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»Warten Sie. mal«, rief Larry – Sergeant Harvey war gerade im Begriff, dies Haus des Todes zu verlassen –. »Vielleicht bekommen wir nicht so bald wieder Gelegenheit, das Grundstück in Ruhe durchsuchen zu können. Ich möchte doch noch die Seitentür untersuchen.« Er ging voran nach der Geheimtür im Salon, schloß sie hinter sich, schritt dann die Stufen hinab und blieb an der Wand dem Maschinenraum gegenüber stehen.

 

»Ich glaube, hier muß die Tür nach dem Hof sein«, sagte er und ließ das Licht seiner Taschenlampe über die Wand streichen.

 

Das Schlüsselloch war sehr schwierig zu finden, aber endlich fand er es dicht über dem Fußboden in der rechten Ecke. Wie erwartet ging diese auf einen überdachten Weg, der von dem Hof nach der Straße lief.

 

»Verteufelt geschickt«, sagte er in ehrlicher Bewunderung.

 

Vom Hof aus betrachtete er sich Mauer und Tür, durch die sie eben gekommen waren. Nichts erinnerte an eine solche. Man sah nur eine Art Fenster, das aus vier Mattglasscheiben bestand, in der natürlichsten Art der Welt in der Wand angebracht und dessen Fensterbrett mit Blumenkästen geschmückt war.

 

»Sieht weiß Gott nicht aus wie eine Tür«, sagte Larry und fügte noch einmal hinzu: »Verwünscht geschickt gemacht!«

 

Er ging an das Gitter, das er genau untersuchte und kam dann zu Harvey zurück.

 

»Das Rätsel des geheimnisvollen, automatischen Gittertores wäre auch gelöst. Wie ich erwartet habe, ist es möglich, in das Haus und den Hof zu kommen, ohne daß die Dienstboten das geringste bemerken. Als ich das letztemal hier war, fielen mir zwei Löcher in dem Tor auf, die ungefähr fünfviertel Meter voneinander entfernt ziemlich dicht über dem Boden angebracht waren. Ist Ihnen nicht bei dem Wagen, den wir in der Wäscherei fanden, etwas aufgefallen?«

 

»Ja, Sir«, sagte Harvey. »Unterhalb der Scheinwerfer waren zwei Stahlstangen angebracht, die ziemlich weit nach vorn herausstanden.«

 

Larry nickte zustimmend und sagte:

 

»Zuerst habe ich angenommen, es wäre so eine neue Erfindung für Automobile, aber jetzt ist es mir ganz klar, wozu diese Stangen dienen. Der Wagen wird dicht an das Tor gefahren, wo die beiden Stangen in die Löcher eindringen, auf ein Schloß einwirken und so das Tor öffnen, das sich dann wieder hinter dem Wagen schließt. Auf diese Weise haben sie keinerlei Bedienung nötig und vermeiden vor allen Dingen, daß ihr Kommen und Gehen vom Personal im Hause bemerkt wird. Wir wollen uns noch die Garage ansehen und dann machen, daß wir fortkommen.«

 

Larry suchte unter seinen Schlüsseln und fand schließlich den passenden.

 

Als er ihn in das Schloß steckte und umdrehte, hörte er, wie sich in der Garage etwas bewegte.

 

»Haben Sie gehört?« flüsterte er.

 

Harvey nickte und hielt seinen Gummiknüttel bereit. Dann riß Larry schnell beide Torflügel weit auf. Er sah einen Wagen, dessen Räder noch naß waren, aber sonst war augenscheinlich niemand in der Garage.

 

»Der Wagen ist erst heute morgen draußen gewesen«, sagte Larry.

 

Nicht ein Fleckchen, wo sich auch der kleinste Mensch verbergen konnte, dachte er und – ein scharfer, schriller Schrei durchriß das Schweigen, der Schrei eines Menschen in Todesangst. Mit einem Satz war er an der Tür der großen Limousine und riß diese auf. Und dann schien es, als ob ein Tornado, ein Orkan auf ihn losgelassen war – eine gigantische, kreischende Gestalt stürzte sich auf die beiden Männer, rie sie mit ihrem enormen Gewicht zu Boden, warf sich mit ihrer ganzen Masse auf sie.

 

Einen Augenblick war Larry wie betäubt, und als er sich mühsam auf die Füße gearbeitet hatte, hörte er die Garagentür zufallen und das Schnappen des Schlosses, in dem sich der Schlüssel drehte. Beide Männer warfen sich gegen das Tor, das aber unter ihrem Anprall auch nicht einen Millimeter nachgab.

 

»Die Frau!« rief Harvey und wies auf den Wagen.

 

Auf dem Fußboden des Wagens lag zusammengebrochen die regungslose Figur einer Frau. Larry hob sie in seine Arme und trug sie unter ein schmales Dachfenster, durch das ein schwacher Lichtschein in die Garage fiel.

 

Eine Frau im Alter von fünfzig Jahren, grauhaarig und unsäglich schmutzig. Ihr Gesicht schien Wochen hindurch nicht mit Wasser und Seife in Berührung gekommen zu sein, ihre Hände waren kohlschwarz. Unter dem Schmutz sah ihr weißes Gesicht in einem erstarrten Grinsen hervor, und auf ihrem mageren Halse waren die blutroten Merkmale der Krallen des blinden Jake deutlich sichtbar.

 

»Schnell etwas Wasser, Harvey«, rief Larry. »Sie lebt noch!« Und mit leiser Stimme: »Mein Gott, die Aufwärterin!«

 

Während er sich um das arme, unglückliche Wesen bemühte, hatte Harvey die Garage durchsucht und ein Beil gefunden. In wenigen Minuten war das Schloß zertrümmert und die Tür geöffnet.

 

»Nehmen Sie den Revolver«, sagte Larry und reichte ihm seine Waffe hin. »Bis jetzt hat er mir nicht viel genutzt, aber wenn Sie den Schuft zu Gesicht bekommen, schießen Sie. Schießen Sie sofort, ohne sich mit ihm in irgendwelche Redereien einzulassen, und denken Sie nur nicht, daß Sie ihm mit Ihrem Knüttel beikommen können.«

 

Aber Jake der Blinde war – er wußte es – verschwunden. Dieser blinde Mann, dessen kostbarster Sinn zerstört war, war ihm wiederum überlegen gewesen.

 

Die Frau begann jetzt allmählich einige Lebenszeichen von sich zu geben. Ihre Augenlider zuckten, öffneten sich, und mit einem Schrei fuhr sie hoch.

 

»Wo ist Miß Clarissa?« rief sie heiser.

 

»Das möchte ich gern von Ihnen wissen«, war Larrys Antwort.

 

Bald darauf kam ein Taxi, und sie trugen die Frau durch die maskierte Seitentür, die Stufen hinauf und in den prachtvollen Salon. Dort legten sie sie nieder, und Larry blickte um sich auf all diesen Komfort, all diesen Luxus, der mit den Leichen, dem Elend von, Gott weiß wie vielen, unschuldigen Seelen erkauft war.

 

Dann fielen seine Blicke auf diese elende Frau, die dort auf einem Teppich lag, der ein Vermögen wert war, die niemand etwas zuleide getan hatte und die verdammt war, sich unter der Aufsicht eines Unmenschen wie des blinden Jake verbergen zu müssen – und nur, weil sie Stuart kannte und wiedererkannt hatte.

 

Strauß, der Exsträfling und Haushofmeister, wartete mit nervös zuckenden Händen in der Vorhalle.

 

»Sie sind doch nicht bei der Geschichte hier beteiligt?« fragte Larry.

 

»Nein, Sir«, antwortete der Mann zitternd. »Als Sie kamen, dachte ich, daß mein Herr nach Ihnen geschickt hätte, weil – weil ich verschiedene Kleinigkeiten gefunden hatte.«

 

»So was wie Manschettenknöpfe aus schwarzer Emaille, nicht wahr?« fragte Larry. »Wieviel Paar solcher Knöpfe hat er denn gehabt?«

 

»Zwei Paar, Sir. Ich mußte ihm erzählen, was aus ihnen geworden ist, als er mich danach fragte, denn ich habe sie ja in Wirklichkeit gar nicht gestohlen – er hatte sie mir sozusagen geschenkt, weil drei Brillanten fehlten.«

 

»Machen Sie sich keine Kopfschmerzen, Strauß«, sagte Larry. »Er hat sie jetzt wieder, und wenn er auch in ein Leihhaus einbrechen mußte, um sie wiederzubekommen.«

 

Eine Menge Müßiggänger hatten sich auf dem Bürgersteig vor dem Hause angesammelt, um das Schauspiel zu betrachten, wie zwei Männer, augenscheinlich Angestellte einer Gasgesellschaft, ein zerlumptes altes Frauenzimmer die Stufen hinab und in den Wagen trugen.

 

Das Auto war noch nicht lange unterwegs, als sie wieder völlig zu sich kam und heftig zitternd von einem ihrer Begleiter zu dem anderen blickte.

 

»Sie sind jetzt in Sicherheit, Emma«, sagte Larry freundlich.

 

»Emma?« wiederholte sie. »Kennen Sie mich denn, Sir?«

 

»Ja, ich kenne Sie sehr gut«, war Larrys Antwort.

 

»Bin ich jetzt wirklich in Sicherheit?« fragte sie eifrig. »Oh, Gott sei gelobt! Sie haben ja keine Ahnung, was ich alles habe durchmachen müssen. Sie haben ja keine Ahnung davon!«

 

»Ich kann es mir denken.«

 

»Wo wollen Sie sie denn hinbringen?« fragte Harvey leise. »Ich habe nicht gehört, was Sie dem Chauffeur gesagt haben.«

 

»Ich nehme sie mit in meine Wohnung«, sagte Larry zu Harveys deutlich sichtbarer Überraschung. »Die Frau ist ja nicht krank. Sie ist nur todmüde und halb verhungert.«

 

»Das stimmt«, sagte Emma eifrig. »Ich weiß, ich muß furchtbar aussehen, aber ich habe niemals Gelegenheit bekommen, mich zu waschen. Ich bin nicht eine gewöhnliche Frau, Sir, wenn ich auch als Aufwärterin gegangen bin. Ich war Kindermädchen und habe ein kleines Mädchen großgezogen, Sir – die Tochter meiner Herrin. Ich habe sie erzogen wie eine feine Dame, Sir, die kleine Clarissa Stuart.«

 

»Clarissa Stuart?«

 

»Ich habe sie Clarissa genannt, Sir«, sagte Emma. »Wenn ich sie doch nur noch einmal sehen könnte.«

 

»Sie haben sie Clarissa genannt?« sagte Larry langsam. »War denn das nicht ihr eigentlicher Name?«

 

»Doch, Sir«, entgegnete die Frau. »Clarissa Diana, aber ich nannte sie gewöhnlich Clarissa.«

 

Larry fuhr zurück, als hätte ihn der Schlag getroffen.

 

»Wie heißen Sie denn?« fragte er mit heiserer Stimme.

 

»Emma Ward, Sir. Ich habe das junge Mädchen Diana Ward genannt, aber ihr wirklicher Name ist Diana Stuart, und ihr Vater ist jetzt in London.«

 

»Diana Stuart!« wiederholte Larry langsam. »Dann ist also Diana Stuart die Erbin, der Stuart sein ganzes Vermögen vermacht hat. Diana Stuart!« wiederholte er verdutzt. »Diana Stuart! Meine Diana!«