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Von Cambridge führen drei Verbindungsstraßen nach Waltham Cross: eine Autostraße erster Ordnung, der kürzeste Weg, eine Straße zweiter Ordnung, die den Reisenden über Newmarket führt, und eine dritte, staubige und ungepflasterte Landstraße, die meist nur von Bauernfuhrwerken befahren wird. Sie windet sich in vielen Biegungen nach Süden, und die Straßenbaubehörde beachtet sie so wenig, daß nicht einmal Wegweiser angeben, wohin sie führt.

 

Immerhin ist der Name dieser Straße, der Collett Street, von einiger lokaler Bedeutung. Sie legt Zeugnis ab von der Existenz des alten Collett, eines eigentümlichen, etwas extravagant veranlagten Landwirts. Sein Name wird in England mit der Reform gewisser landwirtschaftlicher Methoden in Verbindung gebracht. Ja, er gilt in diesem Land geradezu als ein Pionier der Agrarwissenschaft.

 

Seine Eigentümlichkeiten kosteten ihn ziemlich viel Geld, und beinahe wäre er – wie so mancher berühmte Mann – bettelarm gestorben. Schließlich hatte er dann aber doch das Glück; seine Arbeiten zu einem gewissen Abschluß zu bringen, der für ihn auch mit einem finanziellen Erfolg verbunden war.

 

Mr. Collett hinterließ unter anderem eine kleine Farm von ungefähr hundert Morgen minderwertigem Ackerland. Ein Bauernhaus stand darauf, das nach seinen eigenen Plänen gebaut worden war. Dieses Grundstück samt dem Haus wollten die Erben begreiflicherweise möglichst schnell loswerden. Sie beauftragten einen Grundstücksmakler, der zu seiner, größten Überraschung schon in Kürze ein recht gutes Angebot erhielt. Der Käufer, dem das Haus und die brachliegenden Felder unbegreiflicherweise sehr zu gefallen schienen, kaufte denn auch das Gut auf Anhieb mit allem lebenden und toten Inventar.

 

Der Grundstücksmakler erzählte später, daß der Käufer ein sehr höflicher Amerikaner sei, der sich ausgerechnet hier ein Wochenendhaus einrichten wolle. Um die Felder kümmerte er sich gar nicht, sondern ließ nur das Haus reparieren, neu streichen und mit Möbeln ausstatten.

 

Die Idee, ausgerechnet aus diesem Gebäude ein Wochenendhaus zu machen, konnte natürlich nur einem Amerikaner kommen. Die unverhältnismäßig dicken Mauern, der düstere Gesamteindruck, der von den vergitterten Fenstern unterstrichen wurde, trugen dazu bei, daß das Ganze eher den Eindruck eines Gefängnisses machte. Auch innen war das Haus nicht gerade einladend. Das Wohnzimmer reichte vom Fußboden bis zu den Dachsparren, ringsherum zog sich in halber Höhe eine Art Galerie. Das einzige Schlafzimmer befand sich zu ebener Erde.

 

Im Obergeschoß gab es noch ein Zimmer, das viel Ähnlichkeit mit einem überdimensionalen Geldschrank hatte – eisenbetonierte und mit Stahlplatten verkleidete Wände machten es diebes- und feuersicher. Keinem Einbrecher würde es gelingen, dort hineinzukommen. Diesen Raum konnte man nur vom Schlafzimmer aus über eine steile Stiege erreichen.

 

Der eigentliche Geldschrank, in dem der alte Collett sein Geld aufbewahrt hatte, weil er es niemals Banken anvertrauen wollte, war in die Mauer dieses Zimmers eingebaut, und der neue Besitzer fand ihn sehr nützlich. Er kam unregelmäßig, wie die Nachbarn beobachteten, und beschäftigte keine Arbeiter auf seiner Besitzung. Nur eine alte Frau, die vermutlich aus London stammte, hielt das Haus in Ordnung, und auch sie wurde öfter beurlaubt. Niemals blieb der neue Herr länger als eine Nacht auf der Farm.

 

Eines Tages aber bemerkte man, daß das Haus bewohnt wurde. Ein verdrießlich dreinschauender Mann zeigte sich auf den Feldern, und täglich stieg Rauch aus dem Schornstein auf. Fast jeden Tag kam jetzt ein Besucher aus London, blieb ein oder zwei Stunden und fuhr dann wieder nach der Stadt zurück. Manchmal war es der Besitzer selbst, manchmal ein anderer Mann.

 

Helder fuhr durch den prasselnden Regen zu seinem Landhaus. Er steuerte den Wagen selbst, Tiger Brown saß neben ihm. Keiner sprach während der ganzen Fahrt ein Wort.

 

Um zwei Uhr Morgens verringerte Helder die Geschwindigkeit, bog in eine holprige Zufahrt ein und hielt gleich darauf vor dem düsteren Haus. Ein Mann hatte den ankommenden Wagen gehört, öffnete die Tür und kam heraus. Er verschwand wieder, um den Schlüssel für einen Schuppen zu holen, in dem Helder sein Auto abstellte.

 

In dem großen Wohnzimmer brannte ein Feuer, obwohl es Juni war und die beiden fröstelnden Männer standen einen Augenblick schweigend vor dem Kamin, um sich zu wärmen. Der dritte beobachtete sie aufmerksam.

 

»Wir werden wohl einige Zeit hier zu tun haben«, sagte Helder plötzlich.

 

Der Verwalter nickte mürrisch und verschwand.

 

Helder ging in sein Zimmer, zog sich rasch um und kam ins Wohnzimmer zurück, wo Tiger einen Whisky getrunken hatte.

 

Sie sprachen leise miteinander. Der Verwalter des Gebäudes, den sie wieder hereinriefen, sagte nur wenig und gab lakonische Antworten auf die Fragen, die an ihn gestellt wurden. Er war ein kleiner Mann mit dichtem grauem Bart. Seine buschigen Augenbrauen verdeckten fast ganz die Augen, die mit vogelhafter Geschwindigkeit von einem zum andern huschten.

 

»Was macht er jetzt?« fragte Helder.

 

Der Verwalter deutete an seine Stirn.

 

»Spielt verrückt«, sagte er nur.

 

»Inwiefern verrückt?« fragte Helder ungeduldig.

 

Der bärtige Mann zuckte die Schultern.

 

»Er zeichnet und trinkt. Wollen Sie ihn sehen?«

 

Helder nickte.

 

Der Mann – Helder nannte ihn Clinker – zog einen Schlüssel aus der Tasche und führte sie die Treppe hinauf zu dem Zimmer, in dem sich der Geldschrank befand. Er schloß auf und trat ein; Helder und Brown folgten ihm.

 

Das Zimmer wurde von einer großen Lampe erleuchtet, die von der Decke herunterhing. Es war nur spärlich mit einem Tisch, einem Stuhl und einem Feldbett möbliert.

 

An dem Tisch saß ein Mann in Hemdsärmeln. Er wandte sich halb um, als sie eintraten. Stahlinstrumente lagen herum, und auf dem Zeichenbrett vor ihm war eine halbfertige gravierte Platte befestigt.

 

»Nun, Maple, wie geht’s?« begrüßte ihn Helder.

 

Tom Maple lächelte schwach und erhob sich.

 

»Wollen Sie mich jetzt endlich freilassen?« fragte er mit zitternder Stimme. »Ich habe alles getan, was Sie von mir verlangten, und die Sache ist mir nun in höchstem Grade zuwider!«

 

Helder klopfte ihm auf den Rücken.

 

»Ich werde Sie zu gegebener Zeit gehen lassen«, erwiderte er. »Sie sind selbst schuld daran, daß Sie hier sind.«

 

Man konnte auf den ersten Blick sehen, daß der Gefangene krank gewesen war. Seine Hände zitterten, und über sein Gesicht lief ab und zu ein nervöses Zucken. Nur wenn er sich über seine Arbeit beugte, schien er von einer merkwürdigen Ruhe und Sicherheit.

 

Helder begutachtete die Platte, die Maple vor sich liegen hatte, und schüttelte den Kopf.

 

»Sie brauchen das nicht fertigzumachen – wir werden die Produktion von französischen und amerikanischen Banknoten ganz einstellen. So langsam kommt uns jetzt die Polizei doch auf die Schliche. Einen großen Coup müssen wir allerdings noch machen, und dann ist ein für allemal Schluß. Maple, hören Sie gut zu: Sie müssen uns jetzt Platten für englische Banknoten gravieren – gleichsam als Krönung Ihrer Arbeit und Ihres Lebens!«

 

Maple steckte die Hände in die Taschen und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Mit entschlossenem Gesichtsausdruck schüttelte er den Kopf, ein verkniffener, bösartiger Zug lag um seinen Mund. Helder sah ihn betroffen an.

 

»Maple, was haben Sie denn?« fragte er. »Wollen Sie etwa wieder anfangen, uns Schwierigkeiten zu machen? Ich dachte das wäre vorbei. Natürlich sind Sie wütend, weil wir Sie hierhergebracht haben und Sie hier gefangenhalten – aber ich versichere Ihnen, daß das nur zu Ihrem eigenen Besten war! Übrigens – Sie tun doch schließlich nichts Schlimmeres als das, was Sie schon früher getan haben.«

 

Er steckte sich eine Zigarre an und sah nachdenklich vor sich hin – wie jemand, der seinen Erinnerungen nachhängt.

 

»Wann war denn das?« redete er dann halb in Gedanken weiter. »Ganz richtig – vor sechs Jahren hatte ich erfahren, daß Sie einer der geschicktesten Graveure in der österreichischen Staatsdruckerei waren. Ihre Begabung war so groß, daß Sie jedes noch so verwickelte Ornament aus dem Gedächtnis wieder zu Papier bringen konnten. – Ihr erster illegaler Versuch war eine Hundertschillingnote, wie?« Er beachtete es gar nicht, daß Tom Maple bei der Frage zusammenzuckte. »Daraufhin wurden Sie hinausgeworfen, und Sie konnten von Glück sagen, daß man einen Skandal vermeiden wollte und Ihnen nicht den Prozeß machte! In Frankreich, wohin Sie auswanderten, erhielten Sie ebenfalls eine gute Stellung beim Münzamt. Aber dort erkannte Sie jemand, und Sie mußten ebenfalls wieder gehen. – Wo haben Sie eigentlich Gold kennengelernt? Na ja, ist ja auch egal…«

 

Helder lachte höhnisch. Maple schaute ihn von unten herauf an.

 

»Lachen Sie nicht«, sagte er mit unsicherer Stimme. »Sie sprechen von einer Zeit, in der ich verantwortungslos handelte und mir meiner Vergehen gar nicht bewußt war – heute ist das anders!« Plötzlich warf er den Kopf zurück! »Ich war ein Trinker, bin es auch heute noch – und darauf haben Sie gebaut. Ich kenne Sie. Und ich kenne auch mich selbst.«

 

Sein Kopf sank wieder auf die Brust, und er starrte scheinbar teilnahmslos vor sich hin.

 

Helder und Tiger Brown wechselten einen schnellen Blick und sahen dann Clinker an, aber der schüttelte den Kopf, als ob damit eine unausgesprochene Frage beantwortet wäre.

 

»Los, Maple, kommen Sie«, sagte Helder freundlich. »Wir wollen zusammen einen trinken und dabei die ganze Angelegenheit besprechen.«

 

Maple erhob sich und stützte sich mit den Händen auf die Tischplatte. Helder beobachtete erstaunt, wie sich seine Haltung plötzlich verändert hatte, wie entschlossen und ruhig er aussah.

 

»Ich werde nichts trinken«, sagte er dann bestimmt. »Das ist ein fester Entschluß – ich will nüchtern bleiben, ein für allemal. Daß ich tief gesunken bin, weiß ich – aber jetzt will ich wieder aufwärts!«

 

Helder schoß das Blut ins Gesicht.

 

»Reden Sie keinen Unsinn, Maple. Für Sie gibt es keine Reue und kein Zurück mehr – weder für Sie noch für mich. In dieser Sache hier hängen Sie genauso drin wie wir, und Sie müssen jetzt so lange bei uns aushalten, bis wir unser Schäfchen im Trockenen haben.«

 

Maple schüttelte nachdrücklich den Kopf.

 

»Hören Sie« – Helder trat dicht auf ihn zu –, »glauben Sie vielleicht, ich würde Sie jetzt freilassen, damit Sie zur Polizei rennen und mich anzeigen? Meinen Sie, ich hätte Lust, zu lebenslänglichem Gefängnis verurteilt zu werden? Bilden Sie sich bloß keinen Augenblick ein, daß ich meine Freiheit und meine Stellung in der Gesellschaft aufzugeben gedenke!« Er lachte, diese Vorstellung schien ihn geradezu zu belustigen. »Nein, mein Lieber, wenn ich je Pech haben sollte und entdeckt werde, dann mache ich selber Schluß – dafür habe ich vorgesorgt. Aber eines will ich Ihnen sagen – und schreiben Sie sich das hinter die Ohren –; wenn ich bereit bin, mich selbst umzubringen, dann bin ich auch imstande, jemand anderes ins Jenseits zu befördern! Ich habe betrogen, gelogen und gestohlen, um mein Vermögen zusammenzubringen – und es soll mir auf einen Mord nicht ankommen, wenn zwischen mir und dem Gelingen des letzten großen Coups jemand steht. Kapiert?«

 

Maple sah ihn gleichgültig an und schüttelte den Kopf.

 

»Sie haben mich anscheinend nicht verstanden«, sagte Helder wütend. »Ich wiederhole noch einmal, daß ich keine Rücksicht nehme, wenn Sie sich nicht fügen. Sie müssen diese englischen Noten in Angriff nehmen – und zwar sofort! Zur Zeit befaßt sich die Polizei eingehend mit den amerikanischen Scheinen, und es wird nicht mehr lange dauern, bis sie hinter den französischen Banknoten her sind.«

 

Maple zeigte plötzlich Interesse an der Unterhaltung.

 

»Sind die französischen Scheine schon auf den Markt gekommen?« fragt er erregt.

 

Helder nickte.

 

»Die erste Lieferung ist bereits hinausgegangen. Wollen wir uns nicht lieber wieder vertragen, Maple?« fragte er dann und zwang sich zu einem freundlichen Lächeln. »Werden Sie das tun, was ich Ihnen gesagt habe?«

 

Maple zuckte schwach die Schultern.

 

»Vielleicht«, antwortete er. »Es wird mir nichts anderes übrigbleiben. Ich habe eine gewisse Verantwortung – meine Nichte ist nicht versorgt.«

 

Helder unterdrückte ein Lächeln.

 

»Machen Sie sich um Ihre Nichte keine Sorgen – es geht ihr gut.«

 

Clinker hob plötzlich warnend die Hand. Alle lauschten angestrengt.

 

»Es kommt jemand die Straße entlang; ich will mal nachschauen, wer es ist.«

 

Mit diesen Worten ging er hinaus und schloß die Tür hinter sich. Sie hörten, wie kurz darauf die Haustür geöffnet und nach einer Weile wieder geschlossen wurde.

 

Einige Minuten später war Clinker wieder oben und brachte ein Telegramm.

 

»Es war nur der Postbote«, sagte er. »Für Sie.«

 

Brown nahm den Umschlag, öffnete ihn und las aufmerksam.

 

»Was gibt es?« fragte Helder.

 

»Schriener wurde in Paris verhaftet, als er versuchte, Tausendfrancnoten zu wechseln.«

 

Seine Stimme war unsicher.

 

Die beiden sahen einander an. Browns Gesicht zuckte nervös, und Helder war blaß geworden. Clinker blieb auch jetzt völlig gleichgültig.

 

Bei den Worten Browns hatte Maple den Kopf gehoben.

 

»Eine Tausendfrancnote, sagten Sie? War das etwa eine, die von Platten gedruckt wurde, die ich graviert habe?« fragte er lauernd.

 

Helder nickte bestätigend.

 

»Hm«, machte Maple, um dann wieder in seinen alten Zustand der Lethargie zurückzufallen.

 

Helder und Brown fuhren in der Abenddämmerung nach London zurück. Beide schwiegen. Erst als sie in die Nähe von Waltham Cross kamen, begann Brown plötzlich: »Finden Sie nicht, daß sich Maple ziemlich merkwürdig benommen hat?«

 

Helder saß wieder am Steuer und schaute vor sich hin auf die Straße.

 

»Er glaubt, daß es mit uns zu Ende geht«, sagte er nach einer Pause.

 

Tiger wartete, ob Helder fortfahren würde, aber da dieser hartnäckig schwieg, sprach er weiter.

 

»Ihre Drohungen Maple gegenüber waren wohl nicht so ernst gemeint?«

 

»Ich wollte ihn durchaus nicht bluffen«, entgegnete Helder scharf. »Es würde mir nichts ausmachen, ihn oder jeden andern, der mir ins Gehege kommt, umzulegen.«

 

Weiter wurde kein Wort mehr gesprochen. Helder setzte seinen Begleiter in der City ab und fuhr zu einer Garage, wo er seinen Wagen abstellte. Von dort ging er zur Curzon Street. Er fühlte, daß das Netz um ihn enger gezogen wurde. Der Russe saß bereits im Gefängnis, Schriener befand sich in den Händen der französischen Polizei, und Maple wollte auch nicht mehr mitmachen. Besonders in Maple hatte er sich schwer geirrt; er hatte doch zu sehr auf seine Trunksucht gebaut.

 

Helder ging in sein Arbeitszimmer, wo ein kleiner Stapel Post auf ihn wartete. Gerade in der letzten Zeit hatte er in der vornehmen Gesellschaft Londons richtig Fuß gefaßt, und die Einladungen häuften sich. Er zitterte bei dem Gedanken, was passieren würde, wenn sein Plan mißglückte.

 

Schnell sah er die Briefe durch, stutzte aber plötzlich, als er ein Schreiben des Chefredakteurs des ›Post Journal‹ geöffnet hatte:

 

»Würden Sie die Liebenswürdigkeit haben, uns möglichst umgehend aufzusuchen? In der Comstock-Bell-Sache ist eine neue Entwicklung eingetreten, und da Sie uns schon vor einiger Zeit so viele wertvolle Informationen gegeben haben, nehmen wir an, daß Sie uns auch hier helfen können. Wir haben nämlich allen Grund zu der Vermutung, daß Mrs. Verity Bell tot ist.«

 

Helder ließ den Brief sinken und schaute aus dem Fenster.

 

Er hatte einmal gehofft, diese mysteriöse Angelegenheit aufklären und für seine Zwecke ausnützen zu können – jetzt schien es ihm aber doch, als ob die Sache seinen Händen entglitten wäre.