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»Du bist wirklich ein ganz unnützer Junge«, sagte Lady Moron noch einmal, wischte das Messer mit ihrem Taschentuch ab und beschäftigte sich wieder damit, den Bleistift anzuspitzen. »Geh in dein Zimmer und spiel mit deinen elektrischen Batterien.«

 

Der junge Mann keuchte vor Furcht, drehte sich plötzlich um und rannte aus dem Zimmer. Sein Gesicht war mit Blut besudelt.

 

Ein tödliches Schweigen folgte, dann schaute die Gräfin auf.

 

»Sie denken vermutlich, daß ich eben etwas Entsetzliches getan habe, aber Selwyn macht manchmal furchtbare Schwierigkeiten und ist so eigensinnig und trotzig, daß ich ihm gegenüber meinen Willen durchsetzen muß – es ist nur zu seinem eigenen Besten. Er ist nicht mehr verletzt, als wenn er sich mit seinem Rasiermesser gründlich geschnitten hätte.«

 

Die Kaltblütigkeit, mit der sie dies alles sagte, versetzte Lois in atemlosen Schrecken. Sie konnte kaum glauben, daß dies alles nicht nur ein fürchterlicher Traum war. »Es war sehr – ungewöhnlich«, erwiderte sie nach einer Pause. Das Sprechen fiel ihr schwer.

 

Wieder trafen sie die dunklen Augen der Gräfin.

 

»Ungewöhnlich? Ja. Dr. Tappatt wünscht, daß ich ihm gegenüber so ungewöhnlich auftrete und noch härter mit ihm verfahre. – Haben Sie Ihre Freundin gesprochen?«

 

»Ja«, sagte Lois, die froh war, daß nicht mehr von der Sache gesprochen wurde.

 

»Wird sie kommen? Wie nett von ihr. Wie ich Ihnen schon heute morgen sagte, Miss Reddle, fürchte ich mich. Ich vermute, daß Sie den Grund nicht ahnen, selbst nachdem Sie Zeugin dieses belustigenden, kindischen Benehmens des jungen Grafen waren.«

 

Lois hatte wirklich keine Ahnung, was es sein mochte, und schwieg vorsichtig. Die Gräfin erwähnte die Szene auch nicht weiter, und als Lord Moron später zum Mittagessen mit einem großen Verband um sein Gesicht erschien, nahm seine Mutter keine Notiz von ihm und sagte nur am Schluß der Mahlzeit: »Komm doch bitte nicht in solchem Aufzug zum Essen, Selwyn, man könnte sich sonst einbilden, du hättest ein Erdbeben mitgemacht.«

 

»Jawohl Mutter«, antwortete er bescheiden.

 

Der Umzug war vorgenommen, und Lois bewohnte nun ein prachtvolles Zimmer, das ein Staatsraum eines königlichen Palastes hätte sein können. Auch das zweite Bett war aufgestellt. Als die Stunde von Lizzys Ankunft herankam, fühlte sich Lois sehr erleichtert, und die bösen Gedanken, die sie bedrückt hatten, verschwanden. Die Gräfin speiste wieder außerhalb, hatte aber strikte Anweisung gegeben, daß ihr Sohn beim Abendessen zugegen sein solle. Bevor sie fortfuhr, ließ sie Lois zu sich rufen.

 

»Wenn Sie Selwyn unterhalten können, so tun Sie es bitte. Er ist ein ganz guter Gesellschafter, wenn man versteht, sich seiner kindlichen Auffassung anzupassen. Möglicherweise wird es Ihrer Freundin leichter fallen als Ihnen.«

 

Lois erschrak beinahe über diese Worte.

 

Lizzy kam pünktlich um sechs und brachte eine vollgepackte schwarze Handtasche mit, die auch ihr ›Hof- und Krönungskleid‹ enthielt, wie sie es nannte. Aber Lois jagte ihr keinen geringen Schrecken ein. »Weißt du auch, daß du heute abend mit Lord Moron speisen wirst?« fragte sie.

 

Lizzy sank vollständig aufgelöst in einen Stuhl.

 

»Das kann ich nicht – das will ich nicht!« rief sie energisch. »Ich wußte schon, daß irgend etwas im Hintergrund lauerte!«

 

Lois beschwichtigte ihre Aufregung und Furcht, und obwohl sie nicht dem Beispiel der Dienstboten folgen und schlecht von dem Grafen sprechen wollte, beruhigte sie ihre Freundin doch so weit, daß sie weder in Ohnmacht fiel noch davonlief, als ihr der junge Graf vorgestellt wurde.

 

Er stand im Wohnzimmer mit dem Rücken gegen den Kamin und hatte eine Zigarette im Mund, als die beiden Mädchen in das Zimmer traten. Lois zog ihre Freundin mit sich. Selwyn gab ihr leicht die Hand.

 

»Es freut mich außerordentlich, Sie kennenzulernen. Sehr schönes Wetter heute«, sagte er. Dann wandte er sich liebenswürdig an Lois: »Ist die Gräfin fort? Dieser schreckliche Vagabund Praye hat sie vorhin angerufen.«

 

Lois erinnerte sich an die Szene, die sie gegen ihren Willen miterlebt hatte. Sie dachte auch an das Verhalten Mr. Chesney Prayes der Gräfin gegenüber, das ihr bis dahin noch unerklärlich erschienen war, das sie jetzt aber verstand. Er war der Gräfin also viel mehr als nur ein Ratgeber in finanziellen Dingen. Offensichtlich hatte er sie auch in Herzensangelegenheiten unterwiesen, obwohl Lois sich nur schwer vorstellen konnte, daß diese herrschsüchtige Frau auch zärtlich sein konnte.

 

»Ein fürchterlicher Kerl«, sagte der junge Graf energisch. Lois erkannte, daß sein Widerstand noch lange nicht gebrochen war. »Dieser ekelhafte, betrunkene Doktor ist entsetzlich, aber Chesney Praye ist noch viel schlimmer. Ich nenne ihn nur einen Raubvogel ist das nicht ein ganz guter Witz? Denken Sie, Chesney ist ein Raubvogel!«

 

Er lachte leise und kam offensichtlich unter dem Einfluß seines eigenen Humors in Stimmung.

 

Zum zweitenmal wurde dieser merkwürdige Doktor erwähnt. Lois war gespannt, ob sie ihn auch kennenlernen würde.

 

»Ich bin froh, daß sie mit ihrem Raubvogel fort ist. Wir wollen jetzt ins Speisezimmer gehen und essen.«

 

Lizzy machte ein erstauntes Gesicht, als sie diese wenig vornehme und auch ihr vertraute Sprache hörte. In diesem Augenblick begann sie, sich für den höheren Adel zu interessieren, und dieser Umstand sollte ihr Leben noch schicksalhaft beeinflussen.

 

Die Stimmung bei Tisch wurde sehr fröhlich, und Lois erinnerte sich nicht, jemals in so lustiger Gesellschaft gewesen zu sein. Auch für den jungen Grafen war es sicher ein sehr vergnügter Abend, denn er brachte seinen Witz von dem Raubvogel mindestens ein halb dutzendmal an und freute sich jedesmal mehr darüber.

 

»Zuerst habe ich den Witz gar nicht verstanden«, sagte Lizzy, die Tränen lachte.

 

»Die Sache ist doch sehr einfach«, erklärte er eifrig. »Er heißt doch Praye, und prey bedeutet doch Raub. Deswegen nenne ich ihn Raubvogel; das ist doch ein guter Witz – finden Sie nicht? Wir wollen Dame spielen – ich bin ein Meister darin.«

 

Lois ließ sich diese gute Gelegenheit nicht entgehen, ihn besser kennenzulernen, und war klug genug, sich allerhand Informationen von ihm geben zu lassen. Sie erfuhr, daß er zwei Jahre lang die berühmte Public School von Harrow besucht hatte – dann hatte ihn seine Mutter herausgenommen. Er hatte den Aufenthalt in der Schule nicht ertragen können, es war ihm dort zu roh. Und seit der Zeit war er tatsächlich nicht von seiner Mutter fortgekommen. Er war auch Mitglied irgendeines Klubs, aber er wußte nicht, welcher Klub das war, auch war er niemals dort gewesen.

 

»Sind Sie verheiratet?« fragte Lois kühn.

 

Die Frage verursachte ihm unheimliches Vergnügen.

 

»Ich verheiratet? Großer Gott, nein! Wer würde denn so einen alten, verrückten Kerl wie mich heiraten wollen? Nein, meine Liebe – allerdings gab es mal eine junge Dame, die mich heiraten wollte, aber meine Mutter gab unter keinen Umständen ihre Zustimmung.«

 

Er hatte niemals irgendeine verantwortliche Stellung eingenommen. Seine Mutter verwaltete seine großen Güter mit Hilfe hoher Beamter und Rechtsanwälte. Von Zeit zu Zeit wurden ihm Dokumente vorgelegt, die er unterschreiben mußte. Dann war er auch einmal im Oberhaus gewesen, um den ihm angestammten und ererbten Sitz einzunehmen.

 

»Aber nie wieder gehe ich dahin – es ist zu verrückt!« sagte er. »Man muß einen roten Samtmantel anlegen und so eine Art Krone aufsetzen!«

 

Später entdeckte Lois zu ihrem großen Erstaunen, daß er eine Liebhaberei hatte, und plötzlich wurden ihr auch die Sticheleien seiner Mutter über seine elektrischen Batterien verständlich. Er hatte eine Leidenschaft für elektrische Maschinen und Apparate. In seinem Arbeitszimmer standen Modelle von Dynamos, elektrischen Eisenbahnen, Batterien und so weiter.

 

»Ich habe eine sehr nette Arbeit für die Gräfin in der Bibliothek geleistet – fragen Sie sie nur, sie wird es Ihnen zeigen.« Er machte ein ernstes Gesicht. »Aber besser, Sie fragen nicht«, sagte er dann schnell.

 

Die Beschäftigung mit elektrischen Dingen war jedoch nicht nur ein Vergnügen und eine Spielerei für ihn. Stolz erzählte er, daß er die Klingelleitung im ganzen Haus selbst angelegt habe. Lois konnte sich später überzeugen, daß seine Angaben stimmten. Lizzy, die zuerst vor seinem hohen Adelstitel in Ehrfurcht erstarb, war bald mit ihm vertraut.

 

»Ich habe mich noch nie so gut amüsiert, wie heute abend«, sagte der junge Graf. Vorher hatte er schon verschiedene Male nervös nach der Uhr gesehen. »Jetzt werde ich aber losziehen, bevor die Gräfin nach Hause kommt.«

 

Er verschwand schnell, und die beiden Mädchen gingen in die Halle. Braime stand vor der Haustür und schaute durch die Glasscheiben auf die Straße.

 

»Gute Nacht, gnädiges Fräulein«, sagte er respektvoll. Dann schaute er wieder aufmerksam nach draußen.

 

»Ich mag den Mann nicht«, sagte Lizzy, als sie in ihrem Zimmer waren.

 

»Braime? Ich konnte ihn zuerst auch nicht leiden, aber ich verdanke ihm so viel. Wenn er mir letzte Nacht nicht geholfen hätte –«

 

»Wie ist er aber dorthin gekommen – das ist die Frage«, meinte Lizzy. »Er muß schon im Zimmer gewesen sein, als der Balkon einstürzte, denn ich fühlte sofort, daß mich jemand beiseite zog.«

 

»Was hältst du eigentlich von Lord Moron?« fragte Lois, die das Gespräch gern auf einen angenehmeren Gegenstand bringen wollte.

 

»Oh, er ist sehr nett«, sagte Lizzy verträumt. »Als du mir zuerst von ihm erzähltest, dachte ich, er sei ein wenig dumm. Aber der junge Mann hat doch Verstand!«

 

Plötzlich klopfte es an die Tür.

 

Lois lag schon im Bett, und Lizzy, die zu sehr mit ihren Gedanken beschäftigt war, um sich schnell auszuziehen, war gerade so tief im Negligé, daß sie sich nicht zeigen konnte.

 

»Wer ist da?« fragte Lois.

 

»Ich bin es, meine Damen. Kann ich hereinkommen?«

 

Sie erkannten die Stimme des jungen Lord Moron.