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Ein unbeschreibliches Gefühl von Sicherheit und tiefem Glück durchströmte sie, als sie in Larrys Armen lag. Endlich machte sie sich langsam frei und stieß wenige hastige Worte hervor, die ein kleines Regiment von Detektiven veranlaßten, nach dem Schlafsaal und durch die Ziegelsteintür zu stürzen, die sie halb offen gelassen hatte.

 

Larry vertraute das junge Mädchen der Obhut Harveys an und eilte hinterher. Das Zimmer, in dem Diana eingeschlossen war, war leer; er hielt sich nur einen Augenblick auf, um den Strom auszuschalten, und folgte dann den anderen nach. Es stellte sich ohne jeden Zweifel heraus, daß der ganze Teil dieses Gebäudes trotz seiner anscheinenden Unbewohntheit regelmäßig benutzt worden war. Sie fanden Zimmer, die innerhalb der ursprünglichen Räume durch Errichten einer schwachen Wand gebildet wurden, die nur wenige Fuß von jedem Fenster entfernt war. So konnte das Haus bei Nacht beleuchtet werden, ohne daß irgend jemand von außen das geringste wahrnahm.

 

Jake der Blinde hatte die reine Wahrheit gesagt, als er dem jungen Mädchen von den vielen Ausgängen des Hauses sprach. Einen fanden sie im Keller, der zu einem aufgegebenen Abzugskanal von Regenwasser führte, und dort gaben sie weitere Nachforschungen auf. Keiner von ihnen allen war für eine Verfolgung durch die Dunkelheit ausgerüstet.

 

Ein zweiter Ausgang führte direkt in den Hof, wo Larry die Garage gefunden hatte, und ein dritter führte nach der Küche in Todds Heim.

 

Larry mußte sich klar machen, daß sein Wild entwischt war; und ging zu Diana zurück. Er fand sie im Büro des Vorstehers.

 

»Und jetzt, Mr. Dearborn«, begann er, »möchte ich von Ihnen einige Aufklärungen über die merkwürdigen Vorkommnisse in Ihrem Hause haben.«

 

»Ich kann nicht finden, daß sich irgend etwas Merkwürdiges und Geheimnisvolles in diesem Hause ereignet hat«, sagte Mr. Dearborn ruhig. »Sie können mich doch nicht für Verbrechen verantwortlich machen wollen, die im nächsten Hause begangen wurden. Man hat mir erzählt, daß Verbindungstüren zwischen den beiden Gebäuden gefunden wurden, aber davon hatte ich nicht die geringste Ahnung. Wenn wirklich jemand im Nebenhause gewohnt –«

 

»Sechs Menschen wohnten nebenan«, unterbrach Larry. »Wir haben ihre Betten und einige ihrer Kleidungsgegenstände gefunden. Und die Tatsache, daß wir Bücher fanden, einige noch geöffnet, beweist klar, daß die Insassen nicht blind waren.«

 

Mr. Dearborn zuckte mit den Achseln.

 

»Was kann ich denn machen?« fragte er. »Wir sind in unserem Hause gänzlich von der Zuverlässigkeit unserer Insassen abhängig. Auch wenn es zeitweise möglich ist, die Gegenwart eines Fremden an dem ungewohnten Fußtritt, der Stimme, am Husten zu erkennen, ist es gar nicht ausgeschlossen, daß diese Männer sich frei und ungehindert dieses Hauses bedienten, um ihre verbrecherischen Pläne zur Ausführung zu bringen, ohne daß wir auch nur den geringsten Verdacht haben konnten.«

 

Seine Worte waren von so unbestreitbarer Logik, daß Larry nichts darauf entgegnen konnte.

 

Ganz offen gab er auch die Berechtigung von Mr. Dearborns Worten zu.

 

»Ich muß ohne weiteres diese Möglichkeit zugeben«, sagte er. »Es ist natürlich sehr bedauernswert für Sie und auch für mich. Die Sache hätte ja noch viel schlechter ablaufen können.« Wie entsetzlich sie aber in Wirklichkeit gewesen war und hätte endigen können, erfuhr er erst, als ihm das junge Mädchen ihre Erlebnisse während der Fahrt nach Scotland Yard mitteilte.

 

»Mein armes Kind«, schauderte er. »Das ist ja furchtbar.«

 

Sie hatte ihren Regenmantel übergezogen, und an der Ecke von Edgware Road hatten sie angehalten, weil sich das junge Mädchen eine neue Bluse kaufen wollte. Sie bestand darauf, erst nach dem Präsidium zu fahren, um dort ihre Erklärung zu Protokoll zu geben.

 

»Dearborn tut mir leid«, sagte Larry. »Er ist wirklich eine ergreifende Figur. Bei Menschen, die wie er ihr ganzes Leben barmherzigen Werken gewidmet haben, muß man eben kleine schwache Anstrengungen für dramatische Effekte entschuldigen. Haben Sie bemerkt, wie eifrig er Ihnen die Hand schüttelte?«

 

Sie sah ihn scharf an.

 

»Ja, das habe ich sehr gut bemerkt«, sagte sie mit eigenartiger Betonung.

 

»Nanu, Diana«, fragte er, »was wollen Sie damit sagen?«

 

»Ach nichts«, antwortete sie leichthin. »Ich meine nur, daß er meine Hand ergriffen und sie herzlich geschüttelt hat, das ist alles.«

 

»Da ist doch nichts dabei«, lächelte Larry.

 

»Da ist sehr viel dabei«, entgegnete sie. »Viel mehr, als Sie sich selbst klarmachen.«

 

Sie eilte voraus nach Zimmer 47, und als er kurze Zeit später diskret an die Tür klopfte, hatte sie schon ihre zerrissene Bluse mit der neuen vertauscht.

 

»Was ich übrigens vergessen habe, Sie zu fragen – wo haben Sie denn eigentlich die mörderische Waffe aufgetrieben, die Sie in der Hand hielten, als Sie die Treppe herabkamen?«

 

»In der Tasche des blinden Jake! Es war fürchterlich, ihn berühren zu müssen, aber ich wollte doch irgendeine Waffe haben.«

 

»Zweifellos haben Sie jetzt schon einen großen Teil des ganzen Falles aufgedeckt«, begann er. »Wir wissen jetzt, daß der blinde Jake und der Mann namens Lew –«

 

»Haben Sie ihn denn im Heim gelassen?«

 

Er lächelte etwas bitter.

 

»In dieser ganzen Sache habe ich schon zu viele Fehler begangen, um auch noch diesen hinzufügen zu können. Nein, ich habe ihn in ein anderes Haus bringen lassen, wo er verpflegt wird. Lew und Jake waren die beiden Menschen, die mit Stuart zu tun hatten, entweder vor oder nach seiner Ermordung«, fuhr er fort. »Die Bande hatte wahrscheinlich Lew in ihrer Gewalt, und er hatte entweder den Wunsch, sich aus ihren Händen zu befreien oder sich an ihnen wegen irgendeiner Verräterei zu rächen. Aus diesem Grunde schrieb er die Botschaft, die wir aufgefunden hatten, auf ein Stück braunes Papier und natürlich in Braille Schrift. Das bringt nun unsere Nachforschungen auf einen einzigen Mann zurück, denn es gibt selbstverständlich Mittel, um Lew verständlich zu machen, daß er nun sicher und in unseren Händen ist.«

 

»Und an der wichtigsten von allen unseren Entdeckungen sind Sie vorbeigegangen«, sagte sie langsam.

 

Larry stand lachend auf und lief – eine seiner Lieblingsgewohnheiten – im Zimmer auf und ab.

 

»Sie sind ein außergewöhnliches Mädel«, sagte er. »Kaum bilde ich mir ein, den Fall etwas aufgeklärt zu haben, als Sie schon wieder irgend etwas Neues vorbringen, etwas Neues und Wichtigeres in der Form von Spuren und Entdeckungen, und meistenteils«, fügte er nachdenklich hinzu, »etwas, das alle meine mühsam aufgebauten Theorien umwirft.«

 

»Das glaube ich aber jetzt nicht«, sagte sie. »Ich meine nur die Frau ›oben‹.«

 

»Was für eine Frau ›oben‹?« fragte er erstaunt.

 

»Erinnern Sie sich denn nicht, wie ich Ihnen erzählte, daß Jake mit dem Daumen nach der Zimmerdecke wies und sagte, wenn ich ein Gesicht hätte wie sie –« Sie hielt inne.

 

»Seien Sie nicht böse«, sagte er sanft. »Ich bin wirklich ein Scheusal, und noch dazu ein gedankenloses Scheusal. Aber es hat sich heute so viel ereignet, daß ich kaum noch an den Fall Stuart gedacht habe. Und das erinnert mich, daß ich telephonieren muß.«

 

Er verlangte eine Nummer, die sie als die des Trafalgar Hospitals kannte.

 

»Bitte, das Büro der Oberschwester«, sagte er und, während sie sich noch wunderte, was dies bedeuten sollte, »Sind Sie es, Direktrice? Ja, ich bin es, Larry Holt. Wie geht es Ihnen? – Sagen Sie, haben Ihre Außenschwestern viel zu tun? – Ich meine, ob einige von ihnen frei sind. – So, das trifft sich ja sehr gut. – Ich möchte Sie bitten, mir eine nette, mütterliche Schwester nach meiner Wohnung in Regent’s Gate Gardens zu schicken. – Sie wissen doch, wo ich wohne? – Ob ich krank bin? – Nein, ganz und gar nicht, aber es wohnt jemand bei mir, der nicht ganz auf dem Posten ist – jawohl, eine Dame.«

 

Er hängte den Hörer an und sah die erstaunten Blicke des jungen Mädchens.

 

»Haben Sie denn eine Dame bei sich wohnen?« fragte sie erstaunt.

 

»Nein, noch nicht, aber sehr bald«, war die Antwort. »Sie gehen nur noch nach Ihrer Wohnung in der Charing Croß Road, um sich alle Sachen zusammenzusuchen, die Sie nötig haben. Und dann kommen Sie nach meiner Wohnung, wo Sie bis auf weiteres unter der Obhut einer sehr netten Schwester bleiben werden.«

 

»Aber das kann ich nicht, das ist ganz ausgeschlossen«, sagte sie mit blutrotem Gesicht. »Ich könnte niemals –«

 

»Doch, Sie könnten sehr gut«, sagte er, »und Sie werden es jetzt genau so machen, wie ich Ihnen gesagt habe. Wenn nicht, bin ich gezwungen, mich jede Nacht vor Ihre Wohnungstür zu setzen, und hole mir natürlich den Tod bei der Kälte.«

 

Endlich stimmte sie zu. Dann gingen sie beide zusammen essen, und nachher führte er sie in das Macready-Theater, wo sie sich das Stück Dearborns ansahen. Am Ende des zweiten Aktes verließen sie völlig verblüfft das Theater.

 

»Wie ist es nur möglich, daß irgend jemand einen solch schrecklichen Unsinn auf die Bühne bringen kann?« fragte das junge Mädchen auf dem Wege nach seiner Wohnung.

 

»Es ist mehr als unbegreiflich«, sagte Larry.

 

Es war schon nach elf, als sie nach seiner Wohnung kamen. Die Fahrstühle waren nur bis halb elf im Dienst, und so mußten sie die Treppen hinaufgehen.

 

»Achten Sie auf die Stufen«, sagte Larry. »Die Treppenbeleuchtung ist unter aller Würde.«

 

Er ging voraus, und sie sah ihn plötzlich auf dem zweiten Treppenabsatz stehenbleiben.

 

»Allmächtiger! Wer ist denn das?«

 

Halb zusammengebrochen und regungslos lag ein Mann gegen seine Tür gelehnt. Larry beugte sich über ihn hinweg, klingelte, und gleich darauf öffnete Sunny die Tür.

 

In dem Lichtschein, der von der Diele herausfiel, sah Larry das Gesicht des Mannes. Sein Atem ging schwer und röchelnd; Gesicht und Kopf waren mit Blut bedeckt.

 

»Sunny, ist die Krankenschwester gekommen?«

 

»Jawohl, Sir«, sagte Sunny und blickte auf den Verwundeten.«

 

»Dann wird sie uns sehr nützlich sein.«

 

»Aber wer ist denn das?« fragte Diana und lugte an ihm vorbei.

 

»Flimmer Fred«, sagte Larry leise, »und näher dem Tode als irgendwer.«