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»Sagen Sie das bitte noch einmal«, rief Larry. »Sie hielten die Hand hin, und er ergriff sie.«

 

Sie nickte.

 

»Wissen Sie denn nicht, daß man immer die Hand eines Blinden ergreift, wenn man ihn begrüßen will, weil er ja doch die ausgestreckte Hand nicht sehen kann? – Aber Dearborn erhob seine Hand im gleichen Augenblick, wo ich ihm meine entgegenhielt.«

 

Larry starrte sie fassungslos an.

 

»Wenn er nicht blind ist, warum ist er dann überhaupt in dem Heim? – Auf jeden Fall ist er doch aber ein Geistlicher.«

 

»Es gibt keinen John Dearborn in der Liste der Geistlichen«, sagte das junge Mädchen ruhig. »Ich habe die ganze Liste sorgfältig durchgelesen; sein Name findet sich auch nicht auf den Listen der Independenten, Baptisten und Wesleyaner.«

 

Larry sah sie voller Bewunderung an.

 

»Sie sind wirklich ein Wunder! Haben Sie aber auch daran gedacht, daß er von Australien gekommen ist?«

 

»Auch die australischen Listen kann man hier erhalten«, antwortete sie sofort, »und der einzige John Dearborn ist ein sehr alter Herr, der in Totooma lebt und sicherlich nicht mit dem unserigen identisch ist.«

 

Sie hatte sich einen Stuhl dicht an seinen Schreibtisch gezogen und beugte sich mit verschlungenen Händen ihm zu.

 

»Larry«, sagte sie, »– außerhalb der Bürostunden werde ich Larry zu Ihnen sagen – ist es Ihnen denn nicht aufgefallen, daß John Dearbons Stücke trotz aller ständigen Durchfälle immer wieder von dem Theater angenommen werden?«

 

»Darüber habe ich schon oft nachgedacht«, gab Larry zu, und sie nickte mit dem Kopf.

 

»Ich wünschte, Sie würden sich mal über das Direktorium des Macready-Theaters informieren«, sagte sie. »Man müßte herausfinden, aus welchen Personen sich das Syndikat zusammensetzt, das das Geld für Inszenierung dieser Stücke bewilligt oder aufbringt. – Ich kann nicht vergessen, daß Mr. Stuart von diesem Theater aus verschwunden ist.«

 

»Ich auch nicht«, sagte Larry nachdrücklich. »Aber John Dearborn! Das ist nicht denkbar.«

 

»Jetzt werde ich müde«, sagte sie, sich erhebend. »Ich habe mein Herz erleichtert. – Lassen Sie –«, sie zögerte einen Augenblick, »lassen Sie die Wäscherei beobachten?«

 

»Ich habe da zwei Mann auf Posten, die jeden ein- und ausfahrenden Wagen anzuhalten und sich zu informieren haben, wer der Führer ist und was der Wagen enthält.«

 

»Dann kann ich mich ja beruhigt zu Bett legen«, lachte sie leise. Als sie an ihm vorbeiging, strich sie ihm zart mit der Hand über das Haar und sagte: »Für einige Zeit noch ist Emma nicht in direkter Lebensgefahr. Die eigentliche Gefahr für sie beginnt in dem Augenblick, wenn sie von der Wäscherei weggebracht wird.«

 

»Sie können darüber völlig beruhigt sein«, entgegnete Larry, und mit dieser Zusicherung verschwand sie in ihrem Zimmer, und er hörte, wie sich ihre Tür schloß.

 

Der nächste Tag brachte keine neuen Entwicklungen. Die Polizei hatte noch einmal die Wäscherei durchsucht und doch noch einen Raum entdeckt, der oberhalb des Zimmers lag, in dem Diana eingeschlossen gewesen war.

 

Larry verwünschte sich selbst, daß er seine erste Durchsuchung des Grundstücks nicht sorgfältiger durchgeführt hatte. Er war aber so erleichtert gewesen, als man Diana wiedergefunden hatte, und war darum nicht so gründlich vorgegangen, wie er es hätte tun müssen.

 

Zwei Menschen wünschte er vor allen Dingen zu finden. Erstens den Mann, dem der kleine Finger der linken Hand fehlte, jene rätselhafte Person, die sich einen Tag vor ihm in Beverley Manor nach Mrs. Stuart erkundigt hatte. Und zweitens Emma, die geheimnisvolle Aufwärterin. Er fühlte in seinem Innersten, daß Emma den Schlüssel zu allen diesen unbegreiflichen Rätseln in Händen hatte.

 

»Ich werde es mir nie verzeihen«, sagte er zu Diana, »wenn dieser Frau etwas zustößt.«

 

»Sie brauchen nicht zu befürchten«, sagte sie kopfschüttelnd, »daß sie ihr ein Leid zufügen werden. Ihr Leben ist viel zu kostbar für die Bande, und ich werde ganz genau wissen, wann die eigentliche Gefahr für sie beginnt.«

 

»Sie?« rief er überrascht. »«Wirklich, Diana, manchmal sind Sie mir direkt unheimlich.«

 

Sie lachte und ließ ihre Schreibmaschine emsig klappern.

 

»Flimmer Fred ist noch nicht zur Besinnung gekommen«, erzählte er ihr, »aber die Aussichten dafür sind nicht ungünstig. Der Doktor sagt, daß kein Schädelbruch vorliegt und daß der Druck auf das Gehirn, der ihn noch besinnungslos hält, nachlassen wird.«

 

»Wo liegt er denn?«

 

»Im St. Mary-Hospital«, erwiderte Larry. »Ich habe ihn in ein Privatzimmer legen lassen mit einem Mann als Wache. Nicht, weil ich befürchte, der arme Fred könnte entwischen«, fügte er lächelnd hinzu, »sondern weil es einige Leute in London gibt, denen außerordentlich viel daran liegt, daß er entwischt, aber nur auf eine Weise, die ihnen selbst vollkommene Sicherheit garantiert –«

 

Sie brauchte nicht zu fragen, was er damit meinte. Larry legte den Federhalter weg.

 

»Es wäre keine schlechte Idee, wenn wir nach St. Mary fahren und uns an der Quelle erkundigen würden, wie es ihm geht. – Wollen Sie nicht mitkommen?«

 

Als sie sich vor dem zehn Zentimeter breiten und ebenso hohen Spiegel den Hut aufsetzte, fragte sie, ohne den Kopf nach ihm umzudrehen:

 

»Was beabsichtigen Sie mit Dearborn zu machen?«

 

Er strich nachdenklich sein Kinn.

 

»Im Augenblick weiß ich wirklich nicht, was ich machen soll. Es ist schließlich kein Verbrechen, wenn ein Mann behauptet, er wäre blind und ist es nicht. Und übrigens hat er vielleicht noch genügend Sehkraft, um Ihre Hand gesehen zu haben. Vielleicht gibt es noch ein Dutzend anderer Erklärungen. Er konnte ja seine Hand auch ganz mechanisch, instinktiv erhoben haben.«

 

Sie nickte.

 

»Es ist möglich«, versetzte sie ruhig, »aber er lächelte doch auch, als ich ihm zulächelte.«

 

»Wer würde das nicht tun?« sagte Larry verliebt.

 

In dem Büro des Chefarztes von St. Mary trafen sie den Chirurgen, der diesen Fall in Händen hatte.

 

»Sie kommen wie gerufen«, meinte er. »Ihr Schützling ist gerade wieder zur Besinnung gekommen.«

 

»Darf er sprechen?« fragte Larry eifrig.

 

»Ich denke ja, wenn die dringende Notwendigkeit dazu vorliegt. Er ist begreiflicherweise sehr schwach, und unter gewöhnlichen Umständen würde ich keine Erlaubnis geben, ihn zu – vernehmen. Ich gehe in meiner Annahme wohl nicht fehl, daß es sich um eine besondere polizeiliche Recherche handelt.«

 

»Allerdings«, sagte Larry grimmig.

 

Der Arzt führte sie nach dem Krankenzimmer, an dessen Tür das junge Mädchen zögernd stehenblieb.

 

»Soll ich mit hineinkommen?« fragte sie.

 

»Ihre Gegenwart ist sehr notwendig«, sagte Larry, »und wenn auch nur in professioneller Eigenschaft. Haben Sie Ihr Stenogrammheft bei sich?«

 

Sie nickte, und beide betraten das Zimmer, in dem Fred Grogan lag. Sein Kopf war ganz verbunden, sein Gesicht war blaß und verzerrt, aber seine Augen leuchteten auf, als er Larry erblickte.

 

»Ich hätte es niemals für möglich gehalten, mich auf Ihren Besuch zu freuen«, sagte er. »Aber vor allen Dingen, Inspektor«, seine Stimme klang sehr ernst, »müssen Sie die Frau aus dem Kesselhaus herausholen.«

 

»Die Frau im Kesselhaus?« fragte Larry schnell. »Was meinen Sie damit?«

 

»Das Kindermädchen. Die Amme von Clarissa«, war die verblüffende Antwort, »und wer Clarissa eigentlich ist, mag der Teufel wissen.«

 

»Also jetzt werde ich Ihnen mal die reine Wahrheit erzählen«, begann Fred und setzte sich im Bett zurecht. »Das beste ist, ich fange von vorne an, und ich muß mich da in ein schlechtes Licht setzen, aber Sie müssen eben eine ganze Masse, was ich Ihnen hier erzähle, vergessen, weil ich sonst in den Verdacht kommen könnte, nicht ganz ehrlich zu sein.«

 

»Der Gedanke, daß sich eine derartige Meinung über Sie verbreiten könnte, wäre mir unerträglich«, sagte Larry, aber ohne zu lächeln, »und ich kann Ihnen die Zusicherung geben, daß sämtliche Einzelheiten, die sich nicht direkt auf den Mord Gordon Stuarts beziehen, in diskretester Weise vergessen werden.«

 

»Famos!« sagte Fred sichtlich erleichtert. »Also los. Die ganze Geschichte beginnt vor ungefähr vier oder fünf Jahren in Montpellier. Kennen Sie vielleicht Montpellier?«

 

»Sehr gut«, sagte Larry. »Sie können also alle topographischen Einzelheiten auslassen. Ich kenne die Stadt vom Coq d’Or bis zum Palais.«