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Er war ein Mann, der Wort hielt, und gab in seiner Pension Anweisung, daß man ihn keinesfalls stören solle. In bester Laune und mit der Gewißheit, daß ihn nicht einmal ein wahnsinniger Redakteur aufwecken konnte, legte er sich ins Bett und schlief schon halb, als er sich die Decke über die Ohren zog.

 

Peter wachte erst auf, als es an der Tür klopfte. Ein Mädchen brachte ihm Tee und eine Abendzeitung. Er erfuhr, daß Mr. Clarke im Laufe des Nachmittags mehrmals angerufen hatte. Kurz darauf ließ er sich mit Scotland Yard verbinden.

 

»Es entgeht Ihnen eine gute Geschichte, wenn Sie nicht bald hier auftauchen«, sagte Clarke.

 

»Was ist denn geschehen?«

 

»Kommen Sie zu mir – ich kann es Ihnen am Telefon nicht sagen.«

 

Peter zog sich langsam an und machte sich dann auf den Weg. Ein feiner Nebel lag über den Straßen.

 

Er fand Oberinspektor Clarke allein.

 

»Bitte machen Sie die Tür zu«, sagte er grollend. »Ich habe den ganzen Nachmittag versucht, Sie zu erreichen. Sie verdienen es eigentlich nicht, einen Freund bei Scotland Yard zu haben.«

 

»Ich mußte dringend schlafen und war für niemand zu sprechen«, erklärte Peter.

 

»Ich habe einige Neuigkeiten, die Sie interessieren werden. Woraus glauben Sie wohl, war die Kugel, mit der Crewe erschossen wurde?«

 

»Sie war aus Gold«, entgegnete Peter gelassen. Clarke starrte ihn überrascht an.

 

»Hat Ihnen das Sweeney erzählt?«

 

»Nein, ich vermutete es nur. Also paßte auch die Hülse nicht, die Sie im Garten fanden?«

 

Clarke schüttelte den Kopf.

 

»Nein. Aber nun seien Sie mal ehrlich, Dewin, haben Sie tatsächlich nicht mit Sweeney gesprochen?«

 

»Sie können ihn ja fragen! Und jetzt, was ist Ihre zweite Sensation?«

 

»Ella Creed ist verschwunden. Die Direktion des Theaters scheint sehr beunruhigt, obwohl ich persönlich glaube, daß es sich nur um einen Reklametrick handelt.«

 

Peter lächelte.

 

»Es besteht auch weiter kein Grund zur Aufregung ich kann mir gut denken, wo sie ist. Wenn mir jemand eine Generalstabskarte von Essex zeigen würde, hätte ich bald Gewißheit.«

 

Er betrachtete in aller Ruhe Clarkes ungläubiges Gesicht.

 

»Nun – Ihre dritte Sensation?«

 

»Es gibt keine dritte Sensation«, knurrte der Beamte. »Rücken Sie lieber endlich mit Ihren Geheimnissen heraus!«

 

»Ich glaube nicht, daß ich ohne die Erlaubnis von Mr. Beale weiterreden darf …«

 

»Den können Sie augenblicklich nicht erreichen«, entgegnete Clarke. »Er ist heute nachmittag verreist, ich brachte ihn selbst zum Bahnhof.«

 

»Reiste er allein, oder war sein Butler bei ihm?«

 

»Der Butler war dabei.«

 

Peter nickte.

 

»Dachte ich mir – er steht seit vielen Jahren in seinen Diensten. Ich glaube, daß er der treueste Angestellte war, den Beale seinerzeit in England zurückließ. Wohin fuhr Mr. Beale eigentlich?«

 

»Er hat ein Haus in Devonshire«, erwiderte Clarke ungeduldig. »Ich habe seine Adresse, wenn Sie sich mit ihm in Verbindung setzen wollen.«

 

Peter schüttelte den Kopf.

 

»Möchte ich durchaus nicht. Dagegen wäre es mir sehr lieb, wenn Sie mich zu seinem Londoner Haus begleiten würden. Ich möchte Ihnen einige sehr sonderbare Exemplare der gefiederten Schlange zeigen. Es wird sich für Sie lohnen!«

 

Sweeney kam gerade, als sie aufbrachen, und die drei fuhren zusammen zu Beales Haus. Alle waren außerordentlich einsilbig; selbst Dewin war ganz gegen seine sonstige Gewohnheit sehr still.

 

»Am wenigsten kann ich verstehen«, brach Sweeney das Schweigen, »daß man keinen Schuß gehört hat. Selbst eine mit Schalldämpfer versehene Pistole verursacht einen ziemlichen Knall.«

 

Peter mischte sich ein.

 

»Crewe ist auch durchaus nicht mit einer normalen Pistole oder einem Revolver erschossen worden – man hat ihn mit einer Deloraine getötet.«

 

»Was, zum Kuckuck, ist eine Deloraine?« fragte Clarke verblüfft.

 

»Warum diese Waffe so heißt, weiß ich selbst nicht. Hergestellt wurde sie in Belgien – es ist eine überschwere Luftpistole, die kurze Zeit lang sogar im Weltkrieg bei Patrouillengängen verwendet wurde. Man kam aber bald wieder davon ab, weil die Durchschlagskraft bei größerer Entfernung sehr schnell nachläßt. Immerhin dürfen Sie sich darunter nicht etwa eine Luftpistole vorstellen, wie man sie Kindern in die Hand gibt! Es handelt sich um einen ziemlich komplizierten Mechanismus, der einem Geschoß genügend Durchschlagskraft verleiht, um eine drei Zentimeter starke Holzplanke zu durchlöchern – und aus unmittelbarer Nähe kann man damit ohne weiteres einen Menschen erschießen.«

 

»Aber der tödliche Schuß auf Crewe wurde doch von draußen abgefeuert!« protestierte Sweeney. »Der beste Beweis ist schließlich das Loch in der Fensterscheibe …«

 

»Eine goldene Kugel ist weich«, sagte Peter höflich. »Sie würde sich sofort deformieren, wenn sie auf einen Widerstand stößt. Und das Loch in der Glasscheibe war so glatt, daß es nur von einem modernen Stahlmantelgeschoß herrühren kann – die Ränder waren wie ausgefräst! Selbst das vollkommenste splittersichere Patentglas würde dem Aufschlag eines goldenen Geschosses nicht standhalten, das auf kurze Entfernung abgefeuert wird, sich beim Auftreffen plattdrückt und dabei entweder die ganze Scheibe zertrümmert oder zumindest ein ganz unregelmäßiges Loch verursacht. Nun möchte ich vor allem aber die Tür noch einmal genauer untersuchen«, beendete der Reporter seine Ausführungen und stieg aus dem Wagen, der jetzt vor Beales Haus hielt.

 

»Welche Tür?« fragte Clarke, der sich nicht darauf besinnen konnte, wofür sich Dewin in der vergangenen Nacht so interessiert hatte.

 

»Ach, er meint bestimmt das angemalte Ding im Schuppen«, sagte Sweeney belustigt. »Was wollen Sie denn da entdecken?«

 

»Das Stahlmantelgeschoß, das das Fenster durchschlug«, antwortete Peter kühl. »Ich nehme an, daß es in der Tür steckt. Gestern nacht konnte ich es allerdings leider nicht finden.«

 

Dewin ging durch den Garten zu dem kleinen Schuppen. Sweeney leuchtete ihm mit einer Taschenlampe, und der Reporter untersuchte noch einmal Zentimeter für Zentimeter die Oberfläche der Tür.

 

»Hier ist es!« rief er plötzlich. Die Spitze seines Taschenmessers war auf einen harten Gegenstand gestoßen.

 

»Vielleicht ein Nagel«, meinte Clarke.

 

Dewin antwortete nicht; er schnitzte einige Zeit lang herum und hielt dann auf einmal ein blitzendes Stahlmantelgeschoß in der Hand.

 

»Es paßt zu der Patronenhülse«, sagte Sweeney, der das Geschoß genau betrachtete.

 

»Nun, Dewin«, sagte Clarke, als sie wieder in Mr. Beales Arbeitszimmer waren, »wir wollen gern etwas Konkretes von Ihnen hören. Wer gab den Schuß ab, der Crewe tötete?«

 

Peter Dewin atmete tief.

 

»Der einzige Mann, der nahe genug war, um ihn mit einer Luftpistole erschießen zu können war – Gregory Beale!«

 

Ein langes Schweigen folgte diesen Worten.

 

»Meinen Sie im Ernst, daß Crewe von Mr. Beale ermordet wurde?« fragte Sweeney ungläubig. »Das ist doch eine etwas starke Behauptung – was für einen Grund sollte er dazu gehabt haben?«

 

»Ich kenne seine Gründe nicht genau, ich weiß nur, daß er die Tat begangen hat. Und wenn Sie jetzt die Polizei in Devonshire benachrichtigen, um Gregory Beale festnehmen zu lassen, so werden Sie damit keinen Erfolg haben. Er ist längst im Ausland, und in einer Beziehung bin ich beinahe traurig darüber – er ist der erste vollkommene Verbrecher, dem ich in meinem Leben begegnet bin!«