8

 

Jimmy fiel es nicht schwer, Faith im Konzertsaal zu finden. In einer Pause trat er kurz entschlossen auf sie zu und nahm sie mit nach draußen. So schonend wie möglich brachte er ihr die Nachricht bei, und doch schien es ein furchtbarer Schlag für sie zu sein. Sie schrak zusammen, und er dachte schon, daß sie ohnmächtig werden würde. Aber sie überwand die Schwäche.

 

»Das ist ja furchtbar!« sagte sie. »Mein armer, armer Onkel! Aber Jimmy, unmöglich ist es Selbstmord gewesen. Dazu kenne ich ihn viel zu gut.«

 

»Sagen Sie mir wenigstens das eine, liebe Faith«, erwiderte Jimmy sanft. »Haben Sie sich in letzter Zeit mit Ihrem Onkel gezankt?«

 

Sie sah ihn erstaunt an.

 

»Gezankt? Ja, ich hatte vor ein paar Tagen einen kleinen Streit mit ihm.«

 

Sie zitterte und bedeckte das Gesicht mit den Händen.

 

»Ach, ich habe so entsetzliche Dinge gesagt – ich schäme mich so sehr!«

 

Jimmy nahm vorsichtig ihre Hände vom Gesicht.

 

»Erzählen Sie mir, was Sie ihm gesagt haben, Faith. Haben Sie tatsächlich gesagt, Sie wünschten, daß er tot wäre?«

 

Die Tränen waren ihr nahe, so daß sie nicht sprechen konnte. Sie nickte nur.

 

»Dann hat Sands also doch die Wahrheit gesagt!«

 

Sie erfaßte sofort die Bedeutung seiner Worte.

 

»Hat man der Polizei denn gesagt, daß ich mich mit ihm gestritten habe? Man glaubt doch nicht etwa – daß ich – es getan habe?«

 

Jimmy sah sie verstört an, als sie das sagte.

 

»Um Himmels willen, nein!«

 

Aber dann blieb er plötzlich stehen. Er hatte zu genaue Kenntnis von den Methoden der Polizei, als daß er sich falschen Hoffnungen hingab. Ein Beamter würde ohne weiteres eine Schuld für Faith zusammenkonstruieren können.

 

»Ich habe niemals gedacht –«, begann er. »Ach, die Sache ist einfach zu dumm, als daß man darüber redete.«

 

Und doch fühlte er sich beunruhigt, als er an der Seite des jungen Mädchens zur Wohnung zurückkehrte. Diese Polizeibeamten konnten rücksichtslos sein und wollten vor allem Erfolg haben. Sie mußten einen Schuldigen finden. Wie leicht war es möglich, daß Blessington ihr bei dem Verhör zu nahetrat und sie kränkte. Er kannte diese Verhöre nur zu genau; er hatte die Aufklärung solcher Mordfälle schon mehrmals mitgemacht, und er ließ sich nicht täuschen. Es würde gar nicht leicht für Faith sein, sich von dem Verdacht zu befreien, obwohl es seiner Meinung nach geradezu Wahnsinn war, Miss Leman mit dem Tod ihres Onkels in Verbindung zu bringen.

 

Als sie die Wohnung erreichten, war der Tote auf Veranlassung des Polizeiinspektors schon fortgeschafft worden. Auch der Doktor hatte sich entfernt. Nur John Sands und der Detektiv waren zurückgeblieben. Faith Leman war bleich, als sie ins Zimmer trat, und Blessington maß sie mit einem Blick von Kopf bis Fuß.

 

»Das ist Miss Leman«, erklärte Sands.

 

»Ich habe Sie holen lassen«, wandte sich der Beamte an Faith, »weil Sie die einzige Verwandte des Verstorbenen sind – wenigstens die einzige Verwandte in England. Seine Frau – Sie wußten doch, daß er verheiratet war? – lebt, soviel mir Mr. Sands erzählte, in Paris. Er war mit beiden Ehegatten gut bekannt. Wenn Sie nichts dagegen haben, möchte ich ein paar Fragen an Sie richten.«

 

Jimmy schob einen Stuhl zurecht, und sie setzte sich.

 

»Ist Ihr Onkel in der letzten Zeit aufgeregt gewesen?«

 

»Nein«, entgegnete sie schnell.

 

»Haben Sie eine Depression an ihm bemerkt?«

 

»Nein, das könnte ich nicht behaupten. Er war allerdings niemals in guter Stimmung«, sagte sie und lächelte schwach.

 

»Ja, das habe ich auch gehört. Aber hat er in Ihrer Gegenwart einmal etwas davon gesagt, daß er sich das Leben nehmen wollte? Oder hat er irgendeine andere Bemerkung gemacht, die darauf schließen ließe, daß er sich mit solchen Gedanken trug? Denken Sie einmal genau nach. Es wäre wichtig, selbst wenn er es nur im Scherz geäußert hätte.«

 

»Das hat er nie getan, und das wäre auch das letzte, woran ich denken könnte.«

 

»Hat er nicht Verluste gehabt in der letzten Zeit?«

 

»Nein. Soweit ich weiß, ist mein Onkel sehr reich, und es würde schon viel dazugehören, daß er das ganze große Vermögen, das er während seines langen Lebens angesammelt hat, verlieren könnte.«

 

»Kennen Sie dieses Glas?«

 

Er hielt den kleinen Likörkelch in die Höhe, in dem sich noch ein Rest Kognak befand.

 

»Ja.«

 

»Ist es das Glas, das Sie gewöhnlich für Ihren Onkel füllten?«

 

»Ja. Ich goß jeden Abend zwei Gläser für meinen Onkel ein. Dort steht auch das andere.« Sie zeigte auf das Büfett. »Es ist noch voll.«

 

»Das habe ich auch schon bemerkt. Können Sie mir dies erklären, Miss Leman? Ihr Onkel hatte die Gewohnheit, immer für Mr. Sands ein Glas einschenken zu lassen, wenn man seinen Besuch erwartete. Hat er das auch bei anderen Leuten getan, die zu ihm kamen?«

 

»Ja. Wir hatten allerdings nur selten Besuch.«

 

»Trank Ihr Onkel immer aus demselben Glas, zum Beispiel aus dem, das dem Fenster am nächsten stand? Oder nahm er bald das eine, bald das andere?«

 

»Mr. Sands kann Ihnen darüber mehr erzählen«, erwiderte sie. »Ich war meistens nicht dabei, wenn er das Glas austrank.«

 

»Aber Sie wußten jedenfalls, welches der beiden Gläser Ihr Onkel nahm und welches für den Gast bestimmt war?«

 

»Ja, ich glaube schon.«

 

Plötzlich erhob sie sich von ihrem Stuhl.

 

»Was wollen Sie denn eigentlich mit all dem sagen?« fragte sie.

 

»Ich will gar nichts damit sagen, ich will nur die Wahrheit herausfinden. Seien Sie ruhig, Jimmy.«

 

Er hob die Hand, um den Protest seines Bekannten gar nicht zum Ausdruck kommen zu lassen.

 

»Sie interessieren sich ganz besonders für diesen Fall, weil Sie ein Freund von Miss Leman sind. Das verstehe ich sehr gut. Aber Sie wissen auch, Jimmy, daß ich hier meine Pflicht erfüllen muß. Daran läßt sich nichts ändern.«

 

»Aber die Vermutung, die aus Ihren Worten spricht, ist einfach entsetzlich«, erwiderte Jimmy aufgebracht. »Es ist doch vollständig ausgeschlossen, daß Sie –«

 

»Ich sagte schon vorher, daß ich keine vorgefaßten Meinungen habe«, erklärte Inspektor Blessington ruhig. »Ich stelle nur einige wichtige Fragen an Miss Leman. Sie hatten also einen Streit mit Ihrem Onkel?«

 

»Vor ein paar Tagen hatte ich eine kleine Auseinandersetzung mit ihm«, entgegnete sie und sah Sands an. »Später erzählte ich es diesem Herrn.«

 

Sands nickte bedächtig.

 

»Ja, das stimmt. Ich habe es ja bereits erwähnt und auch gesagt, wie die Verhältnisse hier im Haus lagen und wie unangenehm Ihr Onkel manchmal zu Ihnen sein konnte.«

 

»Heute abend sind Sie zum Konzert gegangen. Haben Sie vorher noch die beiden Gläser eingeschenkt?«

 

»Ja.«

 

»Sie wußten, daß Mr. Sands kommen würde?«

 

»Ja, das hat mir mein Onkel gesagt. Er erwähnte auch, daß er eine wichtige Sache mit ihm zu besprechen hätte. Als ich ihm erzählte, daß ich ins Konzert ginge, schien er sehr damit einverstanden zu sein. Ja, er sagte sogar, daß es ihm lieb sei, wenn ich das Haus recht bald verließe.«

 

»Wann begann denn das Konzert?«

 

»Um halb acht.«

 

»Und soviel ich verstehe, wollte er Mr. Sands um acht Uhr treffen. Dann haben Sie wohl um Viertel nach sieben das Haus verlassen?«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Nein. Er bat mich merkwürdigerweise, schon um halb sieben zu gehen.«

 

»Hat er Ihnen sonst noch etwas gesagt?«

 

»Ja, er gab mir den Auftrag, Schreibmaterial auf den Tisch zu legen. Dort ist es auch noch.« Sie zeigte auf einen Block Schreibpapier und einen Bleistift.

 

Blessington machte ein paar Notizen und wandte sich dann an John Sands.

 

»Sie haben mir vorhin gesagt, daß Mrs. Leman in Paris lebt. Hat sie sich nach ihrer Trauung immer dort aufgehalten?«

 

»Ja, soweit ich informiert bin.«

 

»Standen Sie mit ihr in Verbindung?«

 

John zögerte einen Augenblick.

 

»Ich brauche schließlich kein Geheimnis daraus zu machen«, meinte er dann. »Ja, ich stand mit ihr in Briefwechsel. Mr. Harry Leman heiratete diese Dame, aber gleich nach der Trauung trennten sie sich. Ich hatte von ihm den Auftrag erhalten, ihr monatlich eine gewisse Summe zu senden, und ich muß sagen, daß Mr. Leman in der Beziehung sehr großzügig war.«

 

»Haben Sie die Dame selbst gesehen?«

 

»Ja, einmal. Sie fuhr nach England und blieb kurze Zeit hier, aber merkwürdigerweise kam sie nicht mit ihrem Mann zusammen.«

 

Der Detektiv nickte.

 

»Ich möchte sie gern sprechen. Schreiben Sie der Dame, und sobald sie in London ankommt, verständigen Sie mich bitte.«

 

Er schlug sein Notizbuch zu und steckte es in die Tasche. »Soweit ich den Fall bis jetzt beurteilen kann, sieht es so aus, als ob sich Mr. Leman selbst das Leben genommen habe. Aber ich muß die Sache noch eingehender untersuchen, um bei der Totenschau genauere Angaben machen zu können.«

 

Er sah Faith freundlich an.

 

»Wo kann ich Sie erreichen, Miss Leman, wenn ich mich mit Ihnen in Verbindung setzen will?«

 

Sie schüttelte hilflos den Kopf.

 

»Das kann ich Ihnen noch nicht sagen.«

 

»Haben Sie keine Freunde in London?«

 

Sie sah Jimmy an.

 

»Ich habe keine Freundinnen, aber vielleicht kann Mr. Cassidy mir helfen. Ich glaube, ich gehe am besten in ein Hotel.«

 

»Ganz richtig«, mischte sich Jimmy sofort ein. »Kommen Sie doch zu meinem Hotel mit. Es wohnen ein paar Amerikanerinnen dort, die sich sicherlich gern Ihrer annehmen werden. Sie kennen doch das Hotel Magnificent? Blessington, unter dieser Adresse können Sie Miss Leman erreichen.«

 

»Dann wäre ja alles in Ordnung«, erklärte der Detektiv beruhigt. »Also, Jimmy, begleiten Sie die Dame zum Hotel und kommen Sie dann wieder hierher zurück. Ich werde zunächst einmal Scotland Yard telefonisch benachrichtigen. Wenn Sie zurückkommen, treffen Sie mich wieder hier an.«

 

Als Jimmy wieder erschien, fand er Inspektor Blessington allein im Haus. Mr. Sands war in heller Aufregung fortgegangen, um sich mit Paris in Verbindung zu setzen.

 

»Also, Jimmy«, begann Blessington, »das ist ja ein sonderbarer Fall.«

 

»Ja, in mancher Beziehung … Sagen Sie, haben Sie etwa die junge Dame in Verdacht?«

 

Der Inspektor lächelte.

 

»Ich habe schon viele Leute in Verdacht gehabt, die noch viel weniger mit einem Verbrechen in Verbindung zu stehen schienen. Ich weiß wohl, Jimmy, die Sache ist für Sie sehr schwer, aber ich fürchte –«

 

»Ich liebe Faith Leman«, erklärte Jimmy mit aller Bestimmtheit. »Sie bedeutet für mich alles.«

 

»Das dachte ich mir. In mancher Beziehung sieht es böse für sie aus, andererseits glaube ich nicht, daß sie etwas damit zu tun hat. Verwandte streiten sich fast jeden Tag, ohne daß sie sich gegenseitig die Kehle durchschneiden. Wenn dies aber ein Mord sein sollte, dann ist er sehr kaltblütig überlegt worden. Es wäre die Tat eines Menschen mit verbrecherischem Charakter. Und Mörder sind im allgemeinen keine Verbrecher.«

 

Jimmy lächelte.

 

»Glauben Sie das vielleicht nicht?« fragte der Detektiv.

 

»Ich mußte eben an mein großes Werk denken, bei dessen Abfassung ich vor ein paar Tagen unterbrochen wurde. Ich habe darin nahezu dieselben Worte gebraucht, die Sie eben äußerten. Nein, ich bin vollkommen mit Ihnen einverstanden, wenn Sie sagen, daß Mörder eigentlich keine Verbrecher sind. Ich gebe Ihnen auch recht, wenn sie annehmen, daß dies kein zufälliger Mord war, der im Affekt geschehen ist. Ein Mann, der in der Erregung einen anderen niederschießt, bereut seine Tat, wenn er wieder ruhiger geworden ist. Aber wie kommen Sie darauf, daß es sich hier um einen Mord handelt?«

 

Blessington sah ihn neugierig an.

 

»Aber Jimmy, sagen Sie doch selbst einmal offen, kann dies ein Selbstmord sein? Sie kennen Kriminalfälle doch ebensogut wie ich. Ich nehme an, daß Sie schon mindestens ein Dutzend in Ihrer Zeitung bearbeitet haben, und sicher an die fünfzig Selbstmorde. Ich frage Sie jetzt nach Ihrem objektiven Urteil – kann dies ein Selbstmord sein?«

 

Jimmy schwieg.

 

»Sicher ist die Sache ungewöhnlich und seltsam«, gab er schließlich zu. »Das Sonderbarste an dem Fall ist der Umstand, daß der alte Mann allein sein wollte, und zwar noch anderthalb Stunden vor Sands‘ Ankunft. Ja, warum …? Jetzt fällt es mir ein! Er wollte natürlich die Frau treffen!«

 

»Was soll das heißen?« fragte der Detektiv.

 

»Passen Sie auf«, entgegnete Jimmy schnell. »Nachdem Sands hier die Wohnung betreten und Mr. Leman schlafend gefunden hatte, gingen wir noch kurze Zeit auf die Straße. Während er telefonierte, beobachtete ich den Eingang des Hauses und sah, daß eine Dame aus der Tür kam. Sie war ziemlich elegant gekleidet und hatte eine außergewöhnlich graziöse Haltung. Ihr Gesicht konnte ich nicht sehen, da sie dicht verschleiert war. Das fiel mir gleich auf, denn hier in England tragen selbst Leute in Trauer keine dichten Schleier.«

 

»Wie lange hat sie hier draußen vor der Tür gestanden?«

 

»Sie zögerte nur kurz, dann wandte sie sich um und ging zum Berkeley Square hinunter. Nachher verlor ich sie aus den Augen.«

 

»Hat sonst noch jemand die Dame gesehen?«

 

»Nein. Sands war in einen Laden getreten, um zu telefonieren. Aber als er herauskam, sagte ich es ihm, und als Bestätigung meiner Beobachtung fanden wir, daß die Tür nur angelehnt war.«

 

»Das ist allerdings wichtig. Ich wünschte, Sie hätten mir das schon vorher gesagt. Sind Sie Ihrer Sache auch vollkommen sicher?«

 

»Ja.«

 

Blessington ging im Zimmer auf und ab. Die Hände hatte er in den Taschen vergraben.

 

»Knipsen Sie alle Lampen an. Wir wollen nachschauen, ob wir im Zimmer etwas finden können.«

 

Zunächst untersuchten sie den Fußboden, dann schoben sie Sofa und Büfett von der Wand. Aber sie fanden keinen Anhaltspunkt für den plötzlichen und geheimnisvollen Tod Harry Lemans.

 

»Dort geht es zum Schlafzimmer«, sagte der Detektiv und zeigte auf eine Tür, die hinter dem Kopfende des Sofas lag. »Ich habe zunächst einmal eine oberflächliche Untersuchung des Raumes vorgenommen, aber nichts entdecken können.«

 

»Haben Sie in den Kleidern des Toten nichts gefunden?«

 

»Nichts, was der Mühe wert gewesen wäre«, entgegnete Blessington.

 

»Hat das Papier denn nichts zu sagen?« fragte Jimmy, zeigte auf einen größeren Zettel, der halb in der Rücklehne des Sofas steckte, und zog ihn heraus. Das Papier war mit Bleistift beschrieben.

 

»Sehen Sie, das stammt von dem Schreibblock, den Miss Faith auf den Tisch legte. Wahrscheinlich hat er auf dem Block immer seine Notizen gemacht.«

 

Blessington faltete das Papier auseinander, strich es glatt und hielt es an die Lampe.

 

»Kennen Sie Lemans Handschrift?«

 

»Ja, ich habe seine Schriftzüge häufig gesehen. Er hat mir sogar die Geschichten, die von ihm handelten, kurz notiert.«

 

Jimmy sah über Blessingtons Schulter und las:

 

»Suevic: Plymouth; 30. April.«

 

Darunter stand »100«; das war ausgestrichen und »300« darübergeschrieben. Dann kamen noch einige Worte: »Eingeschriebener Brief zu Händen des Zahlmeisters.« Darunter: »Bank von Australien 24. Juni, 25. September usw.« Es folgten noch ein paar Zahlen, die ebenfalls ausgestrichen waren. Und zum Schluß war zu lesen: »C. P. 1 – 17941 – 20 – Gift.«

 

»Können Sie etwas daraus entnehmen, Jimmy? Die Sache sieht immer sonderbarer aus.«

 

Blessington nahm den Schreibblock, der auf dem Tisch lag, und trug ihn auch zum Fenster.

 

»Der Zettel ist heute geschrieben worden. Sehen Sie doch einmal die Spuren im Papier, die durch den Druck des Bleistifts entstanden sind. Das ist drüben auf dem Tisch geschrieben worden, bevor die Dame ging und Sands kam. Das ist allerdings eine sehr wichtige Entdeckung. Was sagen Sie dazu, Jimmy?«

 

»Er muß mit jemand gesprochen haben – wahrscheinlich mit der Dame, die ich beobachtete. Ich weiß, daß der alte Leman so ähnliche Notizen machte.«

 

»Könnten sich diese Angaben auch auf seine Geschäfte beziehen?«

 

Jimmy schüttelte den Kopf.

 

»Es sieht so aus, als ob er sich diese Notizen machte, um sie später zu benützen.«

 

Blessington faltete das Papier zusammen und steckte es in seine Tasche.

 

»Nun wollen wir uns einmal die Likörgläser ansehen.«

 

Er trug den kleinen Kelch wieder ans Licht und hielt ihn vorsichtig zwischen zwei Fingerspitzen am Stiel.

 

»Hoffentlich können wir ein paar Fingerabdrücke daran feststellen, aber das wird uns auch nicht viel helfen, denn es werden wahrscheinlich die Fingerabdrücke von Miss Leman sein, die die Gläser füllte. Können Sie sonst noch etwas daran entdecken?«

 

»Ja«, sagte Jimmy nachdenklich. »Jemand hat aus dem anderen Glas getrunken.«

 

»Das glaube ich auch. Jemand hat daran genippt, man kann es deutlich am oberen Rand sehen. Die Unterlippe hat sich auf dem geschliffenen Kristall markiert. Ich möchte jetzt das Verbrechen einmal rekonstruieren, so gut es geht: Der alte Mann hat einen Besuch empfangen, und dieser Besuch war ihm so wichtig, oder er hatte derartig geheime Dinge zu besprechen, daß er seine Nichte fortschickte, bevor die betreffende Person kam. Die beiden haben sich dann eine Zeitlang unterhalten, und aus Gründen, die nur der Dame bekannt sind, hat sie das Gift in das Glas Mr. Lemans gegossen und es ihm gereicht. Und daraufhin ist er gestorben.«

 

»Ihre Theorie ist ganz gut, nur in einem Punkt stimmt sie nicht. Aber wir müssen erst noch ein paar andere Fragen klären. Wie lange dauerte es, bis das Gift den Tod herbeiführte?«

 

»Ich habe den Arzt danach gefragt. Er sagte, daß vier Sekunden bei einer Vergiftung mit Blausäure genügten. Wenn die andere Annahme richtig ist, saß der Alte am Schreibtisch und schrieb. Man kann kaum annehmen, daß er während einer wichtigen Unterhaltung mit einer Dame auf dem Sofa lag.«

 

»Daher müßte man auch vermuten, daß er sofort auf den Fußboden niederstürzte, nachdem er das Gift getrunken hatte. Dem widersprechen aber die Tatsachen. Wir haben ihn nicht auf dem Boden gefunden, sondern auf dem Sofa.«

 

»Da haben Sie recht. Aber es wäre doch möglich gewesen, daß er auf dem Sofa gelegen hätte, als sie ihm das Glas reichte – und das Glas stand doch am Kopfende des Sofas.«

 

»Dann kann ich es mir nicht anders erklären, als daß der Besucher sehr gut mit Mr. Leman bekannt und vertraut war«, meinte Jimmy.

 

»Als Sie mit Miss Leman zum Hotel gingen, wußte ich noch nichts von diesem geheimnisvollen Damenbesuch. Ich stellte ein paar Nachforschungen an und gewann daraus den Eindruck, daß zwischen halb sieben und zehn Minuten nach acht niemand hier im Haus gewesen ist. Zu diesem Zeitpunkt kamen Sie doch mit John Sands hierher?«

 

Jimmy nickte.

 

»Aber Sie können doch die Anwesenheit der Dame nicht außer acht lassen.«

 

Ein anderer Beamter von Scotland Yard kam in diesem Augenblick und brachte die nötigen Akten.

 

»Ich will erst einmal die ganze Wohnung durchsuchen«, sagte der Polizeiinspektor und ging durch die fünf Zimmer, die Leman und seine Nichte bewohnt hatten. Auf der Schwelle des letzten Raumes blieb er stehen – es war das Zimmer Faiths.

 

»Ich muß auch dieses Zimmer durchsuchen«, sagte er.

 

Jimmy nickte.

 

Für ihn war es nahezu ein Verbrechen, daß ein Polizist dieses Allerheiligste durchsuchen wollte, aber er wußte, daß ein Protest keinen Zweck hatte. Blessington beendete seine Untersuchung rasch. Schließlich kam er noch zu dem kleinen Schreibtisch, in dem Faith ein paar Schmuckstücke aufbewahrte.

 

Unter einem Haufen von Taschentüchern fand er einen kleinen Kasten aus Zedernholz, in dem ein Fläschchen mit einer farblosen Flüssigkeit lag.

 

»Was ist denn das?«

 

Er nahm den Korken ab, roch daran und sah dann verstört auf.

 

»Verdammt!«

 

»Was ist denn los?« fragte Jimmy.

 

»Das kann nichts anderes als Blausäure sein – es riecht nach bitteren Mandeln.« Der Detektiv prüfte es noch einmal.

 

»Das müssen wir untersuchen lassen. Und wenn dieses Fläschchen tatsächlich Blausäure enthält, Jimmy, dann bleibt mir nichts anderes übrig, als Miss Leman heute abend noch zu verhaften.«