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Einen Augenblick standen beide Männer regungslos, dann streckte Jake langsam seine Hände in die Höhe.

 

»Sie haben wohl ein kleines Schießeisen?« grollte er. »Mr. Holt, Sie werden sich doch nicht an einem armen, alten Mann vergreifen?«

 

»Kommen Sie langsam vorwärts«, sagte Larry, »und machen Sie keine Dummheiten, oder es wird Ihnen leid tun.«

 

»Es tut mir jetzt schon leid genug«, brummte der Mann.

 

Es war wunderbar, ihn zu beobachten. Er bewegte sich so leicht wie ein junges Mädchen, und sein außerordentlich entwickelter sechster Sinn ermöglichte es ihm, jedes Hindernis in seinem Wege zu vermeiden.

 

Larry war in einer schwierigen Lage. Der Mann kam langsam auf ihn zu und brachte so die halb ohnmächtige Frau auf dem Bett in seine Schußrichtung. Er war fest entschlossen, zu schießen, falls der Mann Widerstand leisten sollte, aber jetzt war ihm dies unmöglich, auch nicht um sein eigenes Leben zu retten, ohne Fanny Weldon zu gefährden.

 

Der große, starke Mann kam langsam mit hochgehaltenen Händen vorwärts. Die eine kam in Berührung mit der elektrischen Hängelampe. Und plötzlich, bevor Larry sich Rechenschaft geben konnte, was vorging, schloß sich die eine Hand um die elektrische Birne, die unter dem Druck mit betäubendem Krachen zersprang, und das Zimmer lag in Dunkelheit. Jetzt zu schießen wäre Wahnsinn gewesen, und Larry spannte all seine Muskeln zusammen, um den Anprall des Körpers, der sich jetzt auf ihn stürzen würde, aufzufangen. Und dann war er in den Griffen des blinden Jake. Diana hatte nicht übertrieben, als sie von seiner riesigen Kraft sprach. Sie war erschreckend, unmenschlich, und Larry, doch selbst ein kräftiger Mann, fühlte seine Kräfte schwinden. Was das Resultat dieses Kampfes gewesen wäre, wagte Larry sich auch später kaum auszudenken. Hier aber kam eine Unterbrechung: der Klang einer sich öffnenden Tür auf dem oberen Treppenabsatz und die Stimme eines Mannes. Der blinde Jake hob den Detektiv in die Höhe wie ein Bündel Lumpen und schleuderte ihn in die Ecke des Zimmers, wo er keuchend und halb betäubt liegenblieb.

 

Einen Augenblick später wurde die Tür aufgerissen und Jake flog die Treppe in Windeseile hinunter, schneller als ein Mann im vollen Besitz seines Augenlichtes es je gewagt hätte.

 

Larry kam mühsam auf die Füße, nahm seine Taschenlampe auf und fand den Revolver, der ihm bei dem ungleichen Kampf entfallen war. Er stürzte zum Fenster und blickte hinaus. Aber Jake der Blinde war bereits um die Straßenecke verschwunden.

 

Jetzt brachte jemand eine andere Glühlampe, und Larry bemühte sich um die junge Frau. Sie war immer noch bewußtlos, und blutrote Flecken an ihrem Halse sprachen von der unerhörten Kraft des Blinden.

 

»Es ist besser, Sie holen einen Arzt«, sagte Larry zu der Wirtin, die ihn mit Mißtrauen betrachtete.

 

»Was hatten Sie hier in dem Zimmer zu suchen?« fragte sie. »Ich werde einen Schutzmann holen lassen.«

 

»Lassen Sie meinetwegen zwei holen«, war Larrys Antwort, »und vor allen Dingen einen Arzt.«

 

Glücklicherweise befand sich das Polizeibüro ganz in der Nähe. Der Polizeiarzt war wenige Minuten später zur Stelle.

 

»Wäre es nicht besser, Doktor, wenn wir sie in ein Hospital bringen ließen?« schlug Larry vor, und der Arzt pflichtete bei.

 

Mit dem Ausdruck höchster Verwunderung untersuchte er von neuem die Strangulationsmarken.

 

»Ein Mensch hat das nicht mit den Händen machen können«, sagte er, »er muß irgendeine Art Instrument gebraucht haben.«

 

Larry lachte – es war ein sehr wehleidiges Lachen.

 

»Wenn Sie das annehmen, Doktor, sehen Sie sich bitte auch mal meinen Hals an«, und er zeigte ihm die roten Striemen, die Jakes Daumen und Finger hinterlassen hatten.

 

»Wollen Sie mir vielleicht sagen, daß er Ihnen das zugefügt hat?« fragte der Doktor ungläubig.

 

»Ich möchte am liebsten so wenig wie möglich sagen«, entgegnete Larry. »Die ganze Geschichte ist kein Abenteuer, auf das ich hervorragend stolz bin. Er hat mich aufgehoben wie einen Tennisball und in die Porzellanausstellung am Fenster geworfen.«

 

Der Arzt stieß einen überraschten Pfiff aus. Mittlerweile hatte sich die Wirtin über Larrys bona fides beruhigt und floß gleichzeitig mit Entschuldigungen und Tränen über.

 

Larry ging auf die Straße hinunter, um frische Luft zu schöpfen. Er fühlte sich schwindlig und wie zerschlagen.

 

Eine halbe Stunde später war jedes Polizeibüro Londons in Besitz der Personalbeschreibung, und die allgemeine Jagd nach dem blinden Jake begann.

 

Um drei Uhr morgens betrat Larry seine Wohnung und fand Sunny friedlich schlafend in einem Stuhl. Er weckte seinen Diener mit einem leisen Klopfen auf die Schulter.

 

»Sunny«, sagte er, »was ich heute durchgemacht habe, genügt mir für mein ganzes Leben.«

 

»Das scheint mir auch so, Sir«, blinzelte Sunny. »Wünschen Sie etwas Kaffee?«

 

Larry war tief in Gedanken versunken.

 

»Er packte mich beim Genick, Sunny«, sagte er leise, »und warf mich quer durchs Zimmer.«

 

»Wirklich, Sir?« fragte Sunny. »Wann wünschen Sie morgen früh Ihren Tee?«

 

Müde und zerschlagen, wie Larry war – er konnte sich des Lachens nicht erwehren.

 

»Wenn man mich nun eines Tages mit gebrochenem Halse nach Hause bringen würde«, sagte er gereizt, »was würden Sie da eigentlich machen?«

 

»Ich würde sofort die Morgenzeitungen abbestellen«, sagte Sunny ohne jedes Zaudern. »Das wäre doch wohl das Nächstliegendste, Sir.«

 

Larry zuckte in ohnmächtiger Verzweiflung die Schultern, fuhr aus den Schuhen, zog Jacke und Weste aus, legte Krawatte und Kragen ab, warf sich auf das Bett und zog mit einem Ruck die Bettdecke über sich.