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Sie trugen den Verwundeten ins Wohnzimmer und legten ihn auf einen Diwan. In der oberen Etage wohnte ein Doktor, der glücklicherweise noch nicht zu Bett gegangen war und in wenigen Augenblicken unten war.

 

»Sehr schwer verwundet«, war sein Befund. »Zwei tiefe Messerstiche, und die Kopfwunde sieht aus, als ob der Schädel gebrochen wäre.«

 

»Der Mann muß vor meiner Wohnungstür angegriffen worden sein«, sagte Larry. »In seinem Zustand konnte er doch nicht bis hierher gekommen sein.«

 

»Unmöglich«, bestätigte der Arzt. »Vielleicht hätte er noch zwei oder drei Yard laufen können, aber meiner Meinung nach ist er dort angefallen worden, wo Sie ihn gefunden haben: vor Ihrer Tür. Kennen Sie den Mann?«

 

»O ja«, war Larrys Antwort. »Er ist eine alte Bekanntschaft von mir. Schwebt er in Lebensgefahr?«

 

»In sehr großer«, antwortete der Doktor ernst. »Der Schädelbruch ist das Schlimmste. Ich würde ihn sofort in ein Hospital bringen lassen, wo er untersucht und, wenn nötig, sofort operiert werden kann.«

 

Der Krankenwagen war gekommen und wieder weggefahren, und die einzige Erinnerung an Flimmer Freds Besuch waren einige dunkle Flecken vor der Tür.

 

Die Schwerster erfüllte in jeder Weise seine telephonisch gegebenen Ansprüche. Sie war wohlbeleibt, gemütlich und sehr mütterlich, und in den ersten freien Minuten machte Larry sie mit den Gründen bekannt, die ihre Anwesenheit in seiner Wohnung verlangten.

 

»Es war nach den schrecklichen Erlebnissen, die Miß Ward heute durchmachen mußte, selbstverständlich ausgeschlossen, sie in ihre Wohnung in der Charing Croß Road zurückkehren zu lassen«, und Schwester James, ganz und gar nicht unzufrieden, einen so leichten »Fall« zu erhalten, stimmte ihm von ganzem Herzen bei.

 

Sie bewies ihre Autorität, indem sie Diana sofort ins Bett schickte, was das junge Mädchen kleinlaut genug befolgte. Aber Schlaf war unmöglich für sie. Um zwei Uhr morgens hörte Larry, der arbeitend an seinem Schreibtisch saß, das leichte Knarren einer sich öffnenden Tür, blickte auf und sah sie im Türrahmen stehen. Sie war im Morgenrock, und ihr Haar war in einem langen, goldenen Zopf geflochten.

 

»Ich kann nicht schlafen«, sagte sie nervös, beinahe schroff. Larry sah, sie war überreizt, und zog einen bequemen Sessel für sie heran.

 

Sie saß still mit gefalteten Händen in ihrem Sessel. Kein Laut ließ sich hören wie das Ticken der Uhr auf dem Kaminsims und dann das Knarren von Larrys Stuhl, als er sich ihr zuwandte.

 

»Was bedrückt Sie, Diana?«

 

Sie blickte schnell zu ihm auf.

 

»Glauben Sie, daß ich bedrückt bin?«

 

Er nickte.

 

»Sie haben recht. Die Frau ›oben‹ läßt mir keine Ruhe.«

 

»Die Frau ›oben‹? – Ach, Sie meinen die Frau, von der Jake gesprochen hat? Aber Diana, ein ›oben‹ gab es ja gar nicht mehr. Sie waren ja schon in der obersten Etage des Hauses, und das Haus ist ein Stockwerk niedriger als Todds Heim.«

 

Aber Diana konnte sich nicht zufrieden geben.

 

»Arme Seele, arme Seele« murmelte das junge Mädchen und begann zu Larys Schrecken leise zu weinen. »Der Gedanke an sie läßt mir keine Ruhe, läßt mich nicht schlafen«, schluchzte sie. »Sie werden sie festhalten. Sie dürfen sie ja gar nicht freilassen.«

 

»Warum denn?« rief er mit stockendem Atem. »Wollen Sie vielleicht sagen, daß die Frau Clarissa Stuart ist?«

 

Sie blickte ihn mit tränenüberströmtem Gesicht an.

 

»Clarissa Stuart? – Nein, ich denke nicht, daß sie Clarissa Stuart ist.«

 

»Wer kann es dann sein?« fragte er. »Wer denken Sie denn überhaupt, wer sie ist?«

 

»Ich denke es nicht – ich weiß es sicher«, mit qualvoller Langsamkeit suchte sie nach den Worten. »Die Frau ist Emma. Die Aufwärterin Emma aus der Pension.«

 

Larry sprang auf die Füße und sagte dann langsam:

 

»Die Aufwärterin! – Sie haben recht!«

 

Wieder war das leise Ticken der Uhr das einzige Geräusch in dem Zimmer, als sie sich beide, jeder mit seinen Gedanken beschäftigt, gegenübersaßen.

 

»Sie glauben also, daß zwischen dieser furchtbaren Bande und dem Fall Stuart ein Zusammenhang besteht?«

 

Sie nickte.

 

»Auch ich glaube das«, sagte Larry, »und habe meine sehr guten Gründe dafür. Und doch kann ich nicht sehen, was sie durch den Tod Stuarts gewonnen haben, falls sie natürlich nicht mit dem Mädel, das sich Clarissa Stuart nannte, unter einer Decke stecken?«

 

Sie machte mit den Armen eine kleine hoffnungslose Bewegung und erhob sich.

 

»Ich kann den ganzen Zusammenhang erkennen«, sagte sie. »Er ist für mich ganz klar, aber – einen einzigen Menschen konnte ich in die Angelegenheit nicht hineinbringen«, fuhr sie fort, »nun haben Sie mir auch dafür eine Erklärung geliefert.«

 

»Und wer ist das?«

 

»Flimmer Fred! – Er ist weiter nicht als ein gewöhnlicher Verbrecher, der in die ganze Sache mit hineingezogen wurde, ohne selbst davon eine Ahnung zu haben.« Sie nickte nachdrücklich, als ob sie sich erst in diesem Augenblick über den Punkt völlig klar geworden wäre. »Aber die anderen? – Der blinde Jake, der für einen unbekannten Herrn arbeitet? – Die Aufwärterin, das bedauernswerteste Opfer von allen! – Armer Lew, mit seinen tauben Ohren und armen, wunden Fingern – Sie haben ja die Finger nicht gesehen. Ich wollte gerade darüber mit Ihnen sprechen, als wir von dem Doktor unterbrochen wurden.«

 

»Wunde Finger?« fragte er erstaunt. »Nein, ich habe sie nicht bemerkt.«

 

»Ich habe es gefühlt«, schauderte sie zusammen, »als er mein Gesicht berührte. Alle seine Finger waren an den Spitzen mit Blasen bedeckt, verbrannt.«

 

»Aber, mein Gott, warum denn nur?«

 

»Damit er weder Braille-Schrift schreiben noch lesen kann!« sagte sie langsam.

 

»Das ist ja unmöglich«, rief Larry entsetzt. »Eine solche Gemeinheit kann es in der Welt nicht geben! – Liebes Kind, ich bin mit einigen der schaurigsten Verbrechen in Berührung gekommen, die je in Europa begangen wurden. Ich habe die Opfer gesehen und die Täter aufgespürt, verfolgt und hängen lassen. Menschen können grausam, lasterhaft, gewissenlos, blutdürstig sein, aber sie begehen nicht kalten Blutes solche Scheußlichkeiten, wie sie Ihrer Meinung nach diesem armen, blinden Mann zugefügt wurden.«

 

Sie lächelte wieder.

 

»Ich glaube, Sie haben sich selbst noch nicht klar gemacht, wie schlecht, wie grundschlecht diese Menschen sind. Was nun Dearborn betrifft –« sie lachte auf.

 

»Diana, liebe Diana, Sie haben jetzt das Stadium erreicht, wo man gegen jeden Menschen mißtrauisch ist. Aber doch nicht mißtrauisch gegen den armen John Dearborn, der aus reinster Menschenliebe in jener Spelunke und inmitten dieser fürchterlichen Menschen arbeitet?«

 

Sie nickte.

 

»Ich gab John Dearborn die Hand, als ich dorthin kam. Ich gab ihm die Hand, als ich wegging«, sagte sie.

 

»Das macht ihn doch nicht zum Verbrecher«, lächelte er.

 

»Und als ich ihm meine Hand hinhielt, ergriff er sie. Denken Sie doch, bitte, daran, daß ich zwei Jahre lang Schwester in einem Blindenheim war … als ich meine Hand hinhielt, ergriff er sie.«

 

»Ja, aber warum denn nicht?« fragte Larry verständnislos.

 

»Weil er sie nicht sehen konnte, wenn er blind war. Und John Dearborn ist ebensowenig blind wie Sie oder ich.«