24

 

Diana war nach dem anderen Ende des Saales geschlendert und prüfte die Leinwand der rauhen Laken zwischen ihren Fingern. Durch ihren früheren Beruf als Krankenschwester hatte sie noch ein besonderes Interesse an der Art und Weise, wie diesen armen, blinden Bettlern – denn es waren ja fast alle nur Bettler – ein wenig Bequemlichkeit verschafft wurde. Sie hatte gehört, wie der Vorsteher Larry bat, das Fenster zu öffnen, und blickte gedankenlos dorthin, als sich die Tür eines Schrankes hinter ihr geräuschlos öffnete und ein barfüßiger Mann leise heraustrat.

 

Das erste, was Diana zu Bewußtsein kam, war, daß ein feuchtes, weiches Leder sich über ihr Gesicht legte und daß sie emporgehoben wurde. Der Schreck raubte ihr einen Augenblick lang die Besinnung, und in diesem Augenblick wurde sie in den Schrank hinein- und durch die dahinterliegende Mauer hindurchgezogen. Beide Türen – denn die Rückseite des Schrankes war, wie Larry zuerst angenommen hatte, eine bewegliche Tür – öffneten sich nach außen. Larry konnte nicht wissen, daß diese zweite Geheimtür aus Steinen bestand und durch einfaches Beklopfen nicht als solche zu erkennen war.

 

Sie hörte das leichte Schnappen der Tür, als diese sich schloß, befreite ihr Gesicht von dem nassen Leder und schrie. Und wieder legte sich eine Hand, groß genug, um ihr ganzes Gesicht zu bedecken, auf ihren Mund, und sie wurde weiter durch die Dunkelheit gezerrt. Eine andere Tür öffnete sich – man stieß sie vorwärts – das elektrische Licht wurde eingeschaltet, und zum erstenmal erblickte sie ihren Entführer. Sprachlos vor Schreck wich sie in die äußerste Ecke zurück.

 

Er war außergewöhnlich groß, größer als irgend jemand, den sie je gesehen hatte. Er war mindestens zwei Meter hoch, wie sie annahm, und von entsprechender Breite. Seine Kleidung bestand aus Hemd und Hose. Füße und Arme waren nackt, und seine behaarten muskulösen Oberarme verrieten enorme Kraft. Sein rotes, rundes Gesicht war eigenartig nichtssagend.

 

Wasserblau waren die Augen, die bewegungslos blieben, wenn er sprach; eine graue Mähne fiel unordentlich nach hinten über seinen Kopf, der dicklippige, große Mund war mit einem struppigen Bart bedeckt, dessen Farbe eine schmutzige Mischung von Grau und Gelb war, die riesenhaften Ohren standen beinahe im rechten Winkel vom Kopf ab – entsetzt starrte sie ihn an, diese Schrecken erregende Kreatur, die kaum noch etwas Menschliches an sich hatte.

 

»Sieh mich mal gut an, Kleene, daß du mich ooch wiedererkennst«, meckerte er. (Kein anderes Wort konnte sein schrilles Lachen besser beschreiben.) »Wo is denn nu dein Schießeisen?« höhnte er. »Warum schießt du denn nicht auf den ollen, armen Jake – ich wette, er hat dir doch alles von mir erzählt?«

 

Sie wußte, er meinte Larry, gab aber keine Antwort. Ihre Augen durchsuchten den Raum nach irgendeiner Waffe, aber die getünchten Wände waren kahl, und nicht ein einziges Möbelstück befand sich in dem Zimmer. Das einzige Fenster war ein schmaler, langer Streifen aus dickem Glas in der Nähe der Decke, und an jeder Seite war ein Wandventilator angebracht. Sie durchsuchte ihre Handtasche, fand aber auch dort nichts. Sie hatte nicht einmal Hutnadeln, die ja auch diesem Scheusal gegenüber nutzlos gewesen wären.

 

»Du suchst wohl was, womit du mich umbringen kannst, was?« kicherte er wieder. »Ich höre doch, was du machst. Nu, setz dich jeduldig hin, kleenes Frauenzimmer! Für dich kommt noch ’ne feine Zeit, und keen Mensch will dir was tun.«

 

Zu ihrer Erleichterung machte er keine Anstalten, sich ihr zu nähern, aber schon seine nächsten Worte sagten ihr, daß die wirkliche Gefahr nur aufgeschoben war.

 

»Du sollst ja ganz hübsch sein«, gluckste er. »Und wer was für ’n hübsches Gesicht übrig hat, würde ’ne janze Masse für dich jeben. Es wundert mich eigentlich, daß – Sie dich nich für sich jenommen haben, aber weeste, Kleene, für Frauen und Heiraten und so was haben – Sie keenen Sinn, darum hat ooch der olle Jake dich jekricht.«

 

Er meckerte wieder, und bei diesem Ton lief es dem jungen Mädchen eiskalt über den Rücken. Er hatte die Angewohnheit, vor dem Wort »sie« anzuhalten und das Wort so zu betonen, als ob es in seinem Inneren mit großen Buchstaben geschrieben stände.

 

»Ich kann dich nich sehn, und so macht’s mir nischt aus, ob du hübsch bist, kleene Nutte. Und wenn du ooch ’n Gesichte hättest wie die da oben –« er wies mit dem Daumen nach der Decke – »det würde mir nischt ausmachen.«

 

»Sie werden niemals aus dem Haus herauskommen.« Sie hatte sich klargemacht, daß es besser war, sich unerschrocken zu zeigen. »Mr. Holt ist im Nebenhaus, und in der Zwischenzeit ist das ganze Grundstück schon umzingelt worden.«

 

Sein Kichern wurde lauter.

 

»Es gibt hier mehr als zehn Ausgänge«, sagte er verächtlich. »Aus diesem Grunde haben – Sie ’s ja gekooft. Da gibt’s ’ne Höhle unterm Keller, da kannste meilenlang loofen. Keen Mensch kann dich uffhalten, bloß Ratten gibt’s. Ratten haben Lauseangst vor Blinden.«

 

In all seinen ordinären Worten lag eine Art merkwürdiger, kindlicher Einfachheit, die schlecht zu seinem abschreckenden, riesenhaften Äußern paßte.

 

»Früher oder später wird man Sie doch fassen«, sagte sie ruhig und fügte dann, einer plötzlichen Eingebung Folge leistend, hinzu: »Lew ist schon festgenommen worden.«

 

Er war im Begriff, den Raum zu verlassen, aber bei diesen Worten fuhr er mit verzerrtem Gesicht herum.

 

»Lew!« brüllte er. »Er hat Lew geschnappt!«

 

Dann blieb er eine Zeitlang still, bis er in ein dröhnendes Gelächter ausbrach, das die Wände zu erschüttern schien.

 

»Lew wird ihnen ’ne Masse erzählen können! Wie kann er denn Lew was fragen, wenn Lew nich weeß, wo er is oder mit wem er spricht? Er kann ja nich lesen und nich schreiben. Sie würden ihn ja kalt gemacht haben für den gemeinen Streich den er ihnen jeschpielt hat. Er war ja doch das Luder, der das Stück Papier in die Tasche von dem Kerl gesteckt hat, den sie um die Ecke jebracht ham.«

 

»Das wissen wir sehr gut«, sagte sie furchtlos, und ihre Worte schienen auf Jake Eindruck zu machen.

 

»Das habt ihr doch rausgefunden?« sagte er. »Aber Lew hat nischt verklappt. Er würde schon längst kalt und steif sein, bloß – Sie wollten keene toten Kerls rumliegn haben. Ich und Lew haben ihn die Stufen runtergeschleppt bis ans Wasser«, sagte er und nickte mit seinem riesigen Kopf. »Ich kann dir das ruhig erzählen, denn ich kenne das Gesetz. Ich kenne es ganz genau. Old Jake kannst du nischt lehren.«

 

Sie wunderte sich, was er wohl mit seiner Prahlerei, das Gesetz zu kennen, meinte.

 

»’ne Frau kann nich gegen ihren Mann aussagen«, fuhr er boshaft lächelnd fort. »Darum kann ich dir ja ooch alles erzählen, kleenes Mädchen.«

 

»Eine Frau!« stammelte sie verstört. Die Vorstellung einer solchen entsetzlichen Möglichkeit ließ ihr Herz stillstehen.

 

»Mrs. Jake Bradford«, grunzte er. »Ja, Kleene, Bradford heeß ich, und Ehrwürden wird uns gut und richtig verheiraten.«

 

»Sie Narr!« brach sie in Wut und Angst los. »Denken Sie denn wirklich, daß irgend jemand mich mit einem Grausen wie Sie verheiraten könnte? Glauben Sie denn wirklich, ich würde still und ruhig an Ihrer Seite stehen und nicht in alle Welt hinausschreien, was ich von euch allen weiß? Sie müssen wahnsinnig sein.«

 

Er schob seinen unförmigen Kopf nach vorn, und mit jedem Wort wurde seine Stimme leiser und leiser, bis sie in einem heiseren Flüstern erstarb:

 

»Es gibt noch Schlimmre als ich im Haus, und vielleicht wirste nischt mehr gegen mich haben, kleene Frau, wenn de mich nich mehr sehn kannst. Vielleicht biste blind wie ich und doof wie Lew.« Er hielt inne, und sie schrak weiter zurück, hielt sich mit zitternden Händen an der Wand. »Und stumm dazu, wenn de uns verpfeifen willst!« brüllte er in plötzlicher Wut. »Es gibt nischt, was ich nich tue, wenn – Sie mir das sagen.«

 

Die Tür öffnete und schloß sich. Sie hörte, wie ein Schlüssel herumgedreht wurde, wie ein Riegel sich vorschob, und blickte auf. Er war gegangen. Halb ohnmächtig sank sie auf den Boden. Sie rief alle Energie zu Hilfe, senkte den Kopf ganz tief, bis sie allmählich das Blut zurückströmen fühlte, und kam mühsam wieder auf die Füße.

 

Mehr als zehn Minuten vergingen, in denen sie sich zwang, in dem Raum auf und ab zu laufen, bis sie sich etwas beruhigt hatte. Sie wußte, es war keine leere Drohung, die dieser Mensch ausgestoßen hatte. Er würde ohne Gnade sein, wenn sein unbekannter Führer dies befehlen würde. Wenn sie es wünschten, würde er erbarmungslos Jugend und ihre Schönheit zertreten, ohne Zögern und Gewissensbisse den letzten Lebenshauch ersticken. Unbarmherzig würde er verstümmeln, foltern. Sie mußte ihre Gedanken zusammenreißen, klar denken – schnell denken.

 

Sie untersuchte die Tür, wenn sie auch wußte, daß Flucht auf diesem Wege unmöglich war. Sie hatte keinen Stuhl, mit dessen Hilfe sie an das Fenster reichen konnte, und würde auch nicht durch dieses entfliehen können, ohne die Aufmerksamkeit ihrer Peiniger zu erwecken. Nichts war in dem kahlen Raum, nichts wie das elektrische Licht.

 

Sie dachte an Larrys Erzählung, wie dieser Mensch mit erhobenen Händen auf ihn zukam, wie er die Glühlampe in seinen riesenkräftigen Händen zerdrückt hatte. Er mußte unmenschlich stark sein! War denn keine Gefahr für ihn, von dem elektrischen Strom getroffen zu werden?

 

Bei diesem Gedanken blickte sie plötzlich in die Höhe. Die Beleuchtung war ohne jede Rücksicht auf ordentliche Ausführung angelegt worden. Ein langer Draht lief von einer Ecke des Zimmers, lose an der Decke befestigt, bis zur Mitte, wo er über einen Haken nach unten hing. An seinem Ende war ein kleiner Metallreflektor über der birnenförmigen Lampe befestigt. Sie ergriff diese und drehte sie herum.

 

»Zweihundert Volt«, las sie auf dem Hals der Lampe.

 

Sie schwang und schleuderte den Draht hin und her, bis es ihr nach einigen vergeblichen Versuchen gelang, ihn von dem Haken freizubekommen. Die Lampe hing nun tief bis beinahe zum Fußboden herunter. Dann zog sie vorsichtig und ruckweise an dem Draht, bis die dünnen Klammern, die diesen an der Decke festhielten, nachgaben und der ganze Draht frei wurde. Sie ging nach dem Schalter an der Tür und löschte das Licht aus. Jetzt setzte sie einen Fuß auf die Leitungsschnur dicht in der Nähe der Lampe und zerrte aus Leibeskräften, bis diese riß und die beiden Enden frei wurden.

 

Sie war im Dunkeln, aber mit ihren geschickten Fingern zupfte sie die seidene Isolation auseinander, kratzte mit den Nägeln die Gummiumhüllung ab, die die vielen haarfeinen Kupferdrähte einschloß. Bald hielt sie etwas in den Händen, das sich wie ein kleiner struppiger Pinsel anfühlte; sie war mit ihrem Werk zufrieden. Jetzt glaubte sie ein Geräusch im Gang zu hören, eilte nach der Tür und schaltete den Strom ein. In dem Halbdunkel suchte sie nach ihrer Handtasche, nahm ihre Lederhandschuhe heraus, zog sie an und tastete vorsichtig nach den herabhängenden Drahtenden. Sie nahm sie in die Hand und hielt den »Drahtpinsel« vor sich, ängstlich bemüht, nicht die beiden freien Polenden zu berühren. Mit dem Fuß stieß sie Reflektor und Lampe beiseite und wartete in der Mitte des Zimmers. Dann öffnete sich die Tür.

 

»Da bin ich wieder, Puppe.« Ihr Atem kam stoßweise, als sie hörte, wie sich die Tür von innen schloß. »Ich bin also nich hübsch jenuch für dich?« Er wußte nicht, daß das Licht aus war, denn er lebte in ständiger Dunkelheit.

 

Eine Zeitlang machte er keinen Versuch, sich ihr zu nähern. Die Umrisse seiner riesigen Gestalt waren kaum in dem schwachen Lichte, das durch das schmale Fenster drang, sichtbar.

 

»Tony hat danebengeschossen«, teilte er ihr mit. »Danebengeschossen!« knurrte er verächtlich. »Wenn ich bloß sehen könnte, hätte ich den Hund gekricht. Blind, wie ich bin, würde ich ihn mit dem kleenen Schießprügel hier treffen, wenn ich ihn bloß bewegen hörte. Aber wir wern den kleenen Holty noch fassen, Mächen. Nur keene Bange. Wir wern fassen und reißen ihm die Kaldaunen raus. Es wird ihm leid tun, daß er überhaupt geborn is.«

 

Seine Stimme wurde leiser, und er sagte einige Worte, die dem jungen Mädchen unverständlich blieben. Dann schien ihm der eigentliche Zweck seine« Kommens einzufallen.

 

»Komm zu deinem ollen Jake, Puppchen!« kicherte er und ging langsam mit ausgebreiteten Armen auf sie zu. »Komm zu deinem lieben, ollen Mann, Kleene!«

 

Er war flink wie eine Katze, und bevor sie sich noch Rechenschaft geben konnte, was geschah, hatte er sie schon an der Schulter gepackt und riß ihr die Bluse vom Leibe. Sie warf sich zurück. Seine andere Hand schoß vor und – berührte die ausgefransten Drahtenden. Mit einem Schrei, halb Kreischen, halb Gebrüll, sprang er zurück.

 

»Wat haste gemacht?« schrie er wild. »Wat haste gemacht, kleene Hexe? Haste mich gestochen wie det verdammte Schwein?«

 

Augenscheinlich befühlte er sich selbst, um nach einer Verletzung zu suchen, und dann sprang er wieder auf sie ein. Jetzt trafen die Polenden sein Gesicht, und wie ein Holzklotz stürzte er zu Boden.

 

Sie hörte, wie er sich bewegte.

 

»Wat is denn das? Wat is denn das bloß?« flüsterte er. »Ich kann nischt sehen! ’n ollen, blinden Mann so zu behandeln! Du verdammte –«

 

Seine Hand packte sie am Fußgelenk und riß sie zu Boden. Aber wieder berührte sein Gesicht die elektrischen Drähte mit 200 Volt Spannung. Er kreischte wie ein wildes Tier und rollte sich auf dem Boden. Er war jetzt wahnsinnig vor Wut und Angst – ein wimmernder Tollhäusler. Wieder und wieder fiel er sie an, wieder und wieder kam seine Hand, sein Gesicht, sein Hals mit dem Strom in Berührung. Plötzlich brach er zusammen, und das junge Mädchen hielt die grausamen Enden des todbringenden Drahtes an seine Kehle. Sie fühlte sich als Mörderin mit dem zuckenden Körper unter sich. Aber sie mußte ihn töten; sie wußte: nur sein Tod würde ihr Leben retten.

 

Endlich nahm sie den Draht von seinem Halse weg. Er lag regungslos, und mit zitternden Händen durchsuchte sie seine Taschen. Sie fand den Schlüssel und einen Revolver. Dann suchte und fand sie das Schlüsselloch. Die Tür öffnete sich, und sie befand sich in einem Gang, der nach rechts in ein helleres Zimmer mit zwei Fenstern führte. Aber immer noch war sie in Todesangst: jetzt hatte sie ihr bestes Verteidigungsmittel verloren.

 

Die Tür war leicht zu finden. Wie außerordentlich geschickt auch die Tür im Schlafsaal von Todds Heim verborgen war, hier lag sie sichtbar vor Augen. Sie zog an einem Handgriff, das ganze schwere steinerne Tor schwang zurück, und sie ging durch die Öffnung. Ein Mann stand in der Mitte des Schlafsaales und fuhr, Revolver in der Hand, bei dem Geräusch herum.

 

»Mein Gott! Miß Ward«, rief er. »Wo kommen Sie denn her?«