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Der Mann, der sich selbst Ehrw. John Dearborn nannte, saß hinter verschlossenen Türen in seinem Arbeitszimmer und verbrannte in einem kleinen Kamin, der sich dicht hinter seinem Sessel befand, planmäßig und sorgfältig Papiere aller Art. Er hatte seine blaue Brille abgenommen und durchflog mit seinen scharfen und lebhaften Augen den Haufen von Manuskripten, alten Briefen, Quittungen und anderen Notizen, verbrannte und sortierte, bis nur noch ein schmales Päckchen übrigblieb, das er bequem in seiner Tasche unterbringen konnte. Er streifte ein Gummiband über dieses und legte es auf die Seite. Dann nahm er ein dickes Bündel Manuskripte auf und packte dies in eine Handtasche, die neben seinem Tische stand. Und während er sortierte, las und vernichtete, pfiff er nachdenklich eine kleine Melodie vor sich hin.

 

Aus einem der Schubfächer seines Schreibtisches zog er noch ein anderes Manuskript hervor, durchblätterte die Seiten, vertiefte sich hier und da in den Inhalt des Werkes.

 

»Das ist wirklich ausgezeichnet«, sagte er nicht einmal, nein, viele Male. John Dearborn war ein enthusiastischer Bewunderer des Genies von John Dearborn.

 

Endlich, widerstrebend, schloß er den Manuskriptband und legte ihn mit besonderer Sorgfalt in die Tasche.

 

Mit Ausnahme des kleinen, alten Mannes, der den Portier spielte und die Räume sauber hielt, und der alten Köchin, die träumend in der Küche saß, war das ganze Haus leer. Die Hausierer hatten ihr Tagewerk noch nicht beendigt, und es würde noch geraume Zeit vergehen, bis einer nach dem anderen die Zufluchtsstätte des Heims erreichte.

 

Endlich war er mit dem Aufräumen und Packen fertig und suchte nun in seinen Brusttaschen nach einem Brief, den er für sein Vorhaben benötigte. Es war eine kurze, handschriftlich geschriebene Mitteilung, die er von Larry Holt am Tage nach dessen ersten Besuche in Todds Heim erhalten hatte. Er ergriff die Feder und malte, mit einem Auge auf der Vorlage, eines der Worte, die er aus dem Briefe herausgegriffen hatte. Dann verglich er sorgfältig Kopie mit dem Original. Schließlich nahm er aus der offenen Schreibmappe auf seinem Tisch einen Briefbogen mit Aufdruck und begann langsam und mühselig zu schreiben – und die ganze Zeit pfiff er leise seine fröhliche, kleine Melodie. Endlich hatte er sein Schreiben beendigt, nahm einen Briefumschlag und adressierte diesen; und als er ihn abgelöscht und versiegelt hatte, steckte er ihn in seine Tasche, schloß die Schreibmappe und legte sie auf den Boden neben die Handtasche. Nun schloß er einen Wandschrank auf und nahm verschiedene Kleidungsgegenstände heraus, die er über die Stuhllehne legte.

 

Er legte seine düstere, priesterliche Kleidung ab und begann sich umzuziehen. In seinem eleganten Anzüge hatte er das Aussehen eines gut situierten, verwöhnten Müßiggängers.

 

Halb mechanisch hatte er sich umgezogen und kämpfte vergebens gegen ein bedrückendes Gefühl von Unzufriedenheit. Alle Ausgänge waren bewacht: die Geheimtür im Schlafsaal, der Weg über das Dach hinweg, der Weg durch den Kesselraum.

 

»Ich bin ja wahnsinnig«, sagte er aufstehend.

 

Langsam legte er den Rock ab und begann sich von neuem umzuziehen. Diesmal ging er aber nicht an den Wandschrank, sondern zu einer langen, schwarzen Truhe, die unterhalb des Fensters stand, und entnahm ihr verschiedene Sachen, die er mit offensichtlichem Mißvergnügen betrachtete.

 

»Ein jämmerlicher Clown!« sagte er verachtungsvoll zu sich selbst.

 

Aber es blieb ihm nichts anderes übrig. Der blinde Jake konnte seinen Weg durch den Untergrundkanal finden, hatte die scharfen Instinkte des Blinden, konnte sich wie eine Katze an den Posten vorbeischleichen, konnte sich durch enge Höhlungen hindurchzwängen, die für einen so riesigen Körper wie den seinen kaum passierbar erschienen.

 

Und wieder zog sich John Dearborn an, nahm einen Leinwandsack aus der Truhe und legte ihn auf den Tisch. Er schüttete den Inhalt der ledernen Handtasche in den Sack, ging nach dem Vorderzimmer des Heims und blickte vorsichtig auf die Straße hinaus. Zwei Schutzleute bewachten, wie er genau wußte, den Eingang zu dieser Sackgasse. Niemand außer ihm selbst benutzte das Vorderzimmer, in dem er alte Möbel, Rechnungsbücher und allerlei Gerumpel aufbewahrte. Aber es hatte den Vorteil einer Tür, die nur wenige Schritte von dem Haupteingang entfernt lag.

 

John Dearborn legte den Sack neben die Tür, ging hinaus und verschloß sorgfältig das Zimmer, bevor er nach seinem Arbeitsraum zurückging und sich dort einschloß. Vielleicht zehn Minuten saß er wartend dort, bis sich ein leises Klopfen an der Türfüllung hören ließ. Geräuschlos schlich er an die Tür und öffnete sie, gerade weit genug, um seinen Besucher hineinschlüpfen zu lassen.

 

Es war der blinde Jake, sein Gesicht war verzerrt und geschwollen, wie Stränge lagen die blauen Adern auf seiner breiten Stirn.

 

»Ich bin grade erst gekommen, Herr«, keuchte er atemlos.

 

Der andere betrachtet ihn mit einem stahlharten Blick.

 

»Was machst du denn hier, Jake?« fragte er leise. »Habe ich dir nicht geboten, die Frau unter keinen Umständen allein zu lassen, bis ich selbst komme?«

 

»Ja, aber Sie sind nicht gekommen, Herr«, erwiderte der blinde Mann. Es war ergreifend, den flehenden Ton, die Demut in seiner Stimme zu hören. Seine toten Augen starrten auf den harten Mann, dem er diente, dem er gefolgt war, wie die Menschen dem unerbittlichen Schicksal folgen müssen. Ein riesenhafter, wilder Hund von einem Manne, kräftig genug, den Herrn, den er anbetete, in seinen Pranken zu zerreißen, und doch bereit, bei jedem scharfen Worte dieses Mannes sich jammernd und winselnd in den Staub zu beugen. Jake der Blinde hatte alles für John Dearborn getan, war der willigste Helfershelfer bei seinen verbrecherischen Plänen, war der gehorsamste Sklave seiner unersättlichen Begierden gewesen. Blut klebte an seinen Händen, und es gab viele Nächte, in denen unheimliche, verschwommene Schatten in seinem Zimmer erschienen und verschwanden, in denen kalte Finger ihn berührten, kalte, starre Finger nach seiner Kehle griffen, Nächte, in denen durchnäßte, rauhe Ärmel über ihn hinwegwischten, in denen er das eintönige Drip-Drip-Drip des Wassers vernahm.

 

Aber all das war vergessen. Schweiß floß in Strömen über sein ängstlich verzogenes Gesicht, seine dicken Lippen hingen halboffen über dem keuchenden Munde – vielleicht fühlte der blinde Mann das Feindliche, Ungewohnte in der Atmosphäre, denn in kläglichem Tone fragte er:

 

»Ist irgend was nicht in Ordnung, Herr?«

 

»Wo ist die Frau?« fragte Mr. Dearborn. Seine Worte fielen wie Stahlkugeln von seinen Lippen.

 

Jake rutschte unruhig auf seinem Sitze hin und her.

 

»Ich mußte sie zurücklassen! Ich konnte doch nicht –«

 

»Du hast sie zurückgelassen!« Eine neue, unheilverkündende Pause. »Und sie haben sie gefunden, was?« John Dearborns Stimme war sehr sanft geworden.

 

»Ja, Herr, sie haben sie gefunden«, sagte der Mann, »Was sollte ich den machen? Ich würde doch alles in der Welt für Sie tun. Habe ich denn nicht getan, was in meinen Kräften stand, Herr? Es gibt doch keinen Menschen, der so stark ist wie ich, der alte, blinde Jake. Es gibt doch keinen, der so gerissen für Sie arbeiten kann wie ich! Habe ich den nicht für Sie gearbeitet? Habe ich sie nicht alle weggebracht, für Sie, Herr? Habe ich sie nicht mit diesen Händen erwürgt, für Sie erwürgt, Herr?«

 

Er streckte sie aus: große, grausame Hände; rauh und knotig, die Handrücken mit gelbbraunen Flecken bedeckt, die Handflächen voller harter Schwielen.

 

»Du hast Holt entwischen lassen«, sagte Dearborn ruhig und gefühllos, wie der Richter, der ein Urteil verkündet. »Die Frau ist dir entkommen, und das Mädchen auch. Und du kommst hierher und erzählst mir von allem, was du für mich getan hast!«

 

»Ich habe getan, was ich konnte«, entgegnete der Mann demütig.

 

»Und man wird dich fassen, dich auch! Und – du kannst sprechen.«

 

»Die Zunge können sie mir herausreißen, bevor ich ein Wort gegen Sie sage, Herr«, rief der blinde Jake wild und schlug krachend mit seiner riesigen Faust auf den Tisch. »Sie wissen, daß ich für Sie sterben würde, Herr!«

 

»Ja«, sagte Dearborn.

 

Seine linke Hand, die Hand, an der der kleine Finger fehlte, fühlte sich langsam in die Hüftentasche, zog langsam einen kurzen, schwerkalibrigen Revolver hervor.

 

»Du wirst schwatzen«, sagte er. »Du hast ja keine andere Möglichkeit als zu schwatzen, Jake.«

 

Der blinde Man beugte sich ihm zu, krampfhaft zuckte und zitterte es in seinem dicken, runden Gesicht.

 

»Und wenn ich sterben sollte –« begann er. Da hob Ehrw. John Dearborn seinen Revolver, zielte langsam und bedächtig – drei Schüsse hintereinander, die fast wie einer klangen, und der riesenhafte Berg von Muskeln schwankte vorwärts, rückwärts und brach neben dem Schreibtisch zusammen. Jakes des Blinden Tag der Vergeltung war gekommen.