20

 

»Diana Ward«, sagte Larry, »ich bin ein schwergeprüfter Mann.«

 

Das junge Mädchen unterbrach ihre Arbeit und ließ ihre Finger auf den Tasten der Schreibmaschine ruhen. Dann drehte sie sich auf ihrem Stuhl herum.

 

»Unser Fall fängt an, ein wenig klarer für mich zu werden«, entgegnete sie ruhig.

 

»Ich wünschte bei Gott, er würde auch für mich allmählich etwas klarer«, brummte Larry. »Wir können am besten sehen, wie die Sache liegt, wenn wir uns die Ereignisse in ihrer Folge ins Gedächtnis zurückrufen.« Er lehnte sich in seinen Stuhl zurück, und begann an den Fingern abzuzählen. »Wir haben da zuerst einen reichen Kanadier, der augenscheinlich in der Absicht nach London kommt, die Gräber von Frau und Kind, die er vor Jahrzehnten verlassen hatte, aufzusuchen. Nach oder während eines Besuches im Macready-Theater wird er ermordet. Der Autor des Stückes ist John Dearborn, der, wie allgemein bekannt ist, den größten Blödsinn schreibt, der jemals auf einer Bühne gesehen worden ist. Aber aus dem Grunde ist er noch lange kein Mörder. Außerdem ist er ein angesehener Geistlicher, der sein Leben, seine Arbeit den Blinden geweiht hat. Der ermordete Stuart hinterläßt ein Testament, geschrieben auf der Innenseite seines Oberhemdes, in welchem er sein gesamtes Vermögen einer Tochter vermacht, die nach unseren bisherigen Informationen überhaupt nicht existiert. Verschiedene Anhaltspunkte werden gefunden: ein Stück Papier mit Worten in Brailleschrift und in der Hand des Toten die Hälfte eines Manschettenknopfes aus schwarzer Emaille mit Brillanten. Die Brailleschrift wird aus dem Präsidium gestohlen. Ein Paar gleiche Manschettenknöpfe kommen in den Besitz Flimmer Freds, der sie seiner eigenen Sicherheit halber versetzt. Diese Knöpfe scheinen aber für eine oder mehrere unbekannte Personen derartig wichtig zu sein, daß ein Einbruch in dem Leihhaus, wo die Knöpfe versetzt sind, ausgeführt wird, augenscheinlich nur zu dem Zweck, diese wieder in die Hände zu bekommen. Noch mehr. Ein Helfershelfer dieser Personen versucht zuerst Sie, Miß Ward, zu entführen und dann Fanny Weldon, die in unser Büro im Präsidium eingebrochen war, zu ermorden. Die Beweggründe hierfür sind mir verständlich, ebenso der Versuch, Flimmer Fred aus dem Wege zu räumen. Wofür ich aber wirklich gar keine Erklärung finden kann, ist der Versuch, der gegen Sie unternommen wurde.«

 

»Das ist mir auch rätselhaft«, nickte Diana.

 

»Zweitens«, zählte Larry weiter, »haben wir herausgefunden, daß Stuart in der Greenwich-Versicherungsgesellschaft außerordentlich hoch versichert war. Leiter der Gesellschaft ist Dr. Judd, der übrigens kein Hehl daraus macht, daß die Versicherung abgeschlossen wurde.«

 

»Haben Sie Dr. Judd gesehen?« fragte sie überrascht.

 

»Ich habe telephonisch mit ihm gesprochen und werde ihn nachher aufsuchen. Vielleicht begleiten Sie mich – wir können ja unseren Besuch in Todds Heim bis zum Nachmittag aufschieben.«

 

Er sah ihre Augen bei diesem Vorschlag aufleuchten und fragte neckend:

 

»Die Jagd scheint Ihnen Vergnügen zu machen?«

 

»Es ist faszinierend für mich, und ich möchte am liebsten bei allem dabei sein. Gestern hatte ich so das Gefühl, als ob Sie das nicht von mir annahmen.«

 

Larry errötete schuldbewußt.

 

»Nur für einen kurzen Augenblick«, gab er zu, »und das war sehr unrecht von mir. Aber schließlich: Warum sollten Sie auch alle Stunden, die der Himmel Ihnen beschert, mit Arbeit ausfüllen?«

 

»Weil ich möchte, daß die Mörder Stuarts der gerechten Strafe nicht entgehen«, antwortete sie mit fester Stimme.

 

Dr. Judd erwartete nur einen Besucher und war offensichtlich überrascht, als Larry mit seiner Begleiterin in das große Direktionsgebäude in Bloomsbury Pavement hineinkam.

 

»Dr. Judd – meine Sekretärin, Miß Ward«, stellte der Inspektor vor. »Miß Ward hat ein ausgezeichnetes Gedächtnis, und vielleicht habe ich einige stenographische Notizen unserer Unterredung nötig.

 

»Das ist mir sogar sehr angenehm«, sagte Dr. Judd, schien sich aber doch in der Gegenwart des jungen Mädchens nicht ganz behaglich zu fühlen.

 

»Es freut mich, daß Sie gekommen sind«, begann Dr. Judd langsam. »Ich wollte gern noch einmal mit Ihnen über den Mann sprechen, den Sie bei mir fanden, als wir uns zum erstenmal trafen. Ich muß befürchten, Sie haben einen absolut falschen Eindruck gewonnen, und ich kann Ihnen das nicht einmal verdenken, denn der Mann ist ein berüchtigter Gauner. Haben Sie ihn kürzlich wiedergesehen?«

 

»In den letzten Wochen habe ich ihn nicht zu sehen bekommen und auch nichts von ihm gehört«, sagte Larry wenig wahrheitsgemäß, und das junge Mädchen mußte ihre ganze Selbstbeherrschung zusammennehmen, um ihre Überraschung nicht sehen zu lassen.

 

»Nun«, sagte der Doktor, »darüber können wir mal bei einer späteren Gelegenheit sprechen. Stört es Sie, wenn ich rauche, Miß Ward?« Sie schüttelte lächelnd den Kopf.

 

Er steckte eine Zigarette an, nahm eine Mappe aus seinem Schreibtisch und öffnete diese.

 

»Hier sind die Policen. Sie werden bemerken, daß die Summen an eine Person zu zahlen sind, deren Namen später genannt wird. Ich erhielt die diesbezügliche Anweisung an dem Tage, wo Stuart starb, und ich werde sie Ihnen sofort zeigen. Sie wurde mir erst gestern morgen vorgelegt, als einer meiner Angestellten mich daran erinnerte, daß wir die Policen ausgestellt hatten. Zu gleicher Zeit erhielten wir die Aufforderung, die Versicherungssumme auszuzahlen, und mit dieser Aufforderung den Totenschein Stuarts, respektive die beglaubigte Kopie desselben.«

 

»Die man für fünf Schilling erhalten kann«, unterbrach Larry, und Dr. Judd nickte zustimmend.

 

»Es war aber vollständig genügend«, fuhr Dr. Judd fort. »Auf jeden Fall hatten wir aber keinen Grund, dem Erben, als dieser vorsprach, das Geld vorzuenthalten und – die Zahlung wurde geleistet.«

 

»Wie ist gezahlt worden? Bar oder Scheck?«

 

»Auf den eigenen Wunsch der betreffenden Dame durch offenen Scheck.«

 

»Der Dame?« fragten Larry und Diana in höchster Überraschung zusammen.

 

Dr. Judd sah Diana lächelnd an und rieb vergnügt seine Hände.

 

»Eine so interessierte Sekretärin gefällt mir ausnehmend.«

 

»Aber wer war denn die Dame?« fragte Larry.

 

Der Doktor nahm zwei schmale Bogen aus seiner Mappe und legte den einen vor den Detektiv.

 

»Hier ist die Empfangsbestätigung«, sagte er. »Wie Sie sehen, lautet sie über einhunderttausend Pfund.«

 

Larry nahm die Quittung und las sie durch. Die Unterschrift war: Clarissa Stuart.