23

 

Larry lief in dem Schlafraum hin und her, krank vor Aufregung und Sorge, beängstigt, wie er es nie zuvor in seinem Leben gewesen war. Vom Keller bis zum Giebel war das ganze Haus durchsucht worden, in finstere staubige Ecken, die nicht einmal den Bewohnern des Hauses bekannt waren, hatte er hineingeblickt – aber alles Suchen, alles Fragen war umsonst.

 

Innerhalb einer halben Stunde war um das ganze Haus ein Kordon von Beamten in Zivil gelegt und Larry von seinem selbstgewählten Posten im Schlafsaal abgelöst worden, um anderwärts weitere Nachsuchungen vornehmen zu können.

 

»Es gibt keine Verbindung zwischen diesem und dem Nachbarhause?« fragte er den Geistlichen.

 

»Keine«, antwortete ohne Zögern John Dearborn. »Einige Jahre zurück wurde der Lärm von der Wäscherei so störend, daß ich die Besitzer des Hauses veranlassen mußte, eine neue Mauer, eine Art Abdichtung, aufführen zu lassen, um den Schall zu dämpfen. Jetzt wird dort nicht mehr gearbeitet. Die Gesellschaft machte Konkurs, und das Grundstück wurde von einer Firma in Lebensmitteln übernommen. Soweit ich weiß, beabsichtigen die jetzigen Besitzer, die Räume der Wäscherei als Speicher für ihre Waren zu benutzen.«

 

»Das ist das schmale Haus am anderen Ende des Hofes, das über den Torweg hinweg sichtbar ist?« erkundigte sich Larry.

 

Der Vorsteher gab eine zustimmende Antwort.

 

Larry ging mit einem der Sergeanten von Scotland Yard an die Tür des leeren Hauses und prüfte diese sorgfältig.

 

»Ich kann Ihnen die Versicherung geben, Sir, daß die Tür seit langer Zeit nicht geöffnet worden ist«, sagte dieser. Über das Gitter hinweg, das einen kleinen Vorplatz abschloß, konnten sie in einen unglaublich schmutzigen Raum blicken, in dem nicht ein einziges Möbelstück zu sehen war. Mit jeder Minute, die verging, wuchs Larrys Sorge mehr und mehr. Wenn er Diana verlieren müßte, wenn er sie verlieren sollte!

 

Er hatte jetzt keine Zeit mehr, über den Fall Stuart oder den Zusammenhang, der zwischen diesem und dem Verschwinden Dianas bestand, zu grübeln. All seine Angst, all seine Energie waren nur auf das eine gerichtet – die Entdeckung, die Befreiung von Diana Ward.

 

Larry kletterte über den Holzzaun und durchforschte den Hof der Wäscherei, und hier fand er die erste Spur, die ihn wieder auf die Fährte brachte. Radspuren, und noch ziemlich frisch. Die Spuren eines Motorwagens, möglicherweise von zweien. Er blickte in dem unordentlichen Hof herum und suchte nach einer Möglichkeit, wo die Wagen untergestellt sein könnten. Ein großes schwarzes Tor schien der Eingang zu einer Garage zu sein.

 

Sergeant Harvey war ihm gefolgt und versuchte, mit einem Dietrich das Schloß zu öffnen. Nach kurzer Mühe gelang ihm das, und die beiden Tore, die auf Rollen liefen, ließen sich leicht und geräuschlos, beinahe mit einem leichten Stoß, aufschieben.

 

»Die Tore sind erst kürzlich geölt und geschmiert worden«, stellte Larry fest.

 

In der Garage standen zwei Wagen. Eine Limousine mit langer Haube und ein kleines Lieferauto. Larry ging hinein und betrachtete im ungewissen Licht des fallenden Tages die beiden Automobile.

 

»Sehen Sie mal her!« rief er plötzlich und zeigte auf die Plane des Lieferwagens.

 

Sie war frisch lackiert worden, aber deutlich sah man unter der weißen Farbe den Schatten eines Wortes – schlecht und ungeschickt von Laienhand gemalt – »Wäscherei«.

 

»Erinnern Sie sich, Harvey, daß Miß Ward uns erzählte, sie hätte an dem Abend, wo man sie entführen wollte, einen Wäschelieferwagen vor ihrem Hause gesehen? Wenn sie den Wagen wiedererkennen würde –« Mit einem stechenden Schmerz im Herzen hielt er inne. Wenn sie doch nur wieder da wäre!

 

Die Limousine war erst kürzlich gereinigt worden, und Larry schrieb sich beide Nummern auf. Es konnte ja natürlich auch möglich sein, daß die beiden Wagen rechtmäßiges Eigentum der neuen Hausbesitzer waren und vollkommen harmlos für geschäftliche Zwecke benutzt wurden. Es konnte Zufall gewesen sein, daß ein solcher Lieferwagen in der Nacht, in der Jake den Versuch gemacht hatte, das junge Mädchen zu entführen, in der Charing Croß Road gesehen worden war.

 

Er schob die Garagentüren zu, die Harvey kunstgerecht mit seinem Dietrich verschloß.

 

»Telephonieren Sie die Nummern nach dem Präsidium«, sagte Larry, »und lassen Sie in der Verkehrskontrolle nachfragen, für wen sie ausgestellt sind.«

 

Harvey ging seiner Wege, und Larry blieb allein im Hof zurück. Von neuem untersuchte er die Räderspuren. Es hatte in der Nacht stark geregnet, und man konnte an der Deutlichkeit der Spuren erkennen, daß sie erst an diesem Morgen entstanden waren.

 

Er ging an dem eigentlichen Wäschereigebäude entlang – ein Neubau aus Ziegelsteinen mit Mattglasfernstern. Auch hier befand sich eine Schiebetür und auf den Stufen, die zu dieser führten, war eine Fußspur sichtbar. Er bückte sich plötzlich, um diese genauer zu betrachten.

 

»Ploff!«

 

Ein Ton wie das Knallen eines Champagnerpfropfens, nur ein wenig lauter und härter, erschreckte ihn. Ein Schlag oberhalb seines Kopfes – Holzsplitter fielen auf Larrys Hals, und mit einem Satz sprang er zur Seite. Die Türfüllung war durch eine Kugel zersplittert. Hätte er nicht so unvermutet seinen Kopf gesenkt, um den Fußabdruck zu prüfen – Sunny würde die Morgenzeitungen abbestellt haben. Das war merkwürdigerweise der erste Gedanke, der ihm durch den Kopf schoß.

 

Larry überflog blitzschnell seine Umgebung. Den Ton hatte er erkannt, kaum daß er ihn gehört hatte. Es war keine Detonation zu hören gewesen, aber man hatte auf ihn mit einem Gewehr oder einer Pistole geschossen, die mit einem Maxim-Schalldämpfer versehen war. Das »Ploff« hatte er schon öfter gehört. Seine scharfen Augen suchten an einem der Fenster des hinter ihm liegenden Gebäudes vergeblich nach einem Anzeichen von Pulverrauch. Jetzt bemerkte er zum erstenmal, daß man von dem Fenster des Schlafsaales, aus dem Diana verschwunden war, auf den Hof blicken konnte. Er sah das offene Fenster und erkannte mit seinem ausgeprägten Ortssinn den betreffenden Raum. Kein weiterer Schuß fiel, und er zog sich langsam über den Hof zurück, ohne die Rückseiten der beiden Gebäude aus den Augen zu verlieren und bereit, sich beim ersten Aufblitzen eines Schusses zu Boden zu werfen.

 

Harvey hatte bei seinem Weggehen eine kleine Durchgangstür in dem großen Tor geöffnet, und durch diese trat ein sehr nachdenklicher Larry auf die Straße. Er ging direkt in das Heim zurück, wo die blinden Straßenhändler, die dort Unterkunft hatten, langsam einzutreffen begannen. Sie kamen allein oder zu zweien, tappten sich ihren Weg mit den eisenbeschlagenen Stöcken entlang und suchten den gemeinsamen Wohnraum auf. Ein Beamter des zuständigen Polizeireviers stellte die Persönlichkeit eines jeden fest.

 

»Alles unbescholtene Leute, was?« fragte Larry. Keiner von ihnen auf der Verbrecherliste?«

 

»Nein, Sir«, sagte der Beamte. »Alle haben ein gutes Führungszeugnis, und wir haben niemals Beschwerde gegen irgendeinen von ihnen gehabt.«

 

Larry ging nach dem Schlafsaal hinauf, von dem seiner Ansicht nach der Schuß auf ihn abgefeuert war. Zu seiner Überraschung war die Tür verschlossen, und der Schutzmann stand jetzt außerhalb der Tür auf Posten.

 

»Was soll das bedeuten?« fragte er streng.

 

»Der Vorsteher hat mir sagen lassen, Sie wünschten mich zu sehen«, entschuldigte sich der Detektiv, »aber als ich nach unten kam, stellte sich heraus, daß er keine Botschaft geschickt hatte. Als ich wieder zurückkam, war die Tür verschlossen.«

 

»Von innen?«

 

»Scheint so, Sir. Es steckt kein Schlüssel im Schlüsselloch.«

 

»Wer hat Ihnen die Mitteilung gebracht?«

 

»Der kleine Kerl, der immer die Tür des Heims öffnet.«

 

»Ich weiß, wen Sie meinen«, nickte Larry, »und was hat er für eine Erklärung gegeben?«

 

»Er hat gesagt, jemand mit einer Stimme wie der Vorsteher hätte ihm aufgetragen, mit der Bestellung an mich nach oben zu gehen.«

 

»Machen Sie Platz«, sagte Larry und stieß mit einem kräftigen Fußtritt die Tür auf.

 

Das Zimmer war leer, aber Larry schnüffelte.

 

»Hier ist ein Schuß abgefeuert worden; jedenfalls, als Sie nach unten gingen«, sagte er. »Merken Sie sich, Sie verlassen das Zimmer nicht, wenn nicht Sergeant Harvey oder ich persönlich kommen, um Sie abzulösen und einen anderen Mann an Ihre Stelle zu bringen.«

 

»Zu Befehl, Sir«, sagte der Mann niedergeschlagen.

 

»Unter den vorliegenden Umständen mache ich Ihnen übrigens keinen Vorwurf«, fuhr Larry mit halbem Lächeln fort. »Wir haben es mit einer ganz außergewöhnlichen Bande zu tun, und sie wendet ganz außergewöhnliche Methoden an – man kann von Ihnen nicht erwarten, daß Sie jeden Zug des Gegners parieren und noch viel weniger voraussehen können, wie der nächste sein wird.«

 

Es bestand nicht der geringste Zweifel, daß in diesem Raum eine Schußwaffe abgefeuert worden war; er konnte ganz deutlich den Geruch des verbrannten Schießpulvers erkennen, und eine abgefeuerte Patronenhülse, die er unter einem Bett in der Nähe des Fensters fand, lieferte ihm den endgültigen Beweis. Larry ging nach unten in das Büro des Vorstehers, der unruhig auf ihn wartete.

 

»Beabsichtigen Sie Ihre Leute noch lange hier zu lassen, Mr. Holt?« fragte Ehrw. John Dearborn. »Verschiedene meiner Schutzbefohlenen möchten nach dem Schlafraum gehen; sie sind müde.«

 

»Meine Leute bleiben so lange hier, bis ich mich davon überzeugt habe, daß Miß Ward nicht mehr in dem Grundstück ist«, sagte Larry kurz, »und bis ich den Herrn gefunden habe, der in liebenswürdiger Weise von dem Schlafsaal, aus dem sie verschwunden ist, auf mich gefeuert hat.«

 

»Auf Sie gefeuert hat?« wiederholte der andere entsetzt. »Sie wollen doch nicht sagen …«

 

»Ich meine genau das, was ich gesagt habe«, fiel Larry ein. »Verzeihen Sie, wenn ich etwas schroff bin. Während Sie mit dem Detektiv sprachen, der durch eine List nach unten gelockt wurde, ist von dem Zimmer aus auf mich geschossen worden – und die Tür war von innen verschlossen.«

 

»Das ist ja kaum glaublich!« rief Ehrw. John kopfschüttelnd. »Ich kann mir kaum eine Situation vorstellen, die für mich und Sie noch angreifender und aufregender sein könnte.«

 

»Aufregend!« lachte Larry bitter. »Aufregung werden wir noch genug haben, nur etwas später, wenn ich erst hinter die ganze Geschichte gekommen bin.«

 

Und dann gewann sein bissiger Humor die Oberhand.

 

»Sie sollten das in einem Ihrer Stücke verwenden, Mr. Dearborn«, sagte er und glaubte, eine schwache Röte in dem fahlen Gesicht des Mannes erscheinen zu sehen.

 

»Das ist ein guter Gedanke«, sagte der Vorsteher nachdenklich, »und ich bin Ihnen wirklich dankbar dafür. Haben Sie schon einige meiner Stücke gesehen?«

 

»Nein, bis jetzt noch nicht, aber bei der ersten passenden Gelegenheit werde ich mal nach dem Macready-Theater gehen.«

 

Der Vorsteher fuhr kopfschüttelnd fort:

 

»Manchmal befürchte ich, daß meine Stücke doch nicht so gut sind, wie einige meiner Bekannten es annehmen, und es tut mir leid, daß Sie noch keines gesehen haben. Aber sie werden doch immer wieder angenommen und aufgeführt, und das bringt Geld für unser Heim.«

 

»Wer bestreitet eigentlich die Aufführungskosten?« fragte Larry neugierig.

 

»Ein Herr, der sich für meine Arbeit unter den Blinden interessiert«, war die Antwort. »Ich bin niemals mit ihm zusammengetroffen, aber niemals hat er sich gesträubt, ein Stück von mir auf die Bühne zu bringen. Manchmal habe ich das Gefühl, er tut dies nur, um dem Heim zu helfen.«

 

»Irgendeinen guten Grund muß er ja haben«, sagte Larry.

 

Die Unterhaltung schlief langsam ein. Ein Telephon schnarrte, und der Vorsteher nahm den Hörer auf.

 

»Ja, ich glaube es ist besser, Sie machen das so«, sagte er und hängte den Hörer ein. »Eine Haushaltsfrage von der Küche«, lächelte er. »Soweit unsere Mittel es gestatten, habe ich Telephonverbindungen im ganzen Hause anlegen lassen. Es erspart so viele Laufereien.«

 

In dem Augenblick erschien eine Abordnung aus dem gemeinsamen Wohnraum. Man beklagte sich. Die Insassen von Schlafsaal Nr. 1 wollten zu Bett gehen. Verschiedene waren gewöhnt, ihre zwölf Stunden zu schlafen, und alle, ob sie sich nun niederlegen wollten oder nicht, bestanden auf ihrem Recht, den Schlafraum aufsuchen zu können.

 

»Da sehen Sie es ja selbst«, sagte der Vorsteher. »Ich komme da in eine sehr unangenehme Lage.«

 

Larry nickte.

 

»Sie alle können Betten in dem nächstliegenden Hotel bekommen. Ich komme für die Kosten auf. Meinetwegen können sie auch in einem anderen Raum schlafen. Ich habe nichts dagegen, daß die Betten herausgeholt werden. Aber niemand hat sich in dem Zimmer aufzuhalten, bis Miß Ward wieder aufgefunden ist.«

 

Er schlenderte zum Zimmer hinaus und durch den Gang nach dem gemeinsamen Wohnraum. Diese armen Menschen hatten Anrecht auf eine Erklärung, und er gab ihnen diese, indem er den Fall genau und einfach auseinandersetzte. Alle, auch diejenigen, die sich am lautesten beschwert hatten, stimmten ihm bei.

 

Larry hatte seine kurze Ansprache beendigt und lehnte in tiefen Gedanken versunken an der Wand des Korridors, als er eine Treppe höher Lärmen und einen Schrei hörte. In wenigen Sätzen flog er die Treppe hinauf. Als erster erreichte er den Treppenabsatz, und was er sah, ließ sein Herz ungestüm schlagen.

 

Langsam, Stufe für Stufe, schritt Diana Ward auf ihn zu. Ihre Bluse hing in Fetzen und ließ eine schneeweiße Schulter sehen. In einer Hand hielt sie einen schweren Smith-Wesson-Revolver, und auf ihrem blassen Gesicht lag ein triumphierendes Lächeln.

 

Einen kurzen Augenblick starrte Larry sie an, dann sprang er ihr entgegen und riß sie in seine Arme.

 

»Mein Liebling!« sagte er mit gebrochener Stimme. »Mein Liebling! Gott sei Dank, daß Sie wieder da sind!«