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Flimmer Fred hatte London nicht verlassen und auch niemals die Absicht gehabt, fortzugehen. Flimmer Fred war mit allen Wassern gewaschen. Wäre er dies nicht, könnte er nicht in einem so eleganten Stil leben, hätte keine schicke Wohnung in der Jermyn Street und kein Motorcoupé, das ihn abends zum Theater brachte. Seine Unkosten waren nicht gering, aber seine Einkünfte desto höher. Er hatte immer verschiedene Eisen im Feuer, aber niemals verbrannte er sich die Finger an einem – und das ist die große Kunst des Erfolges im Leben.

 

Am Abend des gleichen Tages, an dem Larry das erste Rätsel des Falles Stuart gelöst hatte, saß Flimmer Fred in seinem prächtigen Wohnzimmer und dachte über eine Theorie nach, die er sich im Anschluß an eine am Morgen gemachte Beobachtung gebildet hatte.

 

Zwölfhundert Pfund jährlich ergeben innerhalb fünf Jahren die respektable Summe von sechstausend Pfund. Aber fünf Jahre bilden auch eine bedeutende Spanne Zeit in dem abenteuerlichen Leben eines Mannes wie Flimmer Fred. Zwölfhundert Pfund gestatten nur zweimal das Maximum am Spieltisch und können in weniger als drei Minuten verloren werden.

 

Dr. Judd war Sammler. Fred hatte erfahren, daß Dr. Judds Haus in Chelsea eine wahre Schatzkammer von Gemälden und antiken Schmuckgegenständen war, daß Dr. Judd der Besitzer historischer Juwelen war, deren Wert fünfzigtausend Pfund überschritt. Und wenn auch Fred absolut kein Interesse für Geschichte hatte, so war er doch für den Wert kostbarer Steine äußerst empfänglich, und die Theorie, die er sich am Morgen gebildet hatte, war in erster Linie auf arithmetischer Basis aufgebaut. Wenn er sich innerhalb vierundzwanzig Stunden mit Kostbarkeiten im Werte von zehntausend Pfund aus dem Staube machen könnte, hätte er nicht nur sein Einkommen für acht bis neun Jahre im voraus, sondern er würde sich dann auch die Mühe ersparen können, alle zwölf Monate nach London kommen zu müssen, um sich sein »Gehalt« auszahlen zu lassen. Was könnte nicht alles in zwölf Monaten passieren! Wie leicht könnte ihm die Reise überhaupt unmöglich sein. Gefängnisdirektoren sind bekannterweise gutem Zureden so schwer zugänglich. Vielleicht könnte er auch tot und begraben sein!

 

Es würde natürlich ziemlich schwierig sein, diese Kostbarkeiten in die Hände zu bekommen, da der Doktor kaum der Mann dazu war, sein Eigentum unbewacht zu lassen. Die gewöhnlichen Methoden, einen unerlaubten Zugang in das Haus des Doktors zu erzwingen, waren mit Freds professionellen Gefühlen unverträglich. Er gewann seinen Lebensunterhalt durch sein geschicktes Mundwerk und durch die blitzartige Geschwindigkeit, mit der sich verschiedene Zellen seines Gehirns den plötzlichen Forderungen jeder unerwarteten Lage anzupassen verstanden. Ein Brecheisen war für Fred ein Instrument des Abscheus – verkörperte es doch für ihn Arbeit. Aber es gab ja auch einen anderen Weg – und wenn er sich erst einmal mit seiner Beute aus dem Staube gemacht hätte, würde der Doktor überhaupt wagen, ihn anzuzeigen?

 

Am Nachmittag schlenderte Fred ziellos durch die Piccadilly Circus und sah sich plötzlich einem großen, etwas starken Mann gegenüber, der nach einem kurzen Blick in sein Gesicht versuchte, sich vorbeizudrücken. Aber Fred packte ihn am Arm und hielt ihn fest.

 

»Ist denn das nicht die liebe, alte Nummer 278? Wie geht’s denn, Strauß?«

 

Das Gesicht von Mr. Strauß zuckte nervös.

 

»Ich glaube, Sie irren sich, Sir«, sagte er.

 

»Laß doch den Blödsinn«, sagte Fred unelegant und zog ihn in die Lower Regent Street hinein.

 

»Entschuldigen Sie, daß ich Sie nicht gleich erkannt habe«, begann Mr. Strauß unruhig, »ich dachte erst, Sie wären ein Geheimer – Spitzel sagen wir hier.«

 

»Nee, noch nicht«, erwiderte Flimmer Fred. »Na, und wie geht’s dir denn hier bei uns in dem schönen Europa? Erinnerst du dich noch an die Galerie G in Portland, Block B?«

 

In dem Gesicht des dicken Mannes zuckte es wieder unruhig. Es war ihm nichts weniger als angenehm, an seine Erfahrungen im Gefängnis erinnert zu werden, wenn er auch in Wahrheit nichts gegen seinen ehemaligen Zellennachbar in Portland hatte.

 

»Na, wie geht’s Ihnen denn?« fragte er. Zufällig war Fred an diesem Morgen ohne allen Schmuck ausgegangen, kein einziger Brillant war zu sehen – er hatte alles sicher in seiner hinteren Beinkleidtasche verwahrt. Man konnte heutzutage ja doch niemand trauen.

 

»Schlecht«, schwindelte er. Kein richtiger Hochstapler wird je zugeben, daß es ihm gut geht. Dann aber fragte er plötzlich: »Immer noch im alten Geschäft?« und bemerkte den unruhigen Blick in den Augen des anderen.

 

»Nee, nee, damit ist’s aus. Ich arbeite jetzt.«

 

»Du bist ein Schwindler und wirst es immer bleiben«, zitierte Fred Larry Holt. »Ich wette, du bist auf dem Wege zum nächsten Hehler.«

 

Der Mann blickte wieder um sich, als ob er einen Weg zum Entwischen suchte, aber Fred, der niemals auch nur die kleinste Gelegenheit versäumte, ein Geschäft zu machen, streckte eine überredende Handfläche aus und sagte kurz: »Her damit.«

 

»Nur ein paar Kleinigkeiten, die ich bekommen habe und die nicht weiter vermißt werden. Kleiner Dreckkram. Ein paar Salzlöffel …« und er begann seine Beute aufzuzählen.

 

»Her damit!« sagte Fred von neuem. »Es geht mir verdammt mies, und ich brauche Geld. Ich will meinen Teil haben, und du kriegst das Geld zurück – gelegentlich.«

 

Mr. Strauß fluchte und – teilte.

 

»So, und jetzt müssen wir uns stärken«, sagte Fred vergnügt, als das Geschäft zu seiner Zufriedenheit erledigt war.

 

»Sie haben mir kaum für drei Pfund Wert gelassen«, brummte der Mann. »Nee, wirklich, Mr. Grogan, das war nicht anständig von Ihnen«, er betrachtete den anderen argwöhnisch, »und Sie sehen auch gar nicht so aus, als ob’s Ihnen schlecht ginge.«

 

»Die Anzeichen täuschen«, sagte Fred in guter Laune und ging voran in die nächste Bar. »Was bist du denn jetzt? Kammerdiener oder Haushofmeister?«

 

»Haushofmeister«, antwortete Strauß und warf ein Geldstück auf den Tisch. »Das ist gar nicht so schlecht, Mr. Grogan.«

 

»Sag‘ doch Fred, Mensch.«

 

»Wenn du nichts dagegen hast«, sagte Strauß demütig und meinte es wirklich so. »Ich habe eine Stellung bei einem sehr feinen Herrn.«

 

»Reich?«

 

»Mächtig. Aber nichts für mich. Er weiß, daß ich gesessen habe, behandelt mich aber sehr anständig.«

 

Fred sah ihn scharf an. »Immer noch das verfluchte Gift?« fragte er, und der Mann wurde rot.

 

»Ja«, sagte er rauh. »Ab und zu ein bißchen Koks.«

 

»Wer ist denn nun eigentlich dein Herr?«

 

»Du wirst ihn doch nicht kennen«, sagte Mr. Strauß kopfschüttelnd. »Geschäftsmann in der City, Direktor von ’ner Versicherungsgesellschaft.«

 

»Dr. – Judd?« fragte Fred schnell.

 

»Stimmt«; sagte der andere überrascht. »Aber woher weißt du denn das?«

 

Bald darauf trennten sie sich, und für den Rest des Tages war Fred ein sehr nachdenklicher Mann. Mit Einbruch der Dunkelheit hatten seine Pläne bestimmte Formen angenommen.

 

Er kleidete sich mit Sorgfalt um und machte sich in der Richtung nach dem Strand auf den Weg. Neben seinen sonstigen Talenten besaß er auch noch die Erfahrung eines vollendeten Schürzenjägers. Für jedes junge Mädchen, das nach Hause eilte, hatte er ein stets bereites Lächeln, und trotz vieler Abweisungen bereitete ihm jede neue Eroberung ein besonderes Vergnügen. Zwischen St. Martin und der Ecke zum Strand hatte er kein Glück. Entweder waren die jungen Mädchen, die ihm begegneten, wenig anziehend oder schon in männlicher Begleitung, aber gegenüber dem Morley-Hotel sah er, was er suchte.

 

Er sah sie nur einen Augenblick im Schein der Straßenlampe und war von der seltenen Schönheit ihres Antlitzes gefesselt. Sie war allein. Fred drehte um und hatte sie in wenigen Schritten eingeholt.

 

»Haben wir uns nicht schon mal getroffen?« fragte er und lüftete seinen Hut. Aber mehr konnte er nicht herausbringen. Eine kräftige Faust hatte ihn am Kragen gepackt und zurückgerissen.

 

»Fred, Fred, ich werde wirklich mal ernst mit Ihnen sprechen müssen«, sagte die verhaßte Stimme Larry Holts, und Fred hatte erneuten Grund zur Beschwerde.

 

»Haben Sie denn gar kein Zuhause, wo Sie hingehen können?« jammerte er und setzte in schlechtester Laune seinen Weg den Strand hinunter fort. Die Sehnsucht nach Romanze war ihm vergangen.

 

Das junge Mädchen ging ihres Weges, ohne sich bewußt zu sein, daß Larry Holt hinter ihr gewesen war. Für sie war es keine ungewöhnliche Erfahrung, auf der Straße angesprochen zu werden, und sie hatte sich allmählich daran gewöhnen müssen.

 

Sie wohnte in der Charing Croß Road oberhalb eines Zigarrengeschäftes. Larry sah, wie sie die Tür öffnete und in dem dunklen Eingang verschwand. Er wartete noch einige Minuten und setzte dann seinen Weg fort.

 

Das junge Mädchen hatte einen ganz außerordentlichen Eindruck auf ihn gemacht. Er erzählte sich selbst, daß es nicht ihre zarte Schönheit war, das Weib in ihrer Person, das ihn anzog, sondern ihre ganz außerordentlichen Fähigkeiten, korrekt zu denken und korrekte Schlußfolgerungen zu ziehen.

 

Das waren so seine Selbstgespräche. An und für sich war es schon ungewöhnlich genug, daß er die Notwendigkeit fühlte, sich selbst etwas zu erzählen. Aber die Tatsache war nun einmal nicht aus dem Wege zu räumen, daß er einen großen Teil seiner freien Zeit damit verbrachte, über Diana Ward nachzudenken. Und er kannte sie kaum länger als vierundzwanzig Stunden!

 

Diana Ward dachte auf ihrem Nachhauseweg nicht im mindesten an Larry. Ihre Gedanken waren vollkommen mit den Problemen beschäftigt, die der Fall Stuart darbot.

 

Sie schlug die Haustür zu und ging langsam die dunkle, enge Treppe hinauf. Sie bewohnte die oberste und billigste der drei kleinen Etagewohnungen, die über dem Zigarrenladen lagen, und wußte, daß die Mieter der beiden anderen Wohnungen für das Wochenende aufs Land gefahren waren.

 

Diana war schon in der zweiten Etage angelangt und im Begriff, die beiden letzten Treppen hinaufzugehen, als sie plötzlich stehenblieb. Sie glaubte, ein Geräusch gehört zu haben, ein leises Knacken, das sie mehr gefühlt als gehört hatte. Sie hatte dieses Knacken, diese leichten Geräusche schon öfter gehört, war sich aber klar geworden, daß dies nur auf reiner Einbildung beruhte und hatte ihre Furchtsamkeit bemeistert. Trotzdem ging sie aber noch langsamer nach oben und erreichte den obersten Treppenabsatz, von dem einige wenige Stufen zu ihrer Wohnung führten. Der Treppenabsatz war breit, und mit einer gewissen Herausforderung streckte sie die eine Hand in das Dunkel, als ob sie einen verborgenen Eindringling packen wollte.

 

Und dann erstarrte ihr Blut zu Eis. Ihre Hand hatte den Mantel eines Mannes gestreift! Gellend schrie sie auf, aber im gleichen Augenblick preßte sich eine riesige, rauhe Hand auf ihr Gesicht, ihren Mund und drückte sie langsam nach hinten. Sie sträubte und wehrte sich mit all ihren Kräften, aber der Mann, der sie packte, hatte übermenschliche Kräfte, seine Arme legten sich um sie wie stählerne Zangen. Ihr Widerstand erschlaffte, und für einen Augenblick lockerte sich der Druck der sie umklammernden Arme.

 

Mit einem plötzlichen Sprung riß sich das junge Mädchen los, flog die letzten Stufen empor, riß die Tür auf und warf sie im gleichen Augenblick wieder zu. Der Schlüssel steckte auf der Innenseite. Mit einem Gefühl der Dankbarkeit, daß sie niemals die Angewohnheit hatte, ihr Zimmer beim Fortgehen von außen zu verschließen, drehte sie den Schlüssel herum. Sie rannte durch das Zimmer, schaltete das Licht ein, riß ein Schubfach heraus und aus diesem einen kleinen Revolver. Diana Ward stammte aus einer Familie, in der man nicht so leicht den Mut verlor – wenn auch mit klopfendem Herzen – sie rannte zur Tür zurück und riß diese auf.

 

Wenige Augenblicke stand sie bewegungslos auf der Türschwelle. Dann hörte sie einen leichten Fußtritt auf der Treppe und gab Feuer. Ein Angstgeheul, und hastige Füße polterten die Treppe hinunter. Nur einen Augenblick zögerte sie, dann flog sie selbst hinterher. Sie hörte das Poltern auf den unteren Treppenabsätzen, dann das Öffnen der Tür. Als sie atemlos unten ankam, fand sie die Tür offen. Niemand war zu sehen.

 

Sie verbarg den Revolver in den Falten ihres Kleides und trat auf die Straße hinaus. Um diese Zeit waren wenige Fußgänger in Sicht, und vergebens spähte sie nach ihrem Angreifer umher. Ein leichtes Lieferauto einer Wäscherei fuhr gerade vorbei, und die einzige Person, die sie in ihrer Nähe sah, war ein alter, blinder Mann. »Tap – tap – tap –« klopfte die eiserne Zwinge seines Stockes auf das Pflaster, als er mühselig und langsam vorwärts stolperte.