21

 

Larry traute seinen Augen nicht. Er hielt die Quittung dem jungen Mädchen hin, aber sie hatte schon über seine Schulter hinweg die Unterschrift gelesen.

 

»Clarissa Stuart?« sagte er langsam. »Kennen Sie die Dame?«

 

»Habe niemals von ihr gehört«, antwortete der Doktor lebhaft, »aber das war die Person, die bevollmächtigt war, die Versicherungssumme in Empfang zu nehmen.«

 

»Wie sieht sie denn aus?« fragte Larry nach kurzer Pause.

 

Dr. Judd steckte sich an dem Ende seiner Zigarette eine frische an und warf den Rest in den Kamin, bevor er antwortete.

 

»Jung, hübsch, elegant angezogen«, sagte er kurz.

 

»Machte sie denn einen – niedergeschlagenen Eindruck?«

 

»Ganz und gar nicht«, entgegnete der Doktor. »Sie war im Gegenteil ganz vergnügt.«

 

Diana Ward und Larry Holt blickten einander mit ungeheucheltem Erstaunen an.

 

»Hat die junge Dame eine Adresse hinterlassen?«

 

»Nein, das war auch nicht nötig«, war Dr. Judds Antwort. »Ich sagte Ihnen ja schon, daß ich ihr einen offenen Scheck gegeben hatte. Das schien ihr nicht ganz recht zu sein, und sie sagte, sie wollte keinen Scheck haben. Ich habe dann jemand nach der Bank geschickt und das Geld einkassieren lassen und es dann an sie ausgezahlt.«

 

»Es war also bares Geld?«

 

»Die ganze Summe ist in bar ausgezahlt worden«, wiederholte der Doktor.

 

»Und Sie haben sie niemals vorher gesehen?« fragte Larry noch einmal.

 

»Niemals«, sagte der Doktor kopfschüttelnd. »Sie war zweifellos die Tochter Mr. Stuarts, wenigstens erzählte sie mir so, und ich hatte keinerlei Veranlassung, ihren Worten zu mißtrauen.«

 

Larry und Diana waren schon in der Straße, bevor er ein Wort an sie richtete.

 

»Es ist unglaublich!« – und zu dem Kutscher, der auf ihn wartete: »Nottingham Place 304.«

 

»Wohin fahren wir jetzt?« fragte Diana überrascht.

 

»Nach Stuarts früherer Wohnung«, erwiderte Larry. »Ich habe die Recherchen dort Sergeant Harvey anvertraut, der ja ganz besonders sorgfältig vorgeht, aber vielleicht hat er doch etwas übersehen. Wenn Stuart erst am Tage seines Todes herausgefunden hat, daß er noch eine andere Tochter hatte, muß er doch irgendeinen Besucher gehabt haben.«

 

»Glauben Sie, daß das junge Mädchen, Clarissa meine ich, bei ihm war?« fragte Diana schnell.

 

»Das ist vielleicht möglich, und das müssen wir versuchen herauszufinden.«

 

Nottingham Place 304 war ein großes, gut aussehendes Gebäude. Larry und seine Begleiterin wurden in einen eleganten Salon genötigt, und wenige Augenblicke später erschien eine kleine, alte Dame mit weißem Haar.

 

»Mrs. Portland, nicht wahr?« sagte Larry. »Mein Name ist Holt. Inspektor Holt von Scotland Yard.«

 

Ihr Gesicht drückte peinliche Bestürzung aus.

 

»Du liebe Güte, schon wieder! Ich hatte gehofft, die Polizei wäre nun endlich mit mir fertig. Mein Haus bekommt durch solche Besuche einen so schlechten Ruf, und ich habe schon Unannehmlichkeiten gehabt. – Der arme Herr hat Selbstmord begangen, nicht wahr? Warum er das nur getan hat?« sagte sie kopfschüttelnd. »Ich kann das nicht begreifen. In der ganzen Zeit, wo er hier wohnte, habe ich ihn nie so vergnügt gesehen wie an dem Abend, wo er ins Theater ging. Gewöhnlich war er immer so finster und niedergeschlagen, daß es mich bedrückte, wenn ich ihn sah.«

 

»Er war vergnügt, bevor er ins Theater ging? Ungewöhnlich vergnügt?« fragte Larry schnell.

 

Sie nickte.

 

»Hat er denn am Nachmittag irgendeinen Besuch gehabt?«

 

»Nein, Sir«, sagte die alte Dame zu Larrys Enttäuschung. »Es ist niemand bei ihm gewesen. Ich habe ja dem Detektiv, den Sie hierhergeschickt haben, erzählt, daß Mr. Stuart niemals Besuch hatte. Er war am Nachmittag aus gewesen und kam etwas früher zurück, wie wir ihn eigentlich erwarteten. Ich hatte eine Reinemachefrau hier, und sie räumte gerade sein Zimmer auf. Ich merkte das aber überhaupt erst, als ich an seinem Zimmer vorbeikam und ihn mit jemand sprechen hörte. Das war so ungewöhnlich bei ihm, daß ich es meinem Zimmermädchen gegenüber erwähnte.«

 

»Wer war denn der ›jemand‹?« fragte Larry.

 

»Die Reinemachefrau«, sagte sie. »Eine Frau, die ich ab und zu für Extraarbeit annehme. Das fiel mir ganz besonders auf, weil er sonst mit niemand sprach.«

 

»Wie lange war denn die Frau in seinem Zimmer?«

 

»Beinah eine Stunde«, war die überraschende Antwort.

 

»Eine Stunde? – Was hatte er denn eine ganze Stunde lang mit einer Aufwartefrau zu verhandeln?«

 

»Ich habe keine Ahnung«, sagte sie kopfschüttelnd. »Die Sache ist mir noch sehr gut im Gedächtnis, weil die Frau weggegangen ist, ohne sich ihren Lohn auszahlen zu lassen. Sie muß direkt fortgegangen sein, als sie aus Mr. Stuarts Zimmer kam – und sie hat sich nie wieder sehen lassen.«

 

Larry zog die Brauen zusammen.

 

»Das scheint mir wichtig zu sein«, sagte er. »Haben Sie mit Sergeant Harvey darüber gesprochen?«

 

»Nein, Sir«, antwortete sie überrascht. »Ich dachte nicht, es wäre nötig, eine so kleine Haushaltssache zu berichten. Er hat mich nur gefragt, ob Mr. Stuart Besuch gehabt hat, und ich habe ihm wahrheitsgemäß geantwortet, daß niemand dagewesen ist.«

 

»Wie hieß denn die Aufwärterin?«

 

»Das weiß ich auch nicht«, antwortete die Wirtin. »Wir haben sie immer Emma genannt. Ich habe mich gewundert, daß sie nicht zurückgekommen ist, denn sie hat ihren Trauring hier liegen lassen. Sie zog ihn immer ab, bevor sie anfing aufzuwischen. Für eine Frau ihres Standes war das ein ganz eigenartiger Ring, halb Gold, halb Platin und – halten Sie die junge Dame fest, Sir!« rief sie plötzlich.

 

Larry fuhr herum und fing das ohnmächtige Mädchen in seinen Armen auf.

 

Er legte sie auf das Sofa, und nach kurzer Zeit schlug Diana die Augen auf.

 

»Ich bin ein schrecklicher Idiot«, sagte sie und versuchte, sich aufzurichten, aber Larry legte seine Hand auf ihre Schulter.

 

»Sie müssen noch einen Augenblick ruhen – was hatten Sie denn?«

 

»Ich glaube, die Luft im Zimmer ist etwas drückend«, antwortete sie.

 

Das Zimmer war wirklich überwarm und schlecht gelüftet. Das war Larry auch aufgefallen, und die Wirtin entschuldigte sich, als sie das Fenster öffnete.

 

»Immer sage ich den Mädchen, sie sollen das Zimmer lüften«, beklagte sie sich, »und niemals tun sie’s. Es ist hier wirklich wie in einem Ofen. – Es tut mir sehr leid.«

 

»So was Dummes ist mir noch nie passiert«, sagte Diana, als sie sich langsam aufrichtete.

 

»Es ist besser, Sie fahren jetzt direkt nach Haus«, sagte Larry besorgt.

 

Sie war noch immer sehr blaß, und die Tasse Tee, die ihr die Wirtin brachte, war ihr äußerst willkommen.

 

»Ich denke nicht daran, nach Haus zu gehen«, entgegnete sie bestimmt. »Ich fahre mit Ihnen nach Todds Heim. Sie haben es mir versprochen, und sobald ich in die frische Luft komme, bin ich wieder ganz auf dem Posten. Wenn Sie mit mir durch den Regent Park fahren würden – er ist ja ganz in der Nähe – bin ich wieder so frisch wie vorher.«

 

Langsam fuhren sie um den Park herum, und die Farbe kehrte in ihre Wangen zurück.

 

»Ich bin aber nicht der Ansicht«, bemerkte Larry, »daß ein Besuch in Todds Heim die angenehmste Weise ist, den Nachmittag zu verbringen. Es riecht da nicht sehr gut, und was man zu sehen bekommt, ist wenig angenehm.«

 

»Das macht mir nichts aus«, sagte sie ruhig, »bitte, bitte, lassen Sie mich doch mitgehen.«

 

Er ergriff leise ihre Hand, und sie leistete keinen Widerstand.

 

»Sie können gehen, wohin Sie wollen, Diana, und tun, was Sie nur immer wollen«, sagte er leise.

 

Langsam hatte er sich nun auch von seinem Schrecken beruhigt, und es fiel ihm ein, daß er in der Aufregung vergessen hatte, sich den Trauring der Reinemachefrau zeigen zu lassen und noch weitere notwendige Fragen an die Wirtin zu richten.

 

Sie fuhren nach Piccadilly zurück, wo sie frühstückten, und dann nach dem Büro in Scotland Yard. Vom Restaurant aus hatte Larry an Harvey telephoniert, der daraufhin Mrs. Portland durch seinen Besuch in erneute Verzweiflung gestürzt hatte. Er wartete in Zimmer 47 auf sie.

 

»Ich habe Emmas Spur gefunden«, sagte er in so ernsthaftem Ton, daß Larry wußte, seine Ansicht über die Wichtigkeit der Unterhaltung, die Stuart mit der Frau gehabt hatte, war richtig gewesen. »Sie wohnt, oder vielmehr sie wohnte in Camden Town«, sagte Sergeant Harvey, »bei einem pensionierten Soldaten und seiner Frau.«

 

»Haben Sie sie gesehen?«

 

»Nein, Sir. Sie wohnt nicht mehr da. Seit der Nacht nach Stuarts Ermordung ist sie nicht mehr nach Hause gekommen.«

 

Larry verzog das Gesicht.

 

»Hier ist die Erklärung, der eigentliche Grund für den Mord zu finden«, sagte er. »Die Aufwärterin Emma wird uns sehr viele und wichtige Enthüllungen machen müssen! Hat sie ihre Sachen aus dem Zimmer mitgenommen?«

 

»Nein, Sir. Und das ist das Merkwürdige. Die Frau hat ihren Freunden gegenüber kein Wort erwähnt, daß sie fortgehen wollte, und hat auch nicht ein einziges Stück ihrer Garderobe mitgenommen.«

 

»Setzen Sie ihren Namen auf die Liste und benachrichtigen Sie sämtliche Polizeibüros. Nichts Neues vom blinden Jake?«

 

»Nein, Sir.«

 

»Auch nicht von Fred?«

 

»Nein, Sir.«

 

»Die Wachsamkeit der städtischen Polizei ist ja an und für sich schon sehr in Anspruch genommen – arme Teufel –«, sagte Larry lächelnd, »aber wir müssen ihr doch noch den Namen Clarissa Stuart empfehlen. Jung, hübsch, elegant angezogen, wohnt wahrscheinlich in einem erstklassigen Hotel. Recherchieren Sie überall, wo eine reiche, junge Frau sich aller Wahrscheinlichkeit nach aufhalten könnte, und erstatten Sie dann Bericht.«

 

Harvey grüßte und ging hinaus. Larry stand an seinem Schreibtisch und blickte eine Zeitlang mißmutig vor sich hin.

 

»Nun, Miß Ward«, begann er, »jetzt können Sie zu all den anderen Rätseln ein neues hinzufügen. Emma ist genau so plötzlich und unerwartet verschwunden wie Flimmer Fred oder Stuart, und der Mann, der es fertigbekommen hat, Emma von der Bildfläche verschwinden zu lassen, ist derselbe, der beinahe Mrs. Weldon ermordet hätte.«

 

»Der blinde Jake?« fragte Diana.

 

»Das ist unser Mann«, erwiderte er. »Eine schreckenerregende Figur in diesem Drama. Wenn ich an ihn denke, läuft es mir kalt über den Rücken.«

 

»Was für ein Eingeständnis für einen Detektiv!« neckte sie ihn. »Er ist doch schließlich auch nur ein Mensch.«

 

»Und noch dazu ein verwundeter«, sagte Larry lächelnd. »Flimmer Fred konnte schon seinerzeit sehr gut mit einem Messer umgehen, als ich ihm wegen einer Messerstecherei mit seinem Rivalen Leroux auf den Fersen war.«

 

»Glauben Sie, sie haben ihn gefangen?«

 

Er schüttelte den Kopf.

 

»Nein, Fred hält sich still. Er ist verschwunden, weil er fürchtet, sie fassen ihn doch noch.«

 

»Dann gehört er also nicht zu der Bande?«

 

»Fred?« Er lachte. »Fred – ausgeschlossen. Fred ist ein Wolf, der nicht mit dem Rudel läuft. Er jagt allein. Er plündert Gerechte und Ungerechte in gleicher Weise aus. Neben anderen Dingen ist er vor allem stolz darauf, daß er niemals Mitglied irgendeiner Bande gewesen ist, und ich möchte beinah behaupten, dies ist der Grund, daß er verhältnismäßig selten die Konsequenzen seiner Gaunerstreiche zu tragen hatte. Er ist in London«, brummte er vor sich hin, »und ich habe so eine Idee, als ob wir ihn sehr bald zu sehen bekommen.«

 

Er arbeitete über eine Stunde und schien Dianas Anwesenheit völlig vergessen zu haben, schien auch nicht die Blicke zu bemerken, die sie ihm von Zeit zu Zeit zuwarf und die ihn an den geplanten Besuch in Todd’s Heim erinnern sollten.

 

Bogen nach Bogen schrieb er voll. Er hatte die Gewohnheit, seine verschiedenen Fälle in erzählender Form zu Papier zu bringen und die einzelnen Ergebnisse in abgeschlossenen Absätzen niederzulegen. Endlich war er mit seiner Arbeit zu Ende und legte die Bogen in ein Schubfach. Dann stand er auf, streckte sich, ging an das Fenster und sah hinaus. Es war spät am Nachmittag.

 

Dann kratzte er in höchst unromantischer Weise seine Nase und blickte das junge Mädchen zweifelnd an.

 

»Wenn Sie wirklich noch nach Todds Heim wollen, werde ich Sie hinbringen. Die Stunde ist da, für die ich mir selbst das Vergnügen dieses Besuches versprochen habe«, sagte er feierlich.

 

Ein Wagen brachte sie an das Ende von Lissom Grove, und dann bogen sie in die Sackgasse Lissom Lane hinein. Zwei Beamte in Zivil erwarteten sie, und gemeinsam gingen sie die Straße hinunter, bis sie zu dem Heim kamen, das auf der anderen Seite der Straße ihnen gegenüberlag.

 

»Was ist denn da nebenan für ein Haus?« fragte Larry und blickte nach einem unansehnlichen Hause mit geschlossenen Fenstern hinüber.

 

»Das war früher mal eine Wäscherei«, sagte der eine Polizist. »Hinter dem Hause ist ein Hof und eine Art Scheune.«

 

»Wäscherei?« sagte das junge Mädchen nachdenklich. »Erinnern Sie sich, daß an dem Abend, wo man mich entführen wollte, ein Wäschelieferauto vor meiner Tür stand?«

 

»Alle Wetter, rief Larry, »das stimmt!«

 

»Diese Wäscherei konnte es aber nicht gewesen sein, Miß«, sagte der Beamte. »Sie liegt schon seit zwölf Monaten still. Die Firma machte bankerott, und irgendeiner hat das Geschäft gekauft, scheint aber noch nicht zu arbeiten.«

 

»Das Tor da führt direkt auf den Hof, wie ich annehme.«

 

»Ja, Sir. Ich habe aber noch keinen Lieferwagen herauskommen sehen, und ich weiß nicht einmal, ob sie überhaupt einen haben«, sagte der Detektiv. »Heutzutage gibt es so viele Motorwagen, daß man sie unmöglich alle kennen kann.«

 

Larry ging die Stufen hinauf und klopfte. Derselbe kleine, alte Mann öffnete die Tür.

 

»Vier Menschen!!« kreischte er. »Und lauter Fremde! Was wollen Sie denn?«

 

»Ich möchte Mr. Dearborn sprechen«, antwortete Larry.

 

»Ach ja, Sir, Sie sind ja der Herr, der am Sonntag früh um sechs Uhr hier war«, sagte der kleine Mann und trippelte voraus durch den langen Gang. »Kommen Sie man alle mit!« brüllte er. »Vier Mann zu Besuch, Sir!«

 

Ehrw. John Dearborn kam ihnen aus seinem Büro entgegen und nötigte sie in das Zimmer.

 

»Mr. Holt? – Ich glaubte doch Ihre Stimme zu erkennen«, sagte er. Sein Diktaphon war in Gang, und ein dickes Manuskript in Maschinenschrift lag auf dem Tisch. Er strich liebkosend mit der Hand darüber hinweg, als er sich auf seinen Stuhl setzte.

 

»Jeden Abend kommt ein Herr, der mir dies vorliest«, sagte er wie in Antwort auf Larrys Gedanken. »Und was ist nun die Veranlassung zu Ihrem heutigen Abendbesuche? – Haben Sie Ihren blinden Jake gefunden?«

 

»Getroffen habe ich ihn, aber leider nicht gefunden«, sagte Larry grimmig. »Ich möchte nur noch einmal das Haus sehen. Ich habe eine Dame bei mir.«

 

»Sehr angenehm«, sagte Ehrw. John Dearborn und erhob sich.

 

Unwillkürlich streckte das junge Mädchen die Hand aus, die der Mann ergriff.

 

»Es wird mir ein großes Vergnügen sein, Sie herumzuführen. – Sie haben noch einige Bekannte bei sich?«

 

Larry stellte vor, und John Dearborn führte die kleine Gesellschaft die Treppe hinauf.

 

»Wir wollen diesmal von oben beginnen«, sagte er scherzend. »Unser Freund Lew liegt immer noch in seiner Zelle.«

 

»Ist es nicht etwas unsicher für Sie, einen Mann im Hause zu haben, der nicht ganz bei Verstand ist?«

 

»Er ist sehr schwach«, entgegnete John Dearborn, »und ich bringe es nicht über mein Herz, ihn in ein Hospital zu schicken. Früher oder später, befürchte ich, werde ich es ja doch tun müssen.«

 

Larry stand auf dem Treppenabsatz neben dem jungen Mädchen und fragte sie leise:

 

»Wollen Sie vielleicht den alten Mann sehen? Er ist gerade nicht sehr –« Er beendigte den Satz nicht.

 

»Ja, ich möchte ihn sehr gern einen Augenblick sehen. Vergessen Sie doch nicht, daß ich Pflegerin in einer Blindenanstalt gewesen bin.«

 

Dearborn führte sie nach dem kleinen Raum. Kein Licht brannte, obwohl auf jedem Treppenabsatz Lampen waren. Blinde brauchen ja kein Licht, dachte Larry.

 

Der alte Mann in der Zelle lag ruhig mit gefalteten Händen auf seinem Bett. Er schwatzte nicht mehr und war viel ruhiger wie an dem Tage, wo Larry ihn zuerst gesehen hatte.

 

»Wie geht es Ihnen denn heute?« fragte Larry.

 

Der Mann gab keine Antwort. Das junge Mädchen legte ihm ihre Hand auf die Schulter, und der Mann fuhr herum.

 

»Geht es Ihnen besser?« fragte sie.

 

»Wer ist da? Bist du’s, Jim? Bringst du mein Essen?«

 

»Geht es Ihnen besser?« fragte Diana noch einmal.

 

»Bring mir auch ’n Topf Tee, willste?« sagte Lew und legte sich wieder auf den Rücken. Derselbe Ausdruck ergebener Entsagung, den sie schon bei ihrem Eintreten bemerkt hatten, erschien in seinem Gesicht.

 

Das junge Mädchen beugte sich nieder und sah den alten Mann genau an. Er schien ihre Gegenwart zu fühlen, streckte eine Hand aus und berührte ihr Gesicht.

 

»Das ist doch eine Dame?« sagte er.

 

Und dann trat John Dearborn dazwischen und nahm die Hand des Alten zwischen seine beiden Hände.

 

»Geht es Ihnen besser, Lew?« fragte er. Der Mann zwinkerte.

 

»Is schon richtig, Sir. Es geht mir fein. Danke schön.« Diana verließ die Zelle, und blickte gedankenvoll vor sich hin, als Larry zu ihr trat.

 

»Was gibt’s denn?« fragte er leise.

 

»Der Mann ist tot« flüsterte sie.

 

»Tot?« wiederholte er verblüfft. »Unsinn. Der Mann ist nicht tot.«

 

Sie nickte nachdrücklich mit dem Kopf.

 

»Ich verstehe Sie nicht, Diana«, sagte Larry.

 

»Tot«, wiederholte sie so leidenschaftlich, daß er sie sprachlos anstarrte. »Genau so tot, als ob er kalt und leblos auf jenem Bette liegen würde. Oh, es ist grausam, bestialisch grausam.«

 

John Dearborn und die beiden Detektive waren noch in dem Raum und sprachen über den Kranken.

 

»Aber was meinen Sie denn, Diana?« fragte Larry.

 

»Haben Sie es denn nicht bemerkt? – Ich habe es früher schon einmal zu sehen bekommen«, sagte sie mit leiser, schwankender Stimme. »Haben Sie denn nicht die kleinen schwarzen Punkte an den Ohren des Mannes gesehen? Das sind die Pulvermale. Der Mann ist taub gemacht worden.«

 

»Taub?« wiederholte er, ohne noch die ganze Bedeutung dieser Entdeckung fassen zu können.

 

»Sie haben mir verschiedenes von dem erzählt, was der Mann am Sonntag gesagt hat, als Sie ihn sahen.« Sie sprach hastig und in Flüsterton. »Und jetzt verstehe ich, was vorgegangen ist. Ein Schuß ist ganz dicht bei seinen Ohren abgefeuert worden, und nun ist er tot.«

 

»Aber ich verstehe immer noch nicht.«

 

»Haben Sie es sich klar gemacht«, sagte sie jetzt sehr langsam, »was es bedeutet, blind und taub zu sein?«

 

»Allmächtiger Gott!« stöhnte er.

 

»Und das ist es, was dem Mann widerfahren ist, den sie Lew nennen. Jemand, der aus persönlichen Gründen sein Leben schonen will, hat es dem Bedauernswerten unmöglich gemacht, Zeugnis gegen ihn abzulegen.«

 

»Was meinen Sie damit?«

 

»Was ich meine? – Das ist der Mann, der die Brailleschrift geschrieben hat, die in Stuarts Tasche gefunden wurde.«