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»Das ist leider unmöglich – wünschen Sie irgend etwas?«

 

»Ja, ich habe etwas vergessen«, sagte er aufgeregt.

 

»Kann ich es Ihnen nicht herausreichen?« fragte Lois, die an die Tür gegangen war.

 

»Nein, ich fürchte, das geht nicht. Es ist – ja, es ist –« Seine Stimme erstarb in einem undeutlichen Murmeln. Dann sprach er wieder: »Also, es tut mir leid, ich vermute nicht – ich wollte nur sagen, lassen Sie sich nicht durch irgend etwas erschrecken. Ich – ich meine, sagen Sie der Gräfin nichts, wenn Ihnen etwas verwunderlich erscheinen sollte –«

 

Lois schüttelte verständnislos den Kopf.

 

»Ich verstehe nicht, was Sie meinen. Wenn ich Ihnen irgend etwas herausreichen kann, tue ich es gern.«

 

Aber es kam keine Antwort mehr, er war anscheinend schon gegangen. Lizzy, die immer praktisch und robust war, meinte, er hätte seine falschen Zähne vergessen. »Und er ist so schüchtern und wohlerzogen, daß er das einer Dame nicht zu sagen wagt.«

 

Aber Lois war mit dieser Erklärung nicht einverstanden.

 

Lizzy ließ sich durch die Pracht und den Prunk nicht im mindesten beeinflussen und schlief sofort ein. Aber Lois blieb vollkommen wach. Sie hörte die Uhren im Haus jede Viertelstunde schlagen. Sie änderte ihre Lage und drehte sich auf die andere Seite, sie zählte von eins bis tausend und versuchte alle bekannten Mittel, um einzuschlafen, aber um halb zwei war sie noch immer munter. Ein Auto hielt draußen vor dem Tor – sicher kam Lady Moron jetzt nach Hause.

 

Lois lag in einem Himmelbett, und vielleicht war es dieser ungewöhnliche Umstand, der sie nicht einschlafen ließ. Sie starrte auf den kaum sichtbaren seidenen Thronhimmel über ihr und überlegte sich, daß sie vielleicht besser schlafen würde, wenn sie sich auf das große Sofa legte, das quer vor dem Bett stand. Das tiefe Atmen Lizzys störte sie auch. Sie richtete sich eben auf, um ihr Kissen zu nehmen, als sie plötzlich jemand sprechen hörte.

 

»Hat sie die Fotografie erkannt?«

 

Es war die Stimme Chesney Prayes, und sie kam aus der Seidendraperie des Baldachins! Es klang, als ob sich jemand oben versteckt hätte und von dort aus spräche. Die Worte waren sehr deutlich und klar.

 

»Nein«, hörte sie plötzlich die tiefe Stimme der Gräfin. »Ich legte sie in die Schublade, bevor sie kam.«

 

Es entstand eine Pause.

 

»Das war eigentlich etwas riskant.«

 

Lady Moron lachte laut.

 

»Ich habe heute abend sicher mehr riskiert, Chesney.«

 

»Aber, liebe Leonora, du kannst mir vertrauen.« Die Antwort klang gedrückt.

 

»Ja, das muß ich wohl«, kam die vorsichtige Stimme der Gräfin von oben her. »Und ich denke, du wirst verständig genug sein, keinen Unsinn zu machen. Selwyn quält mich.«

 

»Ach was, Selwyn!« sagte er verächtlich.

 

»Selwyn weiß mehr, als ich für möglich hielt. Woher mag er wohl erfahren haben, daß wir heiraten wollen? In seiner Wut sagte er es heute. Und woher weiß er, daß ich dir Geld geliehen habe?«

 

»Komm in den Speisesaal.«

 

Eine Türklinke wurde niedergedrückt, und Lois hörte Braimes Stimme in weiter Entfernung.

 

»Es ist serviert, Mylady.«

 

Dann war alles still.

 

»Was war das? Hat jemand gesprochen?« Lizzy war aufgewacht. »Hast du etwas gesagt, Lois? Ich hörte etwas vom Geldleihen.«

 

Lois war aufgestanden und hatte die kleine Taschenlampe angedreht, die neben ihrem Bett stand. Erschrocken schaute sie nach dem Thronhimmel, der wie alle solche Draperien einen schweren, vornehmen Eindruck machte. Lois kam plötzlich der Gedanke, daß die Tür aufgestanden habe. Aber es gab nur eine einzige, die auf den Korridor führte, und die war bestimmt zugeschlossen.

 

Lizzy warf schnell ihren Morgenrock über.

 

»Sag doch, Lois, was war das?«

 

»Ich weiß nicht, ich hörte jemand sprechen. Es muß hier im Raum gewesen sein.«

 

»Ich hörte, daß die Stimme von deinem Bett herkam«, sagte Lizzy. »Großer Gott, das ist ein merkwürdiges Haus. Ich liebe so was nicht, Lois. Da ist mir der alte Mackenzie mit seiner Fiedel noch lieber!«

 

Lois Reddle hob die Lampe und stieg in ihr Bett. Als sie die Falten der Draperie genauer untersuchte, stieß sie plötzlich einen Ruf des Erstaunens aus. Oben in einer Ecke sah sie ein schwarzes Stück Ebenholz, das die Form einer Glocke hatte und von zwei Drähten gehalten wurde. Zuerst glaubte sie, es sei der Schalltrichter eines Telefons, aber dahinter war ein flacher, runder Kasten mit Drähten in dem Thronhimmel befestigt.

 

»Von dort kamen die Worte – es ist ein Lautsprecher!«

 

Als sie weitersuchte, fand sie auch den Draht, der sorgfältig in den Falten verborgen und an einem der Bettpfosten heruntergeleitet war. Dann entdeckte sie an der Wand hinter dem Bett einen Schalter. Das Geheimnis war also aufgeklärt, jetzt verstand sie die Aufregung Lord Morons und sah, daß seine elektrotechnischen Kenntnisse ernst zu nehmen waren. Auf diese Weise belauschte er wahrscheinlich seine Mutter. Irgendwo im Haus, wahrscheinlich irrt Salon, hatte er versteckt ein Mikrophon angebracht, und nun war ihm zu spät eingefallen, daß der Apparat nicht abgestellt war. Lady Moron war verwundert, woher ihr Sohn ihre Geheimnisse wissen konnte. Lois hätte sie jetzt aufklären können.

 

»Was für ein schlauer Kerl!«, sagte Lizzy bewundernd. »Das hat er nun alles selbst angelegt! Ich sagte dir ja schon, der junge Mann hat Verstand. Was hast du denn gehört, Lois?«

 

Aber Lois war nicht dazu aufgelegt, ihrer Freundin ihre Erlebnisse mitzuteilen. Sie stellte den Apparat ab, ließ Lizzy wieder zu Bett gehen und folgte dann ihrem Beispiel.

 

Wessen Fotografie mochte man in ihr Zimmer gelegt haben? Was hatte Lady Moron riskiert? Sie erinnerte sich an das Bild des hübschen jungen Offiziers, der für die Gräfin ein junger Mann war, den sie früher einmal gekannt hatte.

 

Ihre Neugierde war erwacht, und sie wollte mehr hören. Sie stand auf und schaltete den Apparat wieder ein. Es war ihr bewußt, daß sie etwas Ungehöriges tat, aber es war so viel geschehen, das lebenswichtiges Interesse für sie hatte, daß sie sich über diese Anstandsregeln hinwegsetzte. Sie hörte im Augenblick nichts mehr, aber es war ja möglich, daß sie nach dem Essen noch einmal in den Raum zurückkehrten. Vielleicht würde das langweilige Warten ihr den Schlaf bringen, der sie bis jetzt geflohen hatte.

 

Es schlug drei Uhr, halb vier und schließlich halb fünf. Die erste leichte Dämmerung zeigte sich schon durch die Fenster, und Lois war beinahe eingeschlafen, als sie plötzlich einen schwachen Laut vernahm und sofort aus ihrem Kissen wieder in die Höhe fuhr.

 

Klick! Klick!

 

Es war ein Geräusch, als ob jemand das Licht im Salon andrehte. Sie wartete gespannt, ob sie wieder etwas hören würde. Zuerst kam ein unbestimmtes Flüstern, und dann tönten die klaren Worte an ihr Ohr: »Lois Reddle schwebt in großer Gefahr!«

 

Sie kannte die Stimme und konnte sich auch den Sprecher gut vorstellen. Es war Michael Dorn!