn war ein Teilhaber Judds, und irgend etwas muß im Büro vorgekommen sein – ein Verbrechen, ein Mord vielleicht, den David veranlaßte, um die Versicherungssumme zu erhalten, was weiß ich – und einer der Angestellten muß dahintergekommen sein. Der Mann unterschlug dann eine große Summe, flüchtete nach Montpellier und begann von dort aus Erpressungen gegen David. David fuhr hinterher und erschoß ihn. Höchstwahrscheinlich war es kein vorbedachter Mord, denn David war nicht die Sorte von Mann, seinen Gegner auf offener Straße niederzuschießen. Auf jeden Fall schoß er aber und wurde dabei von Flimmer Fred gesehen, der gerade noch zeitig genug kam, um von dem sterbenden Mann den Namen seines Mörders zu hören. Das bedeutete für einen Mann vom Schlage Flimmer Freds ein Lebenseinkommen. So schnell wie möglich reiste er nach London zurück, suchte Judd auf und teilte ihm dann jedenfalls die Bedingungen mit, unter denen er seinen Mund halten würde. Dann kam Judd auf den Gedanken, daß es das beste wäre, wenn David sterben würde; und David, du erinnerst dich, war ein gut aussehender Mann mit Vollbart. Lews Bruder war unter all ihren Helfershelfern und Bekannten der einzige, der in seinem Äußeren am meisten David ähnelte, und so wurde er ohne viel Federlesen ermordet und als David Judd begraben. Bei dieser Gelegenheit zogen sie noch eine bedeutende Summe von den Rückversicherungsgesellschaften für Davids hohe Lebensversicherung.

 

Den Plan mußten sie schon lange Zeit erwogen haben, denn schon einen Monat vor Davids Tod hatte Dr. Judd den Kauf von Todds Heim abgeschlossen. Es war nichts weniger als ein wohltätiges Unternehmen, sondern im Gegenteil eine rein geschäftliche Sache, denn Todds Heim hatte sich allmählich in eine bessere Bettlerherberge umgewandelt, die von den verkommensten der blinden Bettler Londons aufgesucht wurde. Dort hatten die berüchtigten ›Toten Augen‹ ihr Hauptquartier, und von ihnen mußte David die Einzelheiten über Todds erfahren haben.

 

Das Heim wurde gekauft, und einen Tag nach dem ›Tode‹ Davids erschien Ehrw. John Dearborn als Vorsteher auf der Bildfläche. Es steht absolut fest, daß er tatsächlich alle verdächtigen Elemente aus dem Hause jagte und verschiedene Änderungen in der Organisation vornahm, aber er tat dies nur um den Makel von Todds Heim zu lösen, ihm wieder einen guten Namen zu schaffen und – um das Haus als sein Hauptquartier zu benutzen, ohne Besorgnis vor polizeilichen Besuchen haben zu müssen. Als die Wäscherei Konkurs machte, kaufte Judd das Grundstück, und David führte die baulichen Veränderungen unter Mithilfe seiner Bande aus. Ich muß dabei bemerken, daß David Architekt ist und das Haus, in dem sein Bruder lebt, gebaut hat. Wir wissen, daß er ausländische Arbeiter beschäftigt hat und daß das ganze Haus für einen ganz besonderen Zweck gebaut wurde«, fügte er ernst hinzu.

 

»Als sie das Wäschereigrundstück in Besitz hatten, kamen die ›Toten Augen‹ wieder nach ihrem alten Sitz in Lissom Lane zurück, gingen und kamen inmitten der Blinden, die sie nicht sehen konnten, und die nichts von ihrer Gegenwart wußten.«

 

»Was wird nun mit Dr. Judd?« fragte sie.

 

»Ich werde ihn verhaften«, antwortete Larry, »und zwar werde ich ihn an demselben Platz verhaften, von dem dein Vater verschwand – in der berühmten Loge A im Macready-Theater.«

 

»Ist er denn dort?« fragte sie erstaunt.

 

Er nickte.

 

»Beinahe jeden Abend«, antwortete er ruhig.

 

»Aber warum verhaftest du ihn denn nicht gleich?«

 

»Weil Loge A und ihr Geheimnis noch nicht aufgeklärt ist«, sagte Larry, »aber ich glaube, ich werde das fertig bekommen.«

 

Am gleichen Abend trat Larry um acht Uhr in das Vestibül des Macready-Theaters.

 

»Dr. Judd, Sir?« sagte der Logenschließer. »Ja, er ist in Loge A. Erwartet er Sie?«

 

Larry nickte. Sergeant Harvey wollte ihn begleiten, aber Larry verabschiedete ihn.

 

»Ich gehe lieber allein.«

 

Er ging schnell den Gang hinunter, blieb einen Augenblick vor der Loge A stehen, drehte den Türknopf herum und trat ein.

 

Dr. Judds Augen waren auf die Bühne gerichtet. Der Detektiv war stehengeblieben, um mit ihm zu sprechen, als etwas Warmes, Wolliges über seinen Kopf glitt. Es fühlte sich wie ein mit Wolle gefüllter Sack an und mußte mit irgendeiner Chemikalie getränkt sein, die ihm den Atem raubte und einen Augenblick völlig lähmte. Dann fühlte er, wie sich ein Strick straff um seinen Hals legte. Er riß den Revolver heraus, aber bevor er ihn benutzen konnte, traf ein scharfer Schlag seine Hand, und mit einem Schmerzensschrei, der durch den Wollsack erstickt wurde, ließ er die Waffe fallen. Jeder Atemzug erstickte ihn beinahe, er schlug wild um sich, seine Arme wurden von hinten ergriffen, und man warf ihn zu Boden. Undeutlich hörte er die Stimme Dearborns.

 

»Den Zerstäuber, Peter!«

 

Das Mundstück einer Röhre preßte sich an seinem Kinn vorbei in den Sack, und etwas scharf riechendes wurde unter seine Nasenlöcher gespritzt. Er versuchte noch einmal, sich aus den umklammernden Griffen zu befreien, aber ein Knie preßte sich in seinen Rücken, und er verlor das Bewußtsein.

 

»Du bist wirklich ein Genie, David«, sagte Dr. Judd im Tone tiefster Bewunderung. »Auf die Minute abgepaßt und glänzend durchgeführt. Hervorragend, alter Junge, ganz hervorragend!«

 

»Mach die Tür auf und sieh mal nach, Peter«, sagte David, und der Doktor gehorchte.

 

Der Gang war leer. Gerade gegenüber der Tür von Loge A war ein Vorhang an der Wand aufgehängt, hinter dem der Doktor verschwand. Ein Strom frischer Luft flutete herein, als er den Notausgang öffnete, der nach dem Hof führte, wo ein Wagen auf ihn wartete.

 

Eine Minute später hatte David den Detektiv aufgehoben – mit einer Leichtigkeit, als ob er ein Kind in den Armen hätte –, ihn in das Innere der Limousine gelegt und selbst den Platz am Steuerrad eingenommen.

 

Bald war er vor dem Hause in Chelsea und brachte den Wagen in einem kurzen Bogen bis dicht an die verschlossenen Torflügel der überdachten Anfahrt. In dem massiven Tor befanden sich zwei runde Löcher, die mit den Enden zweier Stahlstangen korrespondierten, die dicht unterhalb der Scheinwerfer seines Wagen hervorragten. Langsam und geschickt brachte er das Auto den langsam abfallenden Weg hinauf, bis die Stangen in die Löcher eindrangen. Dann trieb er den Wagen vorwärts. Ein leichtes Schnappen, und die Flügel öffneten sich. Der Wagen rollte durch das Tor, und als die Räder über eine querliegende bewegliche Plattform hinwegrollten, schlossen sie sich wieder.

 

Gegenüber der Tür, die wie ein Fenster aussah, hielt David Judd an, öffnete sie und trug Larry hinein. Die Treppe, die nach dem Keller führte, war erleuchtet, und die Tür stand offen.

 

Er warf den Detektiv auf das Bett, nahm die Fußschelle auf und legte den Ring um Larrys Knöchel. Und dann erst nahm er den schweren Ledersack, der Larrys Kopf verhüllte, ab. Er roch betäubend nach Formalhyadin, und Judd warf ihn in das Badezimmer.

 

Larrys Gesicht war purpurrot, und er sah aus wie jemand, der erwürgt worden war, aber als ihn die Nachtluft traf, begann er langsam und mühselig zu atmen. David beugte sich zu ihm hinab, fühlte seinen Puls, zog die Augenlider auf und lächelte.

 

Leise ging er hinaus, schloß die beiden Türen hinter sich und blieb auf dem ersten Treppenabsatz stehen, um den Raum, den Sergeant Harvey den »Maschinensaal« getauft hatte, zu betreten. Er drückte einen Schalter herunter, und der elektrische Ventilator begann leise zu summen.

 

David ging in den Hof zurück, hielt sich aber nur auf, um die Türen hinter sich zu schließen. Er hatte nicht einen Augenblick zu verlieren. Der Motor lief noch, er sprang in den Führersitz und ließ den Wagen langsam rückwärts laufen. Als die Räder die schmale Brückenwaage erreichten, öffneten sich die Torflügel wiederum. Sie würden genau zwanzig Sekunden offenbleiben und sich dann automatisch wieder schließen; kaum war der Wagen rückwärts auf die Straße gekommen, als sich die Tür geräuschlos schloß.

 

Schnell fuhr er nach der Stadt zurück, diesmal aber in nördlicher Richtung und hielt erst gegenüber von Larry Holts Wohnung an.