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Ein dünner weißer Nebel hing über dem Park und verhüllte den verlassenen Reitweg von Rotten Row.

 

Sir John Hason, Chefkommissar der Polizei, dessen Gewohnheit es war, jeden Morgen vor dem Frühstück einen Spazierritt zu machen, erwartete weder noch wünschte irgendwelche Gesellschaft. Um so größer war daher seine Überraschung und auch sein Verdruß, als ein Reiter hinter ihm aus dem Nebel auftauchte, zu ihm heranritt und sein Pferd an Sir Johns Seite in Schritt fallen ließ.

 

»Hallo, Larry«, rief John Hason. »Wo tauchst du denn auf einmal auf; ich dachte erst, du wärest ein Geist.«

 

»Das werde ich auch bald sein. Lange wird’s nicht mehr dauern, wenn ich nicht sehr aufpasse«, sagte Larry. »Aber ich wußte, daß ich dich hier finden würde, und so habe ich mir im Tattersall einen Gaul gemietet und bin hierhergekommen. Ich habe ein bißchen frische Luft nötig und möchte mal außerhalb der verblödeten Atmosphäre deines Büros mit dir sprechen.«

 

»Gibt’s was Neues?«

 

»Ein kleiner Mordversuch wurde heute nacht probiert, aber das ist so etwas Gewöhnliches, daß es mir widersteht, dies als Neuigkeit zu rapportieren«, sagte Larry und berichtete von dem nächtlichen Besucher.

 

»Das ist der merkwürdigste Fall, der mir jemals vorgekommen ist«, sagte Sir John Hason nachdenklich. »Nicht ein einziger Tag vergeht, ohne daß sich etwas Neues ereignet. Du hältst also die Frage mit der Aufwärterin für wichtig?«

 

Larry nickte.

 

»Du kennst ja London viel besser als ich, John«, sagte er. Zwischen ihm und seinem alten Schulkameraden gab es bei solchen Gelegenheiten wie diese keine Formalitäten. »Wer ist eigentlich Judd?«

 

»Judd!« lachte der Kommissar. »Ich glaube nicht, daß du dir seinetwegen den Kopf zu zerbrechen brauchst. Er ist in der Geschäftswelt ganz gut angesehen; ich glaube aber gehört zu haben, daß sein Bruder sehr leichtsinnig gewesen sein soll. Beinahe sämtliche Aktien der Greenwich-Versicherungs-Gesellschaft gehören der Familie Judd. Es ist keine sehr bedeutende Gesellschaft, hat es aber fertig bekommen, jedem Versuch der Versicherungskonzerne und der großen Gesellschaften, die Greenwich-Kompanie aufzuschlucken, zu widerstehen. Das beweist Charakter und Standfestigkeit, die ich bewundern muß. Die Judds haben die Aktien von ihrem Vater geerbt und brachten die Gesellschaft, die damals als wenig sicher angesehen wurde, zu ihrer jetzigen Höhe.«

 

»Ich habe heut nacht die Aufsichtsratsliste durchgelesen«, sagte Larry. »Sie ist im Jahresbericht der Börse, und ich habe eine ganze Zeit damit verbracht, mir den Kopf zu zerbrechen. Weißt du denn, daß John Dearborn auch Direktor der Gesellschaft ist?«

 

»Dearborn, der Theaterschriftsteller?« fragte Hason schnell. »Nein, das war mir nicht bekannt. Selbstverständlich sind Direktoren in einer derartigen Gesellschaft, wie diese hier«, sagte er lächelnd, »nur von Judd vorgeschlagen und gewählt. Man hat mir erzählt, daß Judd ein ganz guter Kerl ist und eine Menge Geld für wohltätige Stiftungen spendet. Er unterhält beinahe ganz allein das Heim, in dem Dearborn der Vorsteher ist. Vielleicht hat man dem nur den Direktorposten gegeben, um das Heim auf diese Weise etwas zu unterstützen.«

 

»Daran habe ich auch schon gedacht«, nickte Larry. »Wer ist aber Walters?«

 

»Habe niemals von ihm gehört«, sagte Sir John.

 

»Er ist ein anderer Direktor der Gesellschaft. Und Cremley? Ernest John Cremley aus Wimbledon.«

 

»Der ist ganz sicher dekorative Figur«, lachte der Kommissar. »Ich kenne ihn oberflächlich. Er ist ein Mann mit sehr wenig Kopf, aber einem unstillbaren Appetit auf Karten. Warum fragst du?«

 

»Weil diese beiden gleichfalls Direktoren des Macready-Theater-Syndikates sind«, antwortete Larry bedächtig. »Judds Name ist nicht erwähnt, dafür aber ein fremder Name, unter dem wahrscheinlich ein Strohmann Judds erscheint.«

 

»Und was schließt du aus all diesem?« fragte der Chefkommissar.

 

»Was ich daraus schließe?« – Larry verhielt sein Pferd und brachte es herum, so daß er seinem Chef in das Gesicht blickte – »daß Judd das Theater, in dem Dearborns Stücke aufgeführt werden, unter seiner Kontrolle hat. Es besteht also eine Verbindung zwischen Judd und dem Leiter der Blinden-Mission in Paddington.«

 

Sir John dachte lange Zeit über diese Mitteilung nach, bevor er antwortete.

 

»Ich kann wirklich nicht sehen, daß dabei etwas zu finden sein sollte. Dearborn ist doch schließlich nur das Opfer des blinden Jake, und Judd nach allem, was du mir in deinem Rapport von gestern mitgeteilt hast, ist überhaupt nicht in Mitleidenschaft gezogen worden, wenn du nicht unseren Freund Flimmer Fred mit hineinbringen willst. Ich kann sehr gut begreifen, warum der Doktor den Namen seines Bruders rein halten wollte«, fuhr er fort. »Judd vergötterte seinen jüngeren Bruder, hielt ihn für den besten und tüchtigsten Menschen in der ganzen Welt. Mir ist niemals ein Fall vorgekommen; wo ein Bruder soviel Liebe für den anderen bewies. Die ganze Woche hindurch, in der sein Bruder David Judd gestorben war, hatte der Doktor sich eingeschlossen und wollte niemand sehen. Teufel noch mal, was –!«

 

Der überraschte Ausruf des Kommissars war sehr berechtigt, denn Larry hatte plötzlich sein Pferd herumgerissen und sprengte in scharfem Galopp quer durch den Park, ohne das gefährliche Gelände zu beachten, über das er hinwegsetzte.

 

Der Mann hörte den Galopp der Hufe und rannte schnell wie ein Reh gerade auf das Parktor zu und in die Straße hinaus. Das Tor war so schmal, daß Larry nicht hindurchreiten konnte. Er sprang ab, überließ das Pferd seinem Schicksal und eilte auf die Straße. Er sah nur noch ein Auto, das von der Bordschwelle wegfuhr und sich schnell nach Westen entfernte.

 

Vergebens hielt er nach einem Taxi Ausschau, zuckte die Achseln, fand sein Pferd, stieg auf und kanterte langsam zu Sir John zurück.

 

»Was zum Teufel ist denn in dich gefahren?« fragte Sir John.

 

»Ich sah einen Herrn, den ich brennend gern treffen möchte«, war Larrys ein wenig atemlose Antwort. »Einen gewissen blinden Jake, der seinen morgendlichen Gesundheitsspaziergang im Park macht, während sein Wagen wartet, um ihn, wie es sich für einen vollkommenen Kavalier geziemt, wieder nach Haus zu fahren!«