17

 

Ohne Widerstand zu leisten, folgte sie. Sands hatte eine so eigentümliche Art, mit ihr zu sprechen, wie sie es noch nie in ihrem Leben gehört hatte. Er war nicht mehr höflich und zuvorkommend, sondern brutal –

 

»Wenn Sie hungrig sind, finden Sie etwas Keks in dem Schrank dort drüben. Sie können ihr auch ein paar geben, wenn sie sich erholt hat.«

 

Bei diesen Worten wies er mit dem Kopf nach der Tür zum Nebenzimmer.

 

»Mr. Sands, was hat das alles zu bedeuten? Wenn es ein Scherz sein soll, dann ist er zum mindesten sehr schlecht.«

 

»Nein, ich leiste mir keine Scherze. Sie scheinen die Situation immer noch nicht zu verstehen. Was ich tue und sage, ist mein voller Ernst, und es handelt sich hier um wichtige Dinge. Ich werde Sie jetzt kurze Zeit allein lassen. Sie können sich aber die Mühe sparen, einen Ausweg von hier zu suchen. Damit würden Sie nur Ihre Zeit vertrödeln. Es gibt nur einen Weg zu diesem Haus, und zwar den, auf dem wir eben gekommen sind. Die Fenster sind sämtlich mit starken Eisengittern versehen, die Mauern, der Boden und die Decke mit schallsicheren Platten verkleidet, und hier unten« – er zeigte auf den Boden – »ist tiefes Wasser.«

 

Nachdem er das gesagt hatte, schloß er die Tür auf und ging hinaus. Sie hörte, wie sich der Schlüssel im Schloß drehte, und glaubte, daß er das Auto in die Garage bringen wollte. Damit hatte sie auch recht, denn kurz darauf hörte sie das Geräusch eines Motors, das immer leiser wurde und sich entfernte. Obwohl er sie gewarnt hatte, suchte sie alle Wände nach einem Geheimausgang ab. Die Tür war sehr stark und aus dickem Eichenholz. Faith mühte sich einige Zeit vergeblich, sie mit einem schweren Stuhl aufzustoßen, dann gab sie es auf. Ein leises Stöhnen erschreckte sie, und plötzlich dachte sie wieder an die bleiche Fremde in dem schwarzen Kleid. Als sie ins Nebenzimmer trat, lag sie mit weitgeöffneten Augen auf dem Bett und hatte die zerschundenen Hände gefaltet.

 

»Kann ich etwas für Sie tun?« fragte Faith.

 

Margaret Maliko schüttelte den Kopf.

 

»Nein, Sie können nichts für mich oder für sich tun. Wer sind Sie? Ich vermute, Miss Leman?«

 

»Ja, so heiße ich«, erwiderte Faith freundlich. »Geht es Ihnen sehr schlecht? Sind Sie krank?«

 

Die Frau lächelte schwach.

 

»Wissen Sie, wo ich jetzt sein möchte?«

 

Faith schüttelte den Kopf.

 

»In einer Zelle im Gefängnis von Aylesbury, um meine siebzehn Jahre abzusitzen.«

 

»Ich verstehe Sie nicht –«

 

»Es rächt sich jede Schuld«, entgegnete die Frau mit leiser Stimme. »Ich habe früher nicht daran geglaubt, aber ich weiß jetzt, daß es wahr ist. Drei Jahre habe ich im Gefängnis gesessen, und ich müßte auch noch dort sein, aber ich bin geflohen.«

 

Faith setzte sich auf den Rand des Bettes. Sie glaubte, daß die Frau im Delirium spräche. Margaret mußte ihre Gedanken erraten haben.

 

»Nein, ich bin nicht irre. Ich bin Margaret Maliko oder Margaret Sands.«

 

»Aber Sie sind doch Mrs. Leman?«

 

Margaret richtete sich ein wenig auf.

 

»Ich habe John Sands geheiratet, in der Hoffnung, daß es mir dann besser ginge«, entgegnete sie mit einem schwachen Lächeln. »Es war mein zweiter Mann; der erste war ein furchtbar brutaler Mensch. Ich glaubte, daß es keinen schlechteren geben könnte. Er hat mich furchtbar behandelt und mich schließlich zum Wahnsinn getrieben – in dem Zustand habe ich ihn dann vergiftet.«

 

Faith sah sie entsetzt an.

 

»Und doch war Paul Maliko ein Engel im Vergleich zu John Sands!«

 

Die Frau schien Faith vergessen zu haben; ihre Worte klangen, als ob sie mit sich selbst spräche.

 

»Ja, ich habe ihn vergiftet. Mein Vater war Chemiker, und ich studierte Pharmakologie. Eines Tages, als mich Paul wieder einmal bis zum Wahnsinn gequält hatte, gab ich ihm eine Apfelsine, die ich vorher – aber darauf kommt es nicht an. Nun ist es jedenfalls meine Strafe, daß ich einen Mann heiraten mußte, der andere Leute vergiftet – einen Mörder!«

 

Sie vergrub das Gesicht in den Händen. Nach einer Weile schaute sie müde wieder auf.

 

»Man sollte es nicht für möglich halten, daß ein Mann eine Frau auspeitschen könnte!« sagte sie und stöhnte vor Schmerzen. »Sie glauben es kaum, daß er jede Folter, die er nur ausdenken kann, an mir verübt – es handelt sich nicht um seelische Qualen, nein, um ganz brutale, gemeine Foltern. Sie können es nicht glauben, und es ist auch unerhört! Ich wollte von ihm fort, aber ich konnte ja nicht, da das Zuchthaus auf mich wartete. Schließlich faßte ich einen verzweifelten Entschluß und erzählte dem alten Mr. Harry Leman die volle Wahrheit. Er wollte mir auch helfen. In weiteren zwei oder drei Tagen wäre ich auf dem Weg nach Australien gewesen, und John Sands wäre statt meiner ins Gefängnis gekommen. Aber er hat alles herausgebracht. Er wußte, daß ich im Hause Mr. Lemans war. Ein Reporter hat es ihm gesagt. Ich mußte ihn an dem Abend in der Charles Street treffen, bevor ich zu meiner Wohnung in Hove zurückkehrte. Ach, und in der Nacht hat er mich entsetzlich gequält.«

 

Sie schauderte und bedeckte wieder die Augen mit den Händen, als ob sie die Erinnerung nicht ertragen könne.

 

»Ich dachte, daß ich sterben müßte. Dann schloß er mich in einen Schrank ein, nachdem er mir vorher Hände und Füße gebunden und mich geknebelt hatte. Ich hatte furchtbare Schmerzen und glaubte nicht, daß ich es länger aushalten würde. Und doch lebe ich noch!«

 

Sie rieb leise die Hände, dann riß sie sich zusammen und fand ihre Fassung wieder.

 

»Ich weiß nicht, was er mit Ihnen vorhat, aber er kommt zurück. Ich weiß es bestimmt, ich kann es körperlich fühlen, wenn er herkommt. Es ist, als ob eine kalte Hand an mein Herz griffe. Versprechen Sie mir eins, Miss Leman: Wenn Ihnen Ihr Leben lieb ist, trinken und essen Sie nichts in diesem Haus. Schwören Sie es mir!«

 

Faith versprach es.

 

Margaret dämpfte nun ihre Stimme und sprach eindringlicher.

 

»Es wäre möglich, daß wir fliehen können. Vielleicht auch nicht. Ich weiß, was mir bevorsteht. Ich komme sofort ins Gefängnis, und doch wäre das eine Erlösung. Ach, wie gern würde ich jetzt in Aylesbury sein!«

 

Gleich darauf hörten sie, daß die Tür des großen Raumes aufgeschlossen wurde.

 

John Sands kam herein.

 

»Hallo«, sagte er in seiner alten, freundlichen Weise, »Sie scheinen sich ja schon recht gut miteinander angefreundet zu haben. Du weißt doch, daß es Miss Leman ist?« wandte er sich an seine Frau.

 

Dann lachte er, bückte sich, hob sie von dem Bett auf und trug sie wieder in den großen, mit orientalischer Pracht ausgestatteten Raum.

 

»Ich will, daß du hier sitzt und alles hörst, was ich sage. Mit der Zeit erfährst du mehr und mehr und kannst ruhig alles wissen – Sie haben ja wohl erfahren, daß das nicht Mrs. Leman ist«, sagte er zu Faith, »sondern meine Frau. Sie ist allerdings nicht gerade sehr repräsentabel, sondern im Gegenteil eine der verkommensten und gemeinsten Frauen, die jemals ein Mann geheiratet hat. Aber was kann man schließlich von einer Frau erwarten, die nur um Haaresbreite dem Galgen entging?«

 

Er warf einen befriedigten Blick auf Margaret.

 

»Wenn du dir deine Niederträchtigkeit abgewöhnst und mich nicht verrätst, wird es dir schon besser gehen. Dann brauche ich dich nicht immer zu fesseln und werde dir auch sonst keine Unannehmlichkeiten bereiten.«

 

Faith sah, daß sich die Blicke der beiden auf die gegenüberliegende Wand richteten, wo eine kurze Peitsche hing.

 

»Ich glaube, Sie sind entsetzt über all das, was Sie hier erfahren, Miss Leman. Das kann ich mir lebhaft vorstellen. Sie sind unter der Obhut Ihrer liebenden Mutter in guten Verhältnissen aufgewachsen, und was sonst noch alles in schönen Geschichten steht, aber Sie brauchen sich nicht aufzuregen.«

 

Er lehnte sich auf dem Diwan zurück, auf dem er Platz genommen hatte, zog ein großes, prächtiges Kissen zu sich heran, stopfte es in den Rücken und zündete sich dann eine Zigarette an.

 

»Sie brauchen sich durchaus nicht aufzuregen«, wiederholte er. »Vor allem muß ich Ihnen wohl die eine fundamentale Wahrheit nicht einhämmern, daß ein Mann unter allen Umständen leben will. Das menschliche Leben dauert ja nur eine kurze Spanne Zeit, und je mehr Glück und Befriedigung man sich in dieser kurzen Frist verschaffen kann, desto erfolgreicher ist man gewesen. Schon von meiner frühen Jugend an war mein Bestreben immer darauf gerichtet, mir möglichst wenig Unannehmlichkeiten und Sorgen zu machen. Ganz systematisch habe ich mir Mitleid und andere Untugenden abgewöhnt. Alle Sorgen um andere Leute belästigen einen im Grunde nur.«

 

Anscheinend war dies sein Lieblingsthema, und so schrecklich seine Worte auch klangen, er meinte sie vollkommen ernst. Es war fast, als ob er auf dem Katheder stünde und einen Vortrag über die Zweckmäßigkeit des menschlichen Lebens hielte!

 

»Egoismus ist kein Fehler, sondern eine Tugend. Erst darin zeigt sich eigentlich die reine Lebenskunst. Jeder Mensch ist Krankheiten unterworfen und hat Hindernisse zu überwinden – warum soll er sich dann auch noch mit den Sorgen anderer Leute abquälen? Das Elend seiner Freunde zu mildern, erscheint mir als eine große Dummheit, die den einfachsten Lebensgrundsätzen widerspricht.«

 

Er sagte das mit großem Bedauern, als ob ihm die Schwächen der Menschheit leid täten.

 

»In den wenigen Minuten, die Sie sich mit meiner Frau unterhalten haben«, er zeigte auf Margaret, die wieder bleich und ruhig in ihrem Stuhl saß, »müssen Sie den Eindruck erhalten haben, daß ich grausam bin, nur weil mir Grausamkeit Vergnügen bereitet. Aber nichts liegt mir ferner. Ich kann mich sogar rühmen, niemals einen Menschen oder ein Tier verletzt zu haben, es sei denn, daß ich es tun mußte, um mir einen Vorteil zu verschaffen. Man geht doch auch nicht einfach zu einem Pferd und schlägt es zwecklos mit der Peitsche; das tut höchstens ein brutaler Mensch, der Freude daran hat, Tiere zu quälen. Aber wenn man keine Zeit hat und den Zug noch erreichen muß, gibt man dem Pferd vor dem Wagen die Peitsche, damit es schneller geht. Ist das etwa Grausamkeit? Nein, durchaus nicht – das ist eiserne Notwendigkeit.«

 

»Ich finde Ihre Philosophie abscheulich«, sagte Faith ruhig.

 

»Aber Sie vergessen vollkommen, daß sie für mich notwendig ist. Ich habe meiner Frau Schmerzen verursacht, aber nur dadurch habe ich mich vor Schaden bewahren können.«

 

Er lächelte Margaret an, die seinem Blick gelassen begegnete.

 

»Ich mußte sie zum Beispiel bestrafen, weil sie mir über ein gewisses Dokument keine Auskunft geben wollte, das sie am Berkeley Square in den Briefkasten warf. Ich mußte sie mir fast vierundzwanzig Stunden lang scharf vornehmen, bis ich endlich die Wahrheit herausbekam. Aber dann zeigte sich, daß diese Mitteilung für mich von äußerster Wichtigkeit war.«

 

Er machte eine Pause, als ob er eine Antwort von Faith erwartete, aber sie schwieg.

 

»Nehmen wir zum Beispiel Ihren eigenen Fall, Miss Leman. Durch die Dummheit und den Verrat meiner Frau sind Sie die Erbin Mr. Harry Lemans geworden. Es stimmt, daß er Ihnen sein ganzes Vermögen vermacht hat, und zwar wurde das Testament auf Anraten meiner Frau aufgesetzt.«

 

»So war es nicht. Der alte Mann hatte selbst die Absicht, es zu tun«, sagte Margaret leise.

 

»Wenn du nicht gewesen wärst und ihm die verrückten Ideen in den Kopf gesetzt hättest, wäre das alles nicht geschehen«, entgegnete er. »Aber darauf kommt es jetzt nicht an. Das Testament wurde jedenfalls gemacht. Und welche Bedeutung hat es für mich?«

 

Er hob die Hand und zählte die einzelnen Tatsachen an den Fingern ab.

 

»Erstens wurden meine sorgfältigen Vorbereitungen und die Arbeit vieler Jahre in wenigen Minuten wertlos. Zweitens habe ich mein für mich sehr kostbares Leben dadurch aufs Spiel gesetzt, daß ich Harry Leman umbringen mußte. Ich verlor dadurch die Belohnung, für die ich soviel gewagt hatte, ferner die bedeutenden Summen, die ich bereits auf die Durchführung dieses Plans verwandt hatte. Und schließlich würde das meinen vollkommenen Ruin verursacht haben, denn wenn ich zum einundzwanzigsten Juni nicht meine große Zahlung leisten kann, bin ich bankrott.«

 

»Wozu erzählen Sie mir das alles? Was erwarten Sie von mir?« fragte Faith. »Wollen Sie ein Lösegeld für mich haben? Oder glauben Sie; daß Sie mich zur Aufgabe meiner Erbschaft zwingen können?«

 

Sands schüttelte den Kopf.

 

»Es hätte keinen Zweck, denn eine Schenkung unter Zwang hat keinen gesetzlichen Wert. Nein, es handelt sich hier um andere Dinge: Im Fall Ihres Todes fällt die Erbschaft an meine Frau. Niemand nimmt an, daß ich sie unter Lemans Namen geheiratet habe. Außer Ihnen, ihr und mir weiß ja keiner um diese Tatsache. Und was sie anbetrifft, brauche ich mir weiter keine Sorgen zu machen.«

 

Es lag etwas Unheimliches in seinen Worten, und sie zitterte.

 

»Wenn ich Sie – erledigt habe«, fuhr er in aller Seelenruhe fort, »wird meine Frau alle die Schritte tun, die ich ihr vorschreibe, um die Erbschaft des alten Leman anzutreten, und ich zweifle nicht daran, daß es gelingen wird, uns den größeren Teil seines Vermögens anzueignen. Voraussetzung dazu ist natürlich immer, daß Sie sterben.«

 

»Daß ich sterbe«, wiederholte Faith.

 

»Ja, Sie haben mich vollkommen richtig verstanden.«

 

Er erhob sich, ging zu dem kleinen Schrank, der an der Wand hing, und öffnete ihn. Faith sah zwei Reihen glänzender Flaschen, und ihr Herz hörte fast auf zu schlagen.

 

»Als Giftmörder«, sagte John Sands und wandte sich nach ihr um, »bin ich der reinste Laie, aber ich habe mich mit Begeisterung diesem Fach zugewandt. Früher wäre es mir niemals eingefallen, das Leben eines Menschen auf diese Weise zu beenden, aber ich hatte ja das große Glück, Margaret kennenzulernen. Nachher erfuhr ich, daß sie nicht nur im Zuchthaus gesessen hatte, sondern auch, daß sie wegen Giftmordes verurteilt worden war. Sie hat gute medizinische Kenntnisse, die ich mir zunutze machte. In früherer Zeit habe ich mich viel und häufig mit Margaret unterhalten und dadurch manches gelernt. Ihr kam natürlich die Tatsache nicht zum Bewußtsein, daß ich all diese Kenntnisse nur für die Zukunft sammelte. Wenn ich irren sollte, Margaret, dann stelle bitte meine Angaben sofort richtig«, sagte er höflich.

 

Er nahm die Giftflaschen der Reihe nach aus dem Schrank und behandelte sie sehr vorsichtig. Die eine oder andere streichelte er sogar; und es schien ihn Überwindung zu kosten, daß er sie zögernd wieder in den Schrank stellte.

 

Nachdem er noch einen bewundernden Blick auf den Inhalt geworfen hatte, schloß er den Schrank wieder zu.

 

»Ich zeige Ihnen das nur, weil ich nicht die Absicht habe –«

 

Er hielt plötzlich inne, denn aus der Ecke des Zimmers kam das Geräusch einer elektrischen Klingel. Mit einigen großen Schritten eilte er zur Tür und ging hinaus.