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Coram Street 280 war ein Mietshaus, in dem Mrs. Fanny Weldon zwei Räume bewohnte. Sie lebte gut, bezahlte gut, verursachte wenig oder gar keine Umstände und hielt ihren Namen frei von jeder üblen Nachrede. Ihre Wirtin würde alles mögliche tun, um ihr gefällig zu sein, vorausgesetzt natürlich, daß der gute Ruf von Nr. 280 nicht zu leiden hätte.

 

Dieser weibliche Hochstapler hatte eine vielbeschäftigte Nacht hinter sich, aber trotzdem war es ihr nicht möglich, den ganzen Tag hindurch zu schlafen.

 

»Sie sind heute nacht spät nach Haus gekommen, Mrs. Weldo«, sagte die Wirtin, als sie ihr eigenhändig den Tee brachte.

 

Fanny nickte. »Um genau zu sein, bin ich heut nacht überhaupt nicht ins Bett gekommen«, sagte sie. »Ich war tanzen. Wie spät ist es denn?«

 

»Sechs Uhr. Ich dachte, Sie schliefen noch, und da Sie nicht klingelten, wollte ich Sie nicht stören.«

 

»Heute abend gehe ich aber früh zu Bett«, gähnte Fanny. »Was gibt’s Neues?«

 

»Nicht viel, liebes Kind«, sagte die Vermieterin mit berufsmäßiger Mütterlichkeit. »Im Zimmer gegenüber«, sie wies mit dem Daumen nach der Tür, »wohnt jetzt ein junger Mann. Ein Herr aus Manchester, sehr ruhig. Mrs. Hooper hat sich mal wieder über das Essen beklagt.« Und sie begann den täglichen Pensionsklatsch zu erzählen.

 

»Schicken Sie mir irgendwas Kaltes nach oben«, sagte Fanny. »Ich will zeitig zu Bett gehen. Morgen habe ich eine sehr wichtige Verabredung.«

 

Sie dachte an die Verabredung mit Larry Holt, der sie mit sehr gemischten Gefühlen entgegensah.

 

Um halb acht zog sich Fanny aus und legte sich hin. Sie war todmüde und schlief beinahe im gleichen Augenblick, als ihr Kopf das Kissen berührte. Aber sie war übermüdet und träumte. Schreckliche Träume von drohenden Ungeheuern, von Männern, die sie mit langen, blitzenden Messern verfolgten – und sie warf sich ruhelos im Bett hin und her. Dann träumte sie, sie hätte einen Mord begangen, und der Tag der Hinrichtung war gekommen. Man schleppte sie aus ihrer Zelle, und langsam schritt sie an der Seite eines Priesters in einen kahlen Raum hinein. Und dann erschien der Henker, und er hatte das höhnische Gesicht Jakes des Blinden. Sie fühlte den Strick um ihren Hals und versuchte zu schreien, aber er zog sich enger und enger, würgte sie, erstickte sie. Sie wachte jäh auf.

 

Zwei Hände lagen um ihren Hals, und in dem ungewissen Lichtschein einer Straßenlaterne blickte sie entsetzt in die ausdruckslosen Augen des blinden Jake. Es war kein Traum – es war Wirklichkeit! Eins seiner Knie preßte sich auf ihren Leib, und er sprach leise in zischendem Flüstern, das nur für ihr Ohr bestimmt war:

 

»Fanny, du hast mich verraten! Du hast mich hinter eiserne Gardinen bringen wollen. Den armen blinden Jake! Ich weiß alles. Ein guter Freund bei Todd hat mir alles erzählt. Und jetzt bist du geliefert, Kleine!«

 

Sie kämpfte vergebens nach Atem, sie konnte keinen Schrei, kein Wort hervorbringen, sie fühlte, wie ihr Blut in den Schläfen hämmerte, wie die grausamen Hände sich immer mehr und mehr zusammenzogen. Plötzlich flammte das Licht auf. ›Der junge Mann aus Manchester‹, der das Zimmer gegenüber gemietet hatte, der geduldig die ganze Nacht hindurch auf die leisen Schritte Jakes des Blinden gewartet, weil er wußte, daß er kommen würde, um sich an der Verräterin zu rächen, ›der junge Mann aus Manchester‹ – Lary Holt, stand in der Tür, und sein langer Browning war auf den Würger gerichtet.

 

»Hände hoch, Jake«, sagte er, und Jake der Blinde drehte sich mit einem tiefen Knurren herum. Es klang wie das Fauchen eines gestellten Tigers.