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Trotz seiner Taschenlampe dauerte es geraume Zeit, bis er den Schalter gefunden hatte, der hoch an der Wand und sehr weit von der Tür entfernt dicht unterhalb der abfallenden Decke der Treppe angebracht hat. Ein leichtes Knacken, und der Raum lag in heller Beleuchtung. Von seinem Standpunkt aus konnte er nichts weiter als eine Messingbettstelle sehen, ohne Matratze und Bettzeug. Zwei Stufen weiter hinunter, zwei, drei Schritte durch einen engen Gang, und er befand sich in dem Keller. Fußboden, Wände und Decke waren aus Zement, und es gab noch einen zweiten kleineren Raum, der notdürftig als Badezimmer eingerichtet war. Keinerlei Fenster waren sichtbar, und Larry hatte auch nicht erwartet, solche zu finden. Eine schwere, verbrauchte Luft hing in dem Raum, augenscheinlich waren die beiden Ventilatoren dicht unterhalb der Decke geraume Zeit nicht in Tätigkeit gewesen.

 

Aber weder das Badezimmer noch die Bettstelle nahmen seine Aufmerksamkeit gefangen, sondern der große, schwere Granitblock in der Mitte des Fußbodens. In dem würfelförmigen Stein von ungefähr dreiviertel Meter Durchmesser saß ein großer Stahlhaken, an dem eine lange, dünne Kette, gleichfalls aus Stahl, hing. Die Kette lief in Abständen von je einem Meter durch drei Bleiklötze, deren Gewicht Larry auf vielleicht zehn Pfund schätzte, und endigte in einer bronzenen Fußschelle.

 

»Ja«, sagte Larry, »ich glaube, so ist es.«

 

Er nahm den Fußring auf und versuchte erst den einen, dann den anderen seiner Schlüssel in dem kleinen Schlüsselloch, das durch einen Schieber verdeckt war, und atmete erleichtert auf, als sich der Ring öffnete.

 

»Gott sei dank! Ich befürchtete schon, daß ich nicht den richtigen Schlüssel hätte.«

 

Er blickte Harvey an, dessen Gesicht ein einziges Fragezeichen war.

 

»Was soll das alles bedeuten, Mr. Holt?« fragte der Sergeant verständnislos.

 

»Der Operationssaal der ›Toten Augen‹, war Larrys kurze Antwort.

 

»Wollen Sie damit sagen, daß diese Teufel –«

 

Larry nickte. Er ging an den Wänden entlang und suchte vergeblich nach einem Platz, wo er den wasserdichten Beutel, den er in der Tasche hatte, verbergen könnte. Aber es war auch nicht ein einziger Riß in dem Mauerwerk zu sehen, und die Löcher, die in regelmäßigen Abständen in der Nähe des Fußbodens lagen, waren, wie er wußte, für diesen Zweck nicht zu gebrauchen. Dann fiel sein Auge wieder auf den Granitblock, und er stemmte sich mit allen Kräften gegen diesen. Langsam und mühevoll zog er ihn auf die Seite. Es war unnötig gewesen, einen Steinblock von solchem Gewicht in den Boden einzuzementieren.

 

»Helfen Sie mir mal, ihn umzulegen, Harvey«, sagte er, und die beiden Männer legten den Block auf die Seite.

 

Er war genau eingepaßt, und seine Auflagestelle war kaum zwei Zentimeter tiefer als der Fußboden, aber die Arbeiter hatten sich nicht die Mühe gemacht, diese zu glätten, und so hatte sich in dem Zement eine unregelmäßige, flache Vertiefung gebildet, die für Larrys Zwecke gerade groß genug war. Er nahm den wasserdichten Sack, der kaum größer als ein Schwammbeutel war, aus seiner Tasche und steckte verschiedene Gegenstände hinein.

 

»Noch einen Handschellenschlüssel, Harvey«, sagte er. »Hoffentlich haben Sie einen. Ich habe meinen im Büro vergessen.«

 

Harvey fand einen in seiner Westentasche.

 

»Und das auch noch!« Er zog etwas aus der Tasche und legte es in den Sack. Dann machte er diesen so flach wie möglich, legte ihn in die kleine Vertiefung, die er gerade ausfüllte, und schob mit Harveys Hilfe den Block an seine ursprüngliche Stelle.

 

»Darf ich fragen, was das alles bedeuten soll?« fragte Sergeant Harvey mehr und mehr erstaunt.

 

Larry lachte, und in dem fürchterlichen Raum, der nie Gelächter gehört hatte, klang sein Lachen hohl und unheimlich.

 

»Ist der Diener mit in die Geschichte verwickelt?« fragte Harvey.

 

»Sicherlich nicht. Die Bande würde niemals einem Diener trauen«, entgegnete Larry. »Nein, er kommt wahrscheinlich nur nach den Herrschaftszimmern, wenn sein Herr nach ihm klingelt. Wenn Sie sich das Haus genau betrachten, werden Sie finden, daß es für einen ganz besonderen Zweck gebaut worden ist. Der Raum hier hat zum Beispiel in der Wandtäfelung Rohranlagen, um Luft hinein- und herauspumpen zu können, ein elektrischer Fahrstuhl geht von der Küche nach oben, eine private Treppe führt zu den Schlafzimmern und der Bibliothek in der oberen Etage. Meine Annahme ist, daß der Diener und das ganze Personal tatsächlich in einem Teil des Hauses wohnen, der von diesem hier vollkommen getrennt ist. Haben Sie die Tür gegenüber dem, lassen Sie mich sagen, Maschinenraum, bemerkt? Nein? – Es war gar nicht so leicht, sie zu entdecken, denn sie paßte sich in jeder Weise der Wand an, ist aber in Wirklichkeit eine wunderbar maskierte Eisentür, führt direkt auf den Hof und von dort – vergessen Sie das nicht – in die Garage.«

 

Harvey nahm seinen Sack mit Werkzeugen auf die Schulter.

 

»Das ist ein furchtbares Haus, Mr. Holt«, sagte er schaudernd. »In meinen ganzen fünfunddreißig Dienstjahren hat mich niemals etwas so – so entsetzt, wie das Haus hier. Das kommt Ihnen vielleicht etwas lächerlich vor?«

 

»Ganz und gar nicht«, sagte Larry ruhig. »Ich selbst finde keine Worte für die Empfindungen, die mich in diesen Räumen beschleichen.«

 

»Glauben Sie wirklich, daß hier alle die Leute umgebracht worden sind?«

 

»Davon bin ich fest überzeugt. In der Kammer da unten starb Gordon Stuart eines schmählichen Todes.«

 

Sie gingen in die Vorhalle zurück. Dicht bei der Tür befand sich ein sehr schmales Fenster, das durch einen schweren seidenen Vorhang verdeckt war. Harvey schob ihn zur Seite.

 

»Da steht ein Auto vor der Tür«, rief er. »Es ist gerade vorgefahren.«

 

Larry ging zu ihm hin und blickte an seiner Seite durch das Fenster. Ein Mann war aus dem Taxi gestiegen und bezahlte den Chauffeur.

 

»Ehrwürden Mr. Dearborn«, sagte Larry. »Außerordentlich interessant.«

 

Larry zögerte nur eine Sekunde, bevor er die Tür öffnete und hinaustrat. Ehrwürden John Dearborn war von dem Wagen auf das Haus zugegangen, und seine Hand lag schon auf der Klinke des eisernen Gitters, als er plötzlich das Haupt senkte, wie jemand, der sich an etwas erinnert, und dem Chauffeur zuwinkte.

 

»Hören Sie mal, lieber Freund«, sagte er. »Ich kann Sie nicht sehen, sind Sie noch da?«

 

»Ja, Sir«, erwiderte der Mann.

 

»Es fällt mir gerade ein, daß ich noch nach dem Postamt fahren muß. Wollen Sie mich dahin bringen?«

 

Seine Hand streckte sich suchend aus, der Chauffeur ergriff sie, beugte sich zurück und öffnete die Wagentür.

 

Bevor Larry die Stufen hinunterkommen konnte, fuhr das Auto schon fort. Larry drehte sich mit einem halben Lächeln um.

 

»David Judd kann ruhig warten«, sagte er leise.

 

»David Judd!« wiederholte Harvey ungläubig.

 

»David Judd!« sagte Larry von neuem. »Wer kann behaupten, daß wir nicht in einem Zeitalter von Zeichen und Wundern leben, wo der Blinde sehen kann wie John Dearborn, wo David Judd, tot und begraben, in London in einer Autotaxe spazierenfährt!«