37

 

Während sie unten berieten, stieg Fing-Su zu seiner Kabine hinauf. Auf seinen Befehl brachte man einen bedauernswerten Menschen aus einem dunklen Loch, in dem er gesessen hatte. Stephen Narth war nur noch ein Wrack in seinem etwas ruinierten Frackanzug. Er hatte keinen Kragen mehr, sein Gesicht war schmutzig und unrasiert. Auch seine nächsten Freunde würden ihn so kaum erkannt haben. Die letzte grauenvolle Nacht hatte ihre Spuren hinterlassen. Er war wieder bei Verstand, aber der Chinese sah, daß er dicht vor dem Zusammenbruch stand.

 

»Warum haben Sie mich auf dieses Schiff gebracht?« fragte er mit hohler Stimme. »Das ist kein faires Spiel, Fing-Su! Wo ist dieses Schwein von Spedwell?«

 

Fing-Su hätte darauf viel antworten können.

 

Spedwell war entwischt, aber sein eigenes Interesse ließ ihn ja schweigen. Er hatte Spedwell mit seinem hochmütigen Lächeln immer gehaßt, der sich in seinem anmaßenden Ton immer als Herr aufspielte. Er hatte ihn viel mehr gehaßt als den Trinker Leggat. Spedwell war für ihn ein brauchbarer Lehrer, er hatte sich wichtige, grundlegende Kenntnisse durch ihn aneignen können. Fing-Su hatte eine leichte Auffassungsgabe, war von Natur reich begabt und konnte schnell lernen. Obgleich er während seiner Universitätsstudien nicht mit militärischen Dingen in Berührung gekommen war, hatte er doch von Spedwell in dem einen Jahr ihrer Bekanntschaft eine Menge profitiert.

 

»Ich habe nicht die leiseste Ahnung, wo er ist«, sagte er. »Und ich werde ihm den Tod Leggats niemals verzeihen.«

 

Narth starrte ihn an.

 

»Dann war es also sein Plan?«

 

»Vollkommen«, sagte Fing-Su mit Nachdruck. Er war ein aalglatter Lügner, der seine Behauptungen jedoch immer glaubwürdig vortragen konnte. Und Narth war in einer solchen geistigen Verfassung, daß er geneigt war, irgendeine Version der gestrigen Vorgänge zu glauben, die seine eigene Schuld verringerte.

 

Mit ein paar Sätzen tischte ihm Fing-Su eine Darstellung der gestrigen Aufnahmefeier auf, die den Mann mit dem schwachen Gewissen besänftigte. Dann erzählte ihm der Chinese die wichtigen Neuigkeiten.

 

»Hier? An Bord? Joan?« keuchte Narth. »Aber wie kam sie denn hierher, und was macht Lynne an Bord dieses Schiffes?«

 

»Das möchte ich ja gerade wissen«, sagte Fing-Su schnell. »Gehen Sie hinunter und sprechen Sie mit ihm. Zeigen Sie ihm, daß es vollständig sinnlos ist, Widerstand zu leisten. Versprechen Sie ihm mein Wort, daß ihnen nichts geschehen soll, daß sie an Bord gut verpflegt werden und alle Bequemlichkeiten haben, bis ich sie in Bordeaux an Land setze. Sie müssen sich natürlich verpflichten, mir keine weiteren Schwierigkeiten zu machen.«

 

Er erklärte ihm noch länger die einzelnen Punkte seines Auftrages, und fünf Minuten später konnte Clifford Lynne von seinem Beobachtungsposten aus eine zusammengesunkene Gestalt sehen, die zur Kabine kam. Dann erkannte er ihn. Jetzt war ihm klar, wer mit Joan an Bord gekommen war. Aber was mochte aus Leggat geworden sein?

 

Schweigend hörte er Stephens Vorschlag an. Dann schüttelte er den Kopf.

 

»Ich würde eher mit einem lebendigen Haifisch einen Vertrag machen«, sagte er. »Gehen Sie zu Fing-Su zurück und sagen Sie ihm, daß es ihm nicht gelingen wird, uns zu ertränken oder auszuhungern, und daß er an dem Tage, wo wir an Land gehen und ich frei werde, gefangengesetzt wird, um seine Verurteilung wegen Mordes zu erwarten.«

 

»Es hat doch keinen Zweck, mit ihm zu streiten!« jammerte Narth in weinerlichem Tone.

 

Seine Nerven ließen ihn im Stich. Er war ja niemals ein starker Mann gewesen, aber jetzt war er nur noch ein Schatten des Stephen Narth, den Clifford zuerst kennengelernt hatte.

 

»Ist Leggat an Bord?« fragte Clifford.

 

Narth schüttelte den gebeugten Kopf und flüsterte etwas, das nur sein scharfes Ohr vernehmen konnte.

 

»Tot?« sagte er ungläubig. »Hat Fing-Su ihn ums Leben gebracht?«

 

Aber bevor er die Frage ausgesprochen hatte, lief Stephen Narth wie ein Wahnsinniger aus der Kabine.

 

Ihre Lage war gefährlich. Die Küste entschwand den Blicken mehr und mehr, und wenn nicht ein Wunder geschah, gab es keine andere Möglichkeit als Hungertod oder Übergabe. Und was Übergabe für Joan Bray bedeutete, konnte Clifford Lynne sich vorstellen. Unmittelbar nachdem sich Narth entfernt hatte, wurde die Tür der Kabine von außen abgeschlossen und zugeriegelt. Auf Inspektor Willings Rat ließen sie die schweren eisernen Blendfenster, die die Luken bedeckten, herunter und schraubten sie fest. Nun war es allerdings nicht mehr möglich, das Vorderdeck zu überschauen, auch die frische Luft war abgesperrt. Aber es ließ sich in der Kabine aushalten, zumal die gelbe Amah sie nicht mehr störte.

 

Clifford konnte sich nicht genug über die Ruhe und Gelassenheit Joans in diesen Augenblicken höchster Gefahr wundern. Wie es schien, war sie die Zuversichtlichste von allen, und obgleich sie der Hunger schon zu quälen begann, hörte man keine Klage von ihr.

 

Die Aussicht, noch länger in diesem engen Raum ausharren zu müssen, war entsetzlich. Glücklicherweise hatten sie keinen Mangel an Trinkwasser, denn der Inhalt des Waschtisch-Reservoirs war zwar ein wenig abgestanden, aber man konnte davon trinken. Clifford versuchte die Tür des inneren kleinen Raumes aufzudrücken, aber sie gab nicht nach.

 

»Wahrscheinlich führt sie zu den Offizierskabinen«, sagte Willing.

 

Joe Bray schaute in Gedanken auf die Tür.

 

»Wir können nicht heraus, aber sie können herein«, sagte er. »Besser wäre es, wenn wir sie verbarrikadierten. Oder sie werden uns in den Rücken fallen, Cliff. Wenn ich an das arme Mädchen denke –« Er schluckte.

 

»Welches arme Mädchen?«

 

Clifford hatte Mabels Existenz im Augenblick ganz vergessen.

 

Sie überließen Joan das kleine Schlafzimmer und setzten sich um den Tisch in der großen Kabine. Sie hatten alles durchsucht, ob sich nicht irgendwo Proviant vorfinden möchte, aber sie hatten nicht einmal einen Schiffszwieback gefunden, obgleich Inspektor Willing vermutete, daß eine große, schwarze Truhe im Schlafzimmer Joans eiserne Rationen für den Notfall enthielte. Aber sie konnten den Kasten weder öffnen noch fortbewegen.

 

Schließlich entdeckte Joe in seiner Rocktasche eine Tafel Schokolade, die Hälfte davon gab er Joan.

 

»Gewöhnlich habe ich ein Dutzend Tafeln bei mir, weil ich gern Süßigkeiten esse. Was ich im Augenblick haben möchte, das wäre ein gekochtes Huhn mit Knödeln –«

 

»Um alles in der Welt, seien Sie ruhig«, knurrte Willing.

 

Sie versuchten es mit Unterhaltungsspielen, um die Zeit totzuschlagen, aber dieser Versuch, sich über die Gefahr hinwegzutäuschen, war ein böser Fehlschlag.

 

Es wurde sechs Uhr – es wurde sieben Uhr. Joan war eingeschlafen, als Clifford nach ihr sah. Er hatte die Tür zum Schlafzimmer geschlossen, damit die Unterhaltung der Männer sie nicht stören sollte. Plötzlich öffnete sich die Verbindungstür, und das Mädchen erschien mit schreckensbleichem Gesicht in der Öffnung.

 

»Was gibt es?« fragte Clifford und sprang zu ihr hin.

 

»Es klopft jemand an der Tür«, sagte sie ganz leise. Sie zeigte auf die hintere Türe in der Wand. Lynne hielt sich in der Nähe und lauschte.

 

Tap, tap, tap!

 

Wieder hörte man das leise Pochen. Dann vernahm er, wie ein Riegel zurückgeschoben wurde. Sprungbereit wartete er, die Pistole in der Hand.

 

»Seien Sie unbesorgt«, flüsterte eine Stimme. »Machen Sie keinen Lärm, sonst hört man Sie.«

 

Die Tür öffnete sich zuerst einen Zoll breit und dann langsam etwas weiter. Das Gesicht eines Schwarzen wurde sichtbar. Er trug die verschossene Mütze eines Schiffsoffiziers.

 

»Ich bin Haki, der Zahlmeister«, flüsterte er. Seine Hand reichte einen schmalen Canvassack herein. »Wenn Fing-Su davon erfährt, ist es mit mir zu Ende«, fügte er schnell hinzu. Unmittelbar darauf schloß sich die Türe wieder und der Riegel wurde vorgeschoben.

 

In diesem kurzen Augenblick sah Clifford, daß die Vermutung des Detektivs stimmte. Er hatte einen schmutzigen Korridor wahrgenommen, in dem Kabinentüren sichtbar waren. Auch hatte er einen Raum gesehen, der nach dem Gang zu offen stand. Er trug nun den Sack in die große Kabine und schüttete den Inhalt auf den Tisch. Ein Dutzend Brötchen, ziemlich frisch, ein großes Stück Käse und ein Stück Salzfleisch fielen auf die Platte. Clifford schöpfte Verdacht, brach ein Brötchen durch und hielt es dicht ans Licht.

 

»Wir müssen es riskieren«, sagte er. »Ich will zuerst davon essen, und wenn mir in einer halben Stunde nichts passiert ist, dann werden wir eine Mahlzeit halten, die besser schmecken soll wie ein Diner bei Ritz!«

 

Er schnitt eine Scheibe Fleisch ab, versuchte den Käse und das Brot. Er fühlte eine brutale Genugtuung, als er die hungrigen Blicke seiner Begleiter auf sich gerichtet sah. Die halbe Stunde ging vorüber, dann holte er Joan aus ihrer Kabine, und mit ihren Taschenmessern machten sie eine Mahlzeit für sie zurecht.

 

»Das eine steht jedenfalls fest – wir haben einen Freund an Bord. Welche Nationalität hatte der Mann wohl?« fragte Willing.

 

Clifford hatte in seiner Jugend zwei Jahre an der afrikanischen Küste zugebracht.

 

»Er ist ein Kru-Neger«, sagte er. »Sie sind keine schlechten Menschen, aber notorische Diebe.«

 

Sie hoben eine Portion des Essens für den nächsten Morgen auf, und auf Cliffords ernste Vorstellungen hin legte sich Joan wieder nieder und fiel in einen unruhigen Schlaf. Sie hörte das heimliche Klopfen an der Hintertüre nicht. Aber Clifford, der sich in die Nähe ihrer halbgeschlossenen Kabinentür gesetzt hatte, hörte das Zeichen. Leise ging er zur Tür und öffnete sie, ohne Joe zu wecken.

 

»Alle an Deck sind betrunken«, sagte der schwarze Offizier in einem selbstverständlichen Ton, als ob er den Normalzustand an Bord schildere. »Der Kapitän fürchtet, daß man diese Tür entdeckt. Es ist möglich, daß sie später versuchen, einen Angriff auf Sie zu machen – Sie müssen sich jedenfalls darauf vorbereiten. Wenn sie nicht kommen sollten, dann will ich um vier Uhr hier sein, und Sie müssen sich dann fertiggemacht haben, das Schiff zu verlassen.«

 

»Warum?« fragte Clifford.

 

Der Mann sah den Gang entlang, bevor er antwortete. »Gewehrfeuer ist nicht so schlimm, aber wenn man fürchten muß, ermordet zu werden, so ist das schrecklich. Der Kapitän denkt ebenso wie ich.«

 

»Wer ist denn ermordet worden?«

 

Der Mann sprach nicht sogleich. Hastig schloß er die Tür und kam erst nach einer halben Stunde wieder.

 

»Ich hörte, wie der wachthabende Offizier herunterkam«, sagte er im selben Plauderton. »Die Chinesen tun das oft – verlassen die Brücke mitten im Kanal, das ist doch empörend! Es ist hohe Zeit, daß wir diesen Kahn verlassen. Der verrückte Mensch ist umgebracht worden. Er kam gestern abend mit der jungen Dame an Bord.«

 

»Narth?« flüsterte Clifford todeserschrocken.

 

Der Mann nickte.

 

»Sicher. Er hatte Streit mit Fing-Su und der Chinese schlug ihm mit einer Flasche den Schädel ein. Sie warfen ihn über Bord – gerade nachdem ich Ihnen das Essen gebracht hatte.«

 

Er sah sich wieder um, dann machte er Cliff eine sehr wichtige Mitteilung.

 

»Der Kapitän und zwei Mann der Besatzung werden ein Rettungsboot aussetzen – etwa um vier Uhr«, flüsterte er. »Sie müssen an einem Tau in das Boot hinunterklettern. Wird die junge Dame das auch können?«

 

»Ja, das wird sie«, sagte Clifford, und die Tür schloß sich.

 

Er konnte sich vorstellen, was vorging. Bisher hatte Fing-Su, seitdem ihn die Träume von Kaiserherrschaft verrückt gemacht hatten, immer die Unterstützung erfahrener Ratgeber. Leggat war klug auf seine Weise, und Spedwell war in Sachen, die sein besonderes Fach angingen, unübertrefflich. Beide waren vorsichtige Leute, vor deren Urteil der chinesische Millionär Respekt hakte. Aber jetzt hatte Fing-Su keinen anderen Herrn mehr als seine eigene Laune. Sein Urteil wurde nur noch von seiner verwirrten Phantasie geleitet.

 

Die Wartezeit dehnte sich ins Endlose. Sie saßen im Kreis in der kleinen Kabine und wagten nicht zu sprechen aus Furcht, das Signal zu überhören oder von dem Angriff überrascht zu werden, den der Zahlmeister vorausgesagt hatte. Die Zeiger der Uhr schienen so langsam vorwärts zu gehen, daß Cliff ein- oder zweimal dachte, seine Uhr wäre stehengeblieben.

 

Drei Uhr war vorbei, der Klang der Schiffsglocke kam schwach durch die geschlossenen Luken. Dann hörte man ein Klopfen an der Tür und sie drehte sich in ihren Angeln. Der Zahlmeister erschien wieder in der Türöffnung. Er trug schwere Wasserstiefel und hatte einen Revolvergürtel umgeschnallt. Er wartete und winkte ihnen, zu kommen. Clifford folgte und nahm Joan bei der Hand, Joe Bray und Willing bildeten die Nachhut. Joe hielt in jeder Hand eine Pistole und war wütend wie ein angeschossener Eber.

 

Sie mußten an der erleuchteten Küche vorbei, und ihr Führer legte den Finger an die Lippen. Joan konnte den breiten Rücken des chinesischen Koches sehen, der sich über einen dampfenden Kochtopf bückte. Aber sie kamen sicher vorbei zu dem hinteren Wellendeck.

 

Zwei eiserne Türen in der Schiffsseite waren geöffnet. Über den Rand des Decks spannte sich ein straffes Tau. Als Clifford hinuntersah, bemerkte er, daß das Seil an einem großen, gedeckten Boot befestigt war, in dem drei vermummte Männer saßen. Er wandte sich an Joan und flüsterte ihr ins Ohr:

 

»Laß dich an diesem Tau langsam hinunter.«

 

Der Zahlmeister legte eine dünne Leine um die Taille der jungen Dame, band sie fest und sagte mit leiser Stimme:

 

»Verlieren Sie keine Zeit … ich hatte ein Radiotelegramm in der Nacht.« Er erklärte nicht weiter, was dies mit der Flucht zu tun hatte.

 

Während die beiden oben die Sicherheitsleine hielten, glitt Joan langsam an dem rauhen Tau hinab, das ihr die Finger wundscheuerte.

 

Das Boot an der Schiffsseite schien mit einer unglaublichen Geschwindigkeit zu rasen, obgleich es sich nicht schneller vorwärtsbewegte als der Dampfer. Einer der Männer reichte nach oben, faßte sie ohne viel Federlesens um die Taille und zog sie in das Boot. Joe Bray folgte und zeigte eine jugendliche Beweglichkeit, als er sich Hand über Hand in die Dunkelheit hinabließ. Der Zahlmeister war der letzte, der das Schiff verließ und mit größter Eile über den Bug des Bootes kletterte.

 

»Macht klar!« sagte eine grobe Stimme.

 

Der Zahlmeister suchte auf dem Boden des Bootes, fand eine Axt und kappte das Tau mit einem Hieb. Gleich darauf wurden sie in dem Kielwasser des Schiffes hin- und hergeworfen und von einer Seite auf die andere geworfen. Es fehlte nicht viel, daß das Boot umschlug, denn die eisernen Wände der »Umveli« streiften die Rudergabeln. Als das Boot vom Schiff abgekommen war, hörten sie einen Schrei. Ein Scheinwerfer leuchtete von der Brücke auf. Trotz des gurgelnden Wassers und des Geräusches der Schiffsschraube hörten sie deutlich einen Pfiff – die »Umveli« beschrieb einen großen Kreis.

 

»Sie haben uns bemerkt«, stieß Clifford zwischen den Zähnen hervor.

 

Der Zahlmeister grinste vor Furcht, starrte auf das wendende Schiff und brummte. Er wandte sich um, rannte zur Mitte des Bootes und half einem der schwarzen Matrosen, den Mast aufzurichten. Der Kapitän, eine groteske Gestalt in goldverbrämter Mütze und den bunten Rangabzeichen, zog verzweifelt das Segel hoch. Ein frischer Nordwestwind blies scharf. Im nächsten Augenblick legte sich das Boot auf die Seite und lag in voller Fahrt vor dem Winde. Aber wie konnten sie hoffen, einem Dampfer zu entrinnen, der fünfzehn Knoten die Stunde machte?

 

Die Sirenen des Schiffes heulten. Sie schauten zu dem Dampfer hinüber, der sie nun verfolgte. Von der Kommandobrücke leuchtete das Aufblitzen einer Signallampe, und der Kapitän erklärte laut die Bedeutung der Zeichen.

 

»Gelber Nigger!« das war alles, trotzdem der Kapitän der dunkelste Mann war, den Clifford jemals gesehen halte.

 

Das Boot lavierte. Der Kapitän hatte scheinbar sehr guten Mut, mehr als alle anderen. Clifford ließ sich an der Seite Joans nieder, die in eine wasserdichte Decke eingehüllt auf dem Boden des Bootes lag.

 

»Keine Angst haben, Liebling«, sagte er.

 

Sie sah ihn mit einem wehmütigen Lächeln an, und diese Antwort genügte ihm.

 

Der Kapitän sprach ein rauhes Küstenenglisch, das drastisch und bilderreich war.

 

»Elefant nicht fangen Fliege«, sagte er. »Große Schiff es nicht fangen kleine Boot! Wenn Chines Kutter auf Wasser bringen, Kutter es nicht fangen Segelboot!«

 

»Trotzdem ist die Gefahr groß genug, Kapitän!«

 

Der Neger mit dem breiten Gesicht mußte es zugeben.

 

»Jetzt sie bringen den Tak-tak-Gewehr«, sagte er, »aber bald sehen anderen Schiff.«

 

Mit dieser Hoffnung mußten sie sich trösten. Noch waren sie im englischen Kanal, der Hauptwasserstraße Nordeuropas. Hier ist der Schiffsverkehr außergewöhnlich stark. Aber im Augenblick konnte man keine Rauchfahne oder irgendein Segel entdecken.

 

Clifford wandte sich an den Zahlmeister.

 

»Ob wir durchkommen oder nicht, in jedem Fall sind wir Ihnen zu großem Dank verpachtet, mein Freund.« Hakis Gesicht strahlte.

 

»Wir hätten früher von Bord gehen müssen, aber der Kapitän wollte noch nicht«, sagte er. »Schließlich hat er sich aber nach dem Radiotelegramm doch entschlossen!«

 

»Radiotelegramm?«

 

Der Zahlmeister zog einen schmutzigen Streifen Papier aus seiner Tasche hervor.

 

»Das habe ich letzte Nacht erhalten«, sagte er. Clifford hatte Mühe, die gekritzelten Worte zu entziffern.

 

Verlassen Sie das Schiff vor vier Uhr. Alle mitnehmen, die leben bleiben sollen. Wenn Miß Bray an Bord, mitnehmen. Admiralität sendet Zerstörer »Sunbright«, Sie einzuholen.                          Soldat.

 

»Das ist der Major«, erklärte der Zahlmeister. »Wir nannten ihn Soldat. Aber es wäre ja möglich gewesen, daß die ›Sunbright‹ uns nicht bekommen hätte – aber wenn sie uns eingeholt hätte, dann wäre keiner am Leben geblieben, der Fing-Su hätte belasten können.«

 

Clifford war verwundert, was der Kapitän mit dem Tak-tak-Gewehr meinte, aber leider kam die Aufklärung nur zu schnell.

 

Tak-tak-tak-tak-tak-tak!

 

Sie hatten ein Maschinengewehr auf der oberen Reling in Stellung gebracht. Die Geschosse ließen das Wasser hoch aufspritzen. Die Schüsse lagen in einiger Entfernung vor dem Boot. Der Kapitän wandte mit starkem Ruck das Steuer und nahm einen anderen Kurs. Sie waren etwas weniger als fünfhundert Meter von dem Dampfer entfernt. Clifford begriff, daß es eine verhältnismäßig leichte Sache sei, das Boot mit Schüssen zu durchlöchern, wenn es erst einmal heller war. Fing-Su würde sie nicht entkommen lassen, da ja sein Leben davon abhing.

 

Tak-tak-tak-tak-tak-tak!

 

Diesmal lagen die Schüsse hoch, die Geschosse fegten durch die Canvassegel. Ein großer Holzsplitter flog vom Mast.

 

»Hinlegen!« rief der Zahlmeister mit schriller Stimme und gestikulierte wie wahnsinnig.

 

Schon das drittemal sah er nach seiner silbernen Uhr.

 

Die »Umveli« hatte wieder volle Fahrt aufgenommen. Als sie in die Höhe des Bootes kam, drehte sie auf dasselbe zu. Wieder änderte der Kapitän den Kurs und schwenkte in einem großen Bogen direkt in entgegengesetzte Richtung ein. Einzelne Schützen feuerten von Bord – die Treffer lagen unheimlich nahe. In das Klick-klack der aufschlagenden Gewehrkugeln mischte sich nun auch das Dröhnen einer schweren Waffe.

 

»Ein Siebenpfünder«, sagte Joe kurz. Er hatte noch nicht zu Ende gesprochen, als etwas gegen den Mast schlug.

 

Ein Krachen und Splittern! Der Mast mit dem Segel sank auf die Seite.

 

»Jetzt ist es zu Ende mit uns«, sagte der Zahlmeister. Er nahm mit großer Kaltblütigkeit seinen Revolver aus der Ledertasche und entsicherte.

 

Sie konnten sehen, wie von der »Umveli« Boote heruntergelassen wurden. Es waren drei, sie kamen nacheinander auf das Wasser. Die »Umveli« selbst fuhr nur noch ganz langsam, die Maschinen waren auf rückwärts gestellt. Aber der Kapitän ließ sich durch nichts aus der Fassung bringen. Mit Hilfe eines seiner Matrosen kappte er Mast und Segel und warf sie über Bord. Im Nu waren die Ruder in die Gabeln gelegt.

 

»Alle Mann an die Ruder!« rief er mit lauter Stimme.

 

Clifford folgte sofort der Aufforderung.

 

Aber das Boot war groß und viel weniger handlich als die leichten Kutter, die sie verfolgten.

 

»Es muß ein Wunder geschehen, um uns zu retten!« sagte Clifford – und das Wunder geschah.

 

Zwei Boote stießen bereits von dem Dampfer ab, das dritte füllte sich gerade mit Matrosen, als von dem unteren Deck eine hell aufleuchtende Stichflamme emporschlug und ein ohrenbetäubender, krachender Knall ertönte. Gleich darauf folgte eine zweite noch heftigere Explosion.

 

Sekundenlange Stille trat ein, dann hörte man wirre Kommandorufe und die schrillen Pfeifen der Offiziere. Die beiden Boote, die bereits abgestoßen hatten, kehrten um. Dichter schwarzer Rauch strömte über die Decks. Der Schornstein und der größte Teil des Schiffes wurden im lichten Morgen unsichtbar.

 

»Was mag an Bord explodiert sein?« fragte der Zahlmeister heiser. Aber der Kapitän rief:

 

»Rudert alle Mann!«

 

In scharfem Takt hoben und senkten sich die Ruder.

 

»Das Schiff sinkt«, rief Joe entsetzt. Und er sprach die Wahrheit.

 

Ein halber Zentner Dynamit hatte nicht nur ein unheimlich großes Loch durch die Decks geschlagen, sondern auch die großen Munitionsvorräte in Brand gesteckt, die der Dampfer als Fracht führte. Major Spedwell hakte das Uhrwerk des Zeitzünders so gestellt, daß die Sprengladung sechsundzwanzig Stunden nach Abfahrt des Schiffes explodieren mußte. Die »Umveli« hing stark nach der einen Seite über. Es sah aus, als ob sie todmüde umsinken wollte. Dichte Rauchmassen qualmten aus den Luken. Flammen züngelten aus dem Schiffsrumpf. Plötzlich ein wildes Durcheinanderrennen von Menschen nach den Booten.

 

In ihrer Verwirrung hatten die Geretteten zu rudern aufgehört und stützten sich auf die Riemen. Ihre Augen starrten auf das grausige Schauspiel.

 

Da rief der Zahlmeister warnend: »Wir tun besser, soweit wie möglich von dem Schiff fortzukommen!«

 

Kurze Zeit nachher hörte man noch eine dritte Explosion. Die »Umveli« brach in sich zusammen. Ihr zackig zerrissener Rumpf versank in einem wildaufschäumenden, ungeheuren Wasserwirbel.

 

Nur vier Boote waren auf der Wasserfläche noch zu sehen. Sie nahmen den Kurs auf sie.

 

»Rudern!« schrie der Kapitän. Wieder griffen sie in die Riemen.

 

Aber ihre Anstrengungen führten zum Erfolg. Als Clifford Lynne sich umsah, erblickte er steuerbords eine schwarze Rauchfahne am Horizont und konnte im Morgengrauen ein langes, graues Schiff erkennen.

 

Sie erreichten S.M. Zerstörer »Sunbright« fünfundzwanzig Minuten, ehe die Reste der Schiffsmannschaft an dem Fallreep anlegten. Sie waren vor Furcht und Entsetzen halb wahnsinnig, warfen ihre Gewehre ins Wasser und ergaben sich auf Gnade und Ungnade.

 

Fing-Su war nicht unter ihnen, und als Clifford einen der zitternden Offiziere fragte, erfuhr er das Geschick des Kaisers in einigen wenigen kurzen Worten.

 

»Fing-Su … ich sah seinen Kopf … und seinen Körper … hier ein Stück und dort ein Stück …«