18

 

Um fünf Uhr nachmittags drehten sich die Schlüssel in den Schlössern, die Türen dröhnten im Gefängnis von Telsbury, die Stunde der Abendmahlzeit war vorüber, und die Wärterin hatte ihre letzte Runde beendet. Die Waschhäuser, die großen Küchen und die Arbeitssäle waren von den verantwortlichen Beamtinnen verschlossen worden, die fünf großen Hallen, die sternförmig von einem Mittelpunkt ausstrahlten, lagen verlassen da. Nur die Wärterin vom Dienst saß an ihrem Pult und las die Post durch, die den Gefangenen am nächsten Morgen ausgehändigt werden sollte. Sie arbeitete mit der Sicherheit jahrelanger Erfahrung. Während sie damit beschäftigt war, hörte sie plötzlich das Klingeln einer Glocke. Sie schaute sich um und sah, daß eine der vielen Klappen an der Tafel heruntergefallen war. Sie legte ihren Blaustift hin, ging die Halle entlang und machte vor einer Zelle halt. Sie schloß auf und öffnete die Tür.

 

Die Frau, die sich von ihrem Bett erhob, trug keine Gefangenenkleidung. Sie hatte ein dunkelblaues Kostüm an, auf dem Bett lagen Hut und Mantel und ein Paar neue Handschuhe. In einer Ecke der Zelle standen eine kleine Handtasche und ein Schirm.

 

»Es tut mir leid, daß ich Sie belästigt habe«, sagte die Gefangene nervös, »aber ich dachte, man hätte mich vergessen. –« Ihre Stimme versagte, und es wurde ihr schwer, weiterzusprechen.

 

»Sie sind nicht vergessen worden, Mrs. Pinder«, erwiderte die Wärterin ruhig. »Man hätte Ihre Zelle nicht zuschließen sollen.« Sie öffnete die Tür weit. »Wenn Sie sich allein fühlen, kommen Sie nur zu mir heraus.«

 

»Das ist sehr lieb von Ihnen«, sagte die Frau dankbar, und die Beamtin sah, daß ihr die Tränen nahe waren. »Wissen Sie, es ist nur deswegen – der Direktor sagte mir, daß er meinen Freunden telegrafiert hat. Ist noch keine Antwort gekommen?«

 

»Es wird auch wahrscheinlich keine Antwort eintreffen«, sagte die Wärterin taktvoll. »Ihre Freunde werden bald hierherkommen. Möglicherweise denken sie auch, daß Sie noch bis morgen warten wollen.« Sie lächelte. »Gewöhnlich werden Gefangene ja auch des Morgens entlassen. Aber das Justizministerium hat dem Direktor die Erlaubnis gegeben, Sie schon heute nacht in Freiheit zu setzen. Ich würde mich nicht aufregen, Mrs. Pinder.«

 

Sie wartete an der Tür.

 

»Kommen Sie doch heraus, wenn Sie mögen«, meinte sie gutmütig. »Sie können in der ganzen Halle umhergehen. Die anderen Frauen sehen Sie nicht, es ist schon alles abgeschlossen.«

 

Mary Pinder ging langsam in die weite Halle und blickte auf die ihr so vertrauten schmalen, schwarzen Türen, als sie an den langen Reihen vorbeikam. Schließlich trat sie an das große Fenster am Ende des Ganges. Das rosige Licht der untergehenden Sonne schien herein. Zum erstenmal seit zwanzig Jahren waren die Beschränkungen für sie gefallen, durfte sie unbeobachtet umhergehen, und bald würde sie durch die schwere, eiserne Gittertür wieder in Gottes freie Welt hinaustreten.

 

Sie unterdrückte einen traurigen Seufzer, legte die Hände zusammen und stand versunken und nachdenklich da. Ihre Gedanken wanderten. Sie wagte nicht, die Geschichte zu glauben, die man ihr erzählt hatte, und sie durfte noch nicht an das Glück denken, das jenseits der eisernen Tür auf sie wartete.

 

Die Wärterin war zu ihrem Pult und zu ihrer Beschäftigung zurückgekehrt. Mrs. Pinder betrachtete sie gedankenvoll. Die Frau kam täglich mit der Außenwelt in Berührung – vielleicht war sie verheiratet und hatte Kinder, die außerhalb dieser roten Mauern aufwuchsen. Mary Pinder war vom Leben und der menschlichen Gesellschaft nun schon zwanzig Jahre lang abgeschnitten. Draußen war die Welt ihren alten Gang weitergegangen. Neue Männer waren zur Macht gekommen und wieder von anderen ersetzt worden, nationale Erhebungen waren vorübergerauscht, Kriege hatten sich ausgetobt, aber hier in diesem düsteren Schatten blieb das Leben grau und ohne Trost, und selbst der Schmerz wurde monoton.

 

Sie ging furchtsam auf die Beamtin zu und setzte sich auf einen Stuhl in ihrer Nähe. Die Wärterin hielt in ihrer Arbeit inne und schaute sie mit einem ermutigenden Lächeln an. Nach einer Weile legte sie ihren blauen Stift wieder hin.

 

»Hoffentlich vergessen Sie diesen Ort bald ganz, Mrs. Pinder.«

 

Die schüttelte den Kopf.

 

»Ich glaube, es ist unmöglich – das zu vergessen. Das war mein Leben – der größte Teil meines Lebens, auf den ich mich besinnen kann. Ich war achtzehn Jahre alt, als ich zuerst hierherkam, und dreiundzwanzig, als man mich in das Gefängnis in Aylesbury brachte, und dreißig, als ich wieder hierher zurückkam. Ich kann mich nicht an viel mehr erinnern«, sagte sie schlicht.

 

Die Wärterin sah sie interessiert an.

 

»Sie sind die einzige Gefangene, zu der ich Zutrauen hatte und an die ich in gewisser Weise glaubte, Mrs. Pinder!«

 

Mary Pinder neigte sich eifrig zu ihr.

 

»Waren Sie von meiner Unschuld überzeugt?«

 

Die Wärterin nickte.

 

»Ich danke Ihnen. Ich – wünschte, ich hätte früher gewußt, daß jemand an mich glaubte.«

 

»Dann wollte ich, daß ich es Ihnen eher gesagt hätte«, erwiderte die Beamtin kurz. »Hier kommt noch jemand, der auch von Ihrer Unschuld überzeugt ist.« Die Wärterin ging dem Gefängnisdirektor entgegen.

 

»Haben Sie sich schon angezogen und sind Sie fertig?« fragte er liebenswürdig. »Sie sind eine glückliche Frau! Ich muß hier an diesem schrecklichen Platz aushalten. Auch ich bin eine Art Gefangener, aber ich muß hier auf meinem Posten bleiben, bis ich sterbe!«

 

Das war eine stehende Redensart von ihm, und Mrs. Pinder lächelte, als er mit ihr die Halle entlangging.

 

»Ihre Freunde werden nicht vor zehn Uhr kommen – eben traf ein Telegramm ein. Sie glaubten, daß Sie erst nach Einbruch der Dunkelheit das Gefängnis verlassen wollten. Wissen Sie, wo Sie von hier aus hingehen?«

 

»Ich habe keine Ahnung«, sagte sie. Dann änderte sich ihr Ton. »Es ist wie ein Traum, was Sie mir erzählten über – über –«

 

»Über das junge Mädchen, das Sie gesehen hat? Es ist doch ein merkwürdiger Zufall. Ich hätte es eigentlich merken müssen, als ich sah, wie die Erwähnung der Brandwunde am Arm sie aufregte.«

 

»Meine Tochter!« sagte sie atemlos. »Ach Gott, wie wundervoll!«

 

»Man hat es Ihnen nicht mitgeteilt – Ihre Freunde glaubten, die freudige Überraschung würde zu groß sein. Sie ist ein hübsches Mädchen geworden.«

 

»Ja, ist sie schön? Weiß sie es schon?«

 

Er nickte.

 

»Sie erfuhr es, als sie damals in meinem Zimmer war und als ich ihr den Namen Lois Margeritta nannte. Wenn noch irgendein Zweifel darüber bestehen könnte, so ist der Brief, den ich vom Unterstaatssekretär erhielt, der beste Gegenbeweis. Sie hat ihn aufgesucht, um noch mehr Einzelheiten über die Gerichtsverhandlung und das Verbrechen zu erfahren, dessen man Sie beschuldigt hatte. Mrs. Pinder, wollen Sie mir eine Frage beantworten?« Er ließ ihren Arm los und sah sie an. »Ich bin ein alter Mann und habe nicht mehr lange zu leben. Ich habe fast allen Glauben an die Menschheit verloren – waren Sie unschuldig?« Er machte eine Pause. »Waren Sie unschuldig oder schuldig?«

 

»Ich war unschuldig.« Sie schaute ihm furchtlos in die Augen. »Ich sage Ihnen die reine Wahrheit. Ich bin damals nur aus dem Haus gegangen, um mir Arbeit zu suchen, und als ich zurückkam, wurde ich verhaftet.«

 

»Aber wer war denn Ihr Mann, und wo war er?«

 

»Er war tot«, sagte sie schlicht. »Ich wußte es damals nicht – aber ich habe es inzwischen erfahren. Glauben Sie mir?«

 

Er nickte schweigend.

 

»Sie haben mich stets so gut behandelt«, sagte sie. »Ich wünschte, ich könnte Ihnen für Ihre Güte danken.«

 

»Das können Sie«, erwiderte er in seiner rauhen Art. »Wenn Sie wieder in die Welt kommen und andere Frauen treffen, die Ihnen raten, Ihr Haar rot zu färben – dann tun Sie es bitte nicht!«

 

Er war froh, daß er sie nicht zum Lachen gebracht hatte.

 

»Und nun kommen Sie mit und essen Sie mit mir und meiner Frau zu Abend.«

 

+++

 

Fünf Minuten nach zehn hielt ein kleines, elegantes Auto vor den Toren des Gefängnisses. Der Chauffeur stieg aus und klingelte. Der Pförtner fragte durch das Schiebefenster nach seinem Wunsch.

 

»Ich bin hergekommen, um Mrs. Pinder abzuholen«, sagte er.

 

»Bitte, kommen Sie herein und sprechen Sie selbst mit dem Direktor.«

 

»Ich bleibe lieber hier.«

 

Der Chauffeur zündete sich eine Zigarette an und ging auf und ab, um sich die Zeit zu vertreiben, aber er brauchte nicht lange zu warten. Einige Minuten später sprang eine kleine Tür auf, und eine Frau trat heraus.

 

»Sind Sie Mrs. Pinder?« fragte der Mann leise, fast flüsternd.

 

»Ja.«

 

»Geben Sie mir Ihr Gepäck.«

 

Er öffnete die Tür, stellte den kleinen Koffer hinein und half ihr beim Einsteigen. Dann setzte er sich ans Steuer und fuhr in der Richtung nach London davon. Im Schatten des Gefängnistores beobachtete der Direktor die Abfahrt, dann ging er mit einem Seufzer in sein Büro zurück.

 

Das Gefängnis hatte in dem Augenblick für ihn an Interesse verloren, als die Frau es verließ, die in allen Zeitungen als die Hereford-Mörderin geschildert worden war.